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Insolvenztourismus


Definition und rechtlicher Rahmen des Insolvenztourismus

Begriffserklärung

Insolvenztourismus bezeichnet das gezielte Verlegen des Lebensmittelpunkts oder des gewöhnlichen Aufenthalts einer überschuldeten Person oder eines Unternehmens in einen anderen Staat, um dort von einem günstigeren Insolvenzrecht zu profitieren. Hierbei werden insbesondere Regelungen zum Insolvenzverfahren, zur Restschuldbefreiung oder zur Verfahrensdauer ausgenutzt. Insolvenztourismus ist im europäischen Kontext insbesondere relevant, da die nationalen Insolvenzrechte innerhalb der Europäischen Union (EU) teilweise erhebliche Unterschiede aufweisen.

Historische Entwicklung und Bedeutung

Der Begriff „Insolvenztourismus“ prägte sich im Zuge der Rechtsharmonisierung innerhalb der EU, vor allem nach Inkrafttreten der Europäischen Insolvenzverordnung (EuInsVO). Früher galt in vielen Ländern das Territorialitätsprinzip, nach dem Insolvenzverfahren grundsätzlich nur im Heimatland des Schuldners durchgeführt wurden. Durch die europäische Öffnung, die Anerkennung und Vollstreckung grenzüberschreitender Insolvenzverfahren, wurde es für Schuldner möglich, ihren Lebensmittelpunkt in einen Mitgliedstaat mit günstigeren Regelungen zu verlegen.

Rechtliche Grundlagen des Insolvenztourismus

Europäische Insolvenzverordnung (EuInsVO)

Die EuInsVO (Verordnung (EU) 2015/848) bildet die zentrale Rechtsgrundlage für grenzüberschreitende Insolvenzverfahren innerhalb der EU (mit Ausnahme von Dänemark). Die Verordnung regelt die internationale Zuständigkeit, die Anerkennung und die Wirkungen von Insolvenzverfahren.

Voraussetzungen der internationalen Zuständigkeit

Nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO sind für die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens grundsätzlich die Gerichte des Mitgliedstaates zuständig, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen („Center of Main Interests“ – COMI) hat. Für natürliche Personen ist dies in der Regel der gewöhnliche Aufenthalt, bei juristischen Personen der Satzungssitz oder der tatsächliche Verwaltungssitz des Unternehmens.

Verlagerung des Lebensmittelpunkts („COMI-Shifting“)

Zentraler Bestandteil des Insolvenztourismus ist das sog. COMI-Shifting. Schuldner können, indem sie ihren COMI rechtzeitig und tatsächlich in einen anderen Mitgliedstaat verlagern, die Zuständigkeit ausländischer Gerichte begründen. Die EuInsVO sieht jedoch in Erwägungsgrund 30 vor, dass Gerichtes besonders prüfen müssen, ob der COMI nicht lediglich zum Zwecke der Nutzung günstigerer Insolvenzregeln kurzfristig verlegt wurde.

Nationale Regelungen und Unterschiede im Insolvenzrecht

Die Unterschiede zwischen den nationalen Insolvenzordnungen machen den Insolvenztourismus attraktiv. So betrug beispielsweise die Restschuldbefreiung in Deutschland bis zum 1. Oktober 2020 grundsätzlich sechs Jahre, während sie in Großbritannien bereits nach einem Jahr möglich war (bis zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU).

Formen und Ablauf des Insolvenztourismus

Natürliche Personen

Überschuldete Privatpersonen können ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einen Mitgliedstaat mit günstigeren Insolvenzbedingungen verlegen. Klassische Ziele waren vor allem Großbritannien und Irland, wo die Restschuldbefreiung vergleichsweise rasch und unkompliziert möglich war. Voraussetzung ist, dass der Lebensmittelpunkt wirklich und dauerhaft dorthin verlegt wird, was durch Arbeitsaufnahme, Wohnsitznahme und soziale Integration belegt werden muss.

Unternehmer und Unternehmen

Unternehmen können den Verwaltungssitz („Head office function“) in einen anderen Mitgliedstaat verlegen. Maßgeblich für die Zuständigkeit ist hierbei, wo die wesentlichen geschäftlichen Entscheidungen getroffen werden.

Missbrauchskontrolle und Rechtsfolgen

Gerichte prüfen zunehmend genauer, ob es sich beim COMI-Wechsel um einen missbräuchlichen Rechtsmissbrauch handelt. Ein bloß formaler Wohnsitzwechsel ohne tatsächliche Verlagerung der persönlichen oder wirtschaftlichen Interessen genügt nicht. Im Falle des Missbrauchs kann das beantragte Insolvenzverfahren abgewiesen oder dessen Wirkung versagt werden (siehe EuGH, C-327/13 – Burgo Group).

Rechtliche Herausforderungen und Kritik

Missbrauchsgefahr und Umgehungsschutz

Das gezielte Ausnutzen nationaler Sonderregelungen widerspricht aus Sicht vieler Rechtssysteme dem Gedanken der Integrität des Insolvenzrechts und dem Gläubigerschutz. Um Missbrauch zu verhindern, verlangt die EuInsVO, dass Gerichte die Verlagerung des COMI umfassend prüfen. Mehrere EU-Staaten haben strengere Beweisvorgaben bzw. Fristen für die Anerkennung von Wohnsitzwechseln eingeführt.

Gegenmaßnahmen und Entwicklungen

Der Gesetzgeber in Deutschland und anderen EU-Ländern hat verschiedene Maßnahmen zur Bekämpfung des Insolvenztourismus ergriffen, darunter eine Verkürzung der Restschuldbefreiungsdauer und eine Verschärfung der Beweispflichten für die tatsächliche Verlagerung des COMI. Auch auf europäischer Ebene wird regelmäßig diskutiert, die Harmonisierung der Insolvenzrechte voranzutreiben, um den Anreiz für Insolvenztourismus zu verringern.

Praktische Bedeutung und aktuelle Entwicklungen

Die Möglichkeit, durch Verlagerung des Lebensmittelpunkts günstigere Insolvenzbedingungen zu erlangen, bleibt trotz Gegenmaßnahmen relevant, insbesondere in Staaten mit signifikant abweichender Verfahrensdauer oder Entschuldungsschwelle. Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU („Brexit“) sind jedoch klassische Zielländer des Insolvenztourismus weggefallen. Gleichzeitig beobachten Gerichte und Behörden den Insolvenzstandortwechsel kritisch und handeln bei Missbrauch konsequenter.

Zusammenfassung

Insolvenztourismus ist ein Phänomen, bei dem Schuldner durch einen Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts oder des Verwaltungssitzes in einen anderen Staat gezielt von dessen günstigeren Insolvenzrecht profitieren möchten. Trotz europaweiter Harmonisierung bleibt die Problematik durch die anhaltenden Unterschiede in den jeweiligen Insolvenzordnungen bestehen. Die zentrale rechtliche Grundlage bildet die EuInsVO, die bestimmte Voraussetzungen und Missbrauchsschutzmechanismen vorsieht. Gerichte prüfen beim Vorliegen eines grenzüberschreitenden Insolvenzverfahrens die tatsächliche und dauerhafte Verlagerung des COMI und greifen bei missbräuchlicher Nutzung zu restriktiven Maßnahmen.


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