Begriff und Definition der Glaubens- und Gewissensfreiheit
Die Glaubens- und Gewissensfreiheit bezeichnet das durch zahlreiche Menschenrechtsdokumente und nationale Verfassungen anerkannte Grundrecht des Individuums, seinen Glauben, seine Religion sowie seine Weltanschauung ungehindert zu wählen, zu bekennen, zu wechseln und entsprechend zu handeln. Gleichzeitig umfasst sie das Recht, Überzeugungen, die nicht auf religiösem Fundament beruhen, wie etwa eine atheistische oder agnostische Weltanschauung sowie moralische oder ethische Überzeugungen, zu haben und zu äußern. Ebenso schützt dieses Grundrecht das individuelle Gewissen, also die innere moralische Überzeugung, nach der der Einzelne sein Handeln ausrichtet.
Verfassungsrechtliche Verankerung
Deutschland
In Deutschland ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit durch Artikel 4 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) garantiert. Diese Bestimmung schützt die Freiheit des Glaubens, des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sowie die ungestörte Religionsausübung. Der Schutzbereich ist sehr weit gefasst und gilt umfassend für natürliche Personen. Artikel 4 Absatz 3 GG gewährleistet zudem die Gewissensfreiheit, insbesondere das Recht, aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern.
Wortlaut
Artikel 4 GG:
- Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
- Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
- Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.
Internationale Rechtsquellen
- Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), Artikel 18: Formuliert 1948 das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit als universelles Menschenrecht.
- Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR), Artikel 18: Gilt direkt in vielen Staaten und verpflichtet die Vertragsstaaten, dieses Recht zu achten.
- Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), Artikel 9: Stellt das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit unter Schutz mit wichtigen Ausnahmen zum Schutz der demokratischen Gesellschaft.
Schutzumfang und Inhalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit
Schutzbereich
Die Glaubens- und Gewissensfreiheit schützt umfassend:
- Überzeugungsbildung: Schutz der inneren Entscheidungsfreiheit, religiöse oder weltanschauliche Einstellungen frei zu wählen oder zu ändern.
- Bekenntnisfreiheit: Das Offenbaren und Bekenntnis des individuellen Glaubens, der Religion oder Weltanschauung.
- Religionsausübungsfreiheit: Das Recht, Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft auszuüben. Dazu gehören Gottesdienste, Rituale, religiöse Erziehung und das Tragen religiöser Symbole.
- Negative Religionsfreiheit: Das Recht, keinen Glauben, keine Religion oder Weltanschauung zu haben, keinem religiösen Ritus beizuwohnen oder keinen Zwängen zur Religionsausübung ausgesetzt zu werden.
- Gewissensschutz: Die Freiheit, nach eigenen sittlichen oder ethischen Prinzipien zu handeln und aus Gewissensgründen Handlungen zu verweigern (z.B. Kriegsdienstverweigerung).
Persönlicher Anwendungsbereich
Die Grundrechte auf Glaubens- und Gewissensfreiheit stehen natürlichen Personen zu, unabhängig vom Alter, von Nationalität oder Aufenthaltsstatus. Auch juristische Personen können sich auf diese Rechte berufen, soweit sie ihrem Wesen nach anwendbar sind (z.B. Religionsgemeinschaften).
Sachlicher Anwendungsbereich
Der Schutz umfasst nicht nur religiöse, sondern auch weltanschauliche Überzeugungen (Atheismus, Humanismus, Agnostizismus), sofern sie eine mit Religion vergleichbare Tiefe und Gesamtsicht auf die Welt bieten.
Einschränkungen und Schranken der Glaubens- und Gewissensfreiheit
Verfassungsrechtliche Schranken
Nach Artikel 4 GG ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit – anders als viele andere Grundrechte – schrankenlos garantiert. Einschränkungen sind nur aufgrund der verfassungsimmanenten Schranken möglich, d.h. der Schutz kollidierender Grundrechte Dritter oder bedeutender Verfassungsgüter (wie z.B. öffentliche Sicherheit oder Schutz der Rechte und Freiheiten anderer).
Schranken nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
Artikel 9 EMRK erlaubt Einschränkungen nur, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind. Diese Schranken unterliegen einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung.
Typische Konflikte
- Schulpflicht versus Religionsfreiheit: Z.B. Tragen religiöser Kleidung im Schulunterricht.
- Betriebliche Regelungen: Die Tragung religiöser Symbole am Arbeitsplatz.
- Staatlicher Eingriff in Religionsgemeinschaften: Kontrolle oder Anerkennung von Religionsgemeinschaften, Kirchenaustritt etc.
- Kriegsdienstverweigerung: Gewissensbedingte Ablehnung des Militärdienstes.
Rechtsprechung zur Glaubens- und Gewissensfreiheit
Bundesverfassungsgericht (Deutschland)
Das Bundesverfassungsgericht betont, dass die Glaubensfreiheit als unbedingter Kernbereich der Person liegt und nur in Ausnahmefällen eingeschränkt werden darf. Die Rechtsprechung verlangt eine konkrete, nachvollziehbare Darlegung der betroffenen Überzeugung und setzt eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit etwaiger Einschränkungen voraus.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
Der EGMR interpretiert das Recht weit, schützt aber nicht jede beliebige Handlung, sondern verlangt einen ernsthaften (d.h. mit Nachdruck vertretenen) Glauben. Er achtet auch besonders auf das Recht, von Zwang oder Indoktrination in Glaubensfragen verschont zu bleiben.
Glaubens- und Gewissensfreiheit im Arbeits-, Schul- und Sozialrecht
Arbeitsrecht
Arbeitnehmer können im Rahmen der Glaubensfreiheit verlangen, religiöse Handlungen oder Symbole zu tragen, soweit dies nicht betriebliche Interessen oder Rechte Dritter schwerwiegend beeinträchtigt. Arbeitgeber dürfen religiöse Bekundungen nur beschränken, wenn legitime und schwerwiegende betriebliche Interessen vorliegen.
Schulrecht
Schüler haben das Recht, aus Gewissens- oder Glaubensgründen bestimmte Unterrichtsinhalte zu verweigern (z.B. Sexualkunde, Sport, Schwimmen), müssen dies jedoch mit hinreichender Begründung tun. Schulen müssen zwischen pädagogischen Zielen und dem Schutz der individuellen Freiheit sorgfältig abwägen.
Sozialrecht
Im Sozialleistungsbereich kann die Glaubensfreiheit etwa dann tangiert werden, wenn die Annahme bestimmter Beschäftigungen aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen verweigert wird (z.B. Schweinefleischverarbeitung bei religiösen Speisevorschriften). Hier findet eine Einzelfallabwägung statt.
Schutz der religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften
Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften genießen in Deutschland den Schutz des Artikels 140 GG i.V.m. den Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung. Sie haben das Recht, ihre Angelegenheiten selbst zu ordnen und zu verwalten sowie Gottesdienste und religiöse Betätigungen ungehindert auszuüben.
Grenzen der Glaubens- und Gewissensfreiheit
Die Freiheit ist nicht absolut. Wenn Überzeugungen mit dem Strafrecht oder mit den Grundrechten Dritter kollidieren, etwa bei Aufruf zu Gewalt, Volksverhetzung oder Diskriminierung, kann der Staat eingreifen, um Gemeinwohl und Grundrechte anderer zu schützen.
Bedeutung im internationalen Vergleich
In vielen Staaten gehört die Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu den fundamentalen Menschenrechten, wird jedoch unterschiedlich gewährleistet und durch staatliche Gesetze eingeschränkt, z.B. durch Registrierungspflichten für Religionsgemeinschaften oder durch anti-blasphemische Vorschriften.
Fazit
Die Glaubens- und Gewissensfreiheit bildet eine zentrale Grundlage für die pluralistische, offene und demokratische Gesellschaftsordnung und schützt das Recht jedes Individuums, weltanschauliche und religiöse Überzeugungen frei zu entwickeln, zu äußern und danach zu handeln. Zugleich erfordert ihr umfassender Schutz eine sorgfältige Abwägung gegenüber anderen Grundrechten und gesellschaftlichen Interessen.
Dieser Lexikonartikel beschreibt die Glaubens- und Gewissensfreiheit in ihrer vollen rechtlichen Tiefe. Er beleuchtet umfassend die verfassungsrechtlichen, internationalrechtlichen und inhaltlichen Dimensionen und schafft dadurch ein sorgfältig recherchiertes Nachschlagewerk für alle wesentlichen Rechtsfragen zu diesem Grundrecht.
Häufig gestellte Fragen
Welche Rechte und Pflichten sind aus der Glaubens- und Gewissensfreiheit im deutschen Recht abgeleitet?
Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist in Deutschland primär durch Artikel 4 des Grundgesetzes (GG) garantiert. Daraus leitet sich ein umfassender Schutz des Einzelnen ab, seine religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sowohl privat als auch öffentlich zu bekunden, zu verbreiten, zu praktizieren sowie gemeinschaftlich mit anderen auszuüben. Dies umfasst ausdrücklich auch das Recht, an keinen Glauben gebunden zu sein oder den Glauben zu wechseln, sowie die Freiheit, religiöse oder weltanschauliche Handlungen zu verweigern (negative Glaubensfreiheit). Aus dieser Freiheit ergeben sich jedoch keine schrankenlosen Rechte: Die Ausübung der Glaubensfreiheit kann gemäß Artikel 136 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung in Verbindung mit Artikel 140 GG durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden, wenn dies zum Schutz anderer Grundrechte, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder zum Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung erforderlich ist. Zugleich dürfen keine Personengruppen allein wegen ihrer religiösen Überzeugung benachteiligt oder bevorzugt werden. Zu den Pflichten zählt insbesondere, dass die Inanspruchnahme der Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht zur Diskriminierung Dritter oder zur Begehung von Straftaten führen darf. Die Betreuungspflichten für Kinder und Jugendliche im Rahmen religiöser Erziehung finden ihre Grenze, sobald das Kindeswohl gefährdet ist.
Wie wird die Glaubens- und Gewissensfreiheit im Verhältnis zu anderen Grundrechten abgegrenzt?
Die Glaubens- und Gewissensfreiheit steht gleichrangig neben anderen Grundrechten, wie dem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG), der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) oder der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Konflikte zwischen der Glaubens- und Gewissensfreiheit und diesen Rechten werden durch praktische Konkordanz gelöst. Dies bedeutet, dass die widerstreitenden Grundrechte so abgewogen werden müssen, dass sie jeweils möglichst weitgehend zur Geltung kommen. So können religiöse Vorschriften etwa beim Schutz von Minderjährigen, der schulischen Neutralitätspflicht oder bei der öffentlichen Sicherheit in ihrer Ausübung rechtlich begrenzt werden. Die Rechtsprechung achtet aber stets darauf, dass Einschränkungen nur auf Basis eines Gesetzes erfolgen und verhältnismäßig sind.
Welche Bedeutung hat die Glaubens- und Gewissensfreiheit im Arbeitsrecht?
Im Arbeitsverhältnis schützt die Glaubens- und Gewissensfreiheit sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber. Arbeitnehmer können grundsätzlich nicht gezwungen werden, gegen ihr Gewissen oder ihren Glauben zu handeln, beispielsweise an bestimmten religiösen Feiertagen zu arbeiten oder religiöse Zeichen abzulegen. Allerdings kann die Religionsfreiheit im betrieblichen Kontext beschränkt werden, etwa wenn berechtigte Interessen des Arbeitgebers entgegenstehen (z. B. Neutralitätspflicht in öffentlichen Einrichtungen oder Gefährdung der Betriebsabläufe). Arbeitgeber mit religiöser Ausrichtung, wie Kirchen und deren Wohlfahrtsverbände, genießen zudem nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV ein Selbstbestimmungsrecht bezüglich ihrer inneren Angelegenheiten. Dies kann etwa Auswirkungen auf Einstellungen und Kündigungen von Personal haben und unterliegt im Einzelfall einer Abwägung zwischen unternehmerischer Religionsfreiheit und Diskriminierungsverbot.
Inwiefern schützt die Glaubens- und Gewissensfreiheit auch religiöse Vereinigungen?
Die Glaubens- und Gewissensfreiheit gilt nicht nur für Einzelpersonen, sondern auch für religiöse Vereinigungen, die ihre Religion gemeinschaftlich ausüben. Diese Kollektivfreiheit ist im deutschen Recht anerkannt und schützt interne religiöse Angelegenheiten, Liturgien, Satzungen und das Selbstorganisationsrecht der jeweiligen Gemeinschaften. Religiöse Vereinigungen können im Rahmen der geltenden Gesetze ihren religiösen Bekenntnisweg bestimmen, Religionsunterricht anbieten, Rituale abhalten und über ihre Mitgliedschaft eigenständig entscheiden. Dennoch sind auch sie dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt unterworfen und müssen, etwa im Jugendschutz oder im Arbeitsrecht, staatliche Regelungen beachten.
Welche Einschränkungen der Glaubens- und Gewissensfreiheit sind im Schulbereich relevant?
Im Schulbereich steht die Glaubens- und Gewissensfreiheit unter besonderer Berücksichtigung des Erziehungsauftrages des Staates (Art. 7 GG) und der Rechte der Eltern (Art. 6 GG). Schüler und Eltern haben das Recht auf religiöse Erziehung und können etwa vom Religionsunterricht abgemeldet werden. Zugleich kann das schulische Neutralitätsgebot Einschränkungen rechtfertigen-z.B. das Tragen auffälliger religiöser Symbole durch Lehrkräfte oder das Abhalten religionsbezogener Rituale im Unterricht. Die Teilnahme an schulischen Veranstaltungen, die im Widerspruch zu religiösen Überzeugungen stehen, kann aus Gewissensgründen verweigert werden, allerdings nur, sofern dies nicht die Bildungsziele des Staates gefährdet.
Wie ist die Gewissensfreiheit bei der Wehrpflicht und im Zivildienst geregelt?
Nach Artikel 4 Abs. 3 Grundgesetz darf niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Wer aus Gewissensgründen den Wehrdienst ablehnt, erhält das Recht auf Wehrdienstverweigerung. Stattdessen kann derjenige zu einem Ersatzdienst (z.B. Zivildienst) herangezogen werden. Das Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer wurde durch zahlreiche Urteile des Bundesverfassungsgerichts konkretisiert und garantiert einen individuellen Gewissensschutz ohne ideologische Bindung-maßgeblich ist allein die ernsthafte und persönliche Überzeugung. Seit der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 ist die praktische Bedeutung dieser Regelung allerdings stark zurückgegangen.
Wie werden Konfliktfälle im Bereich der Glaubens- und Gewissensfreiheit gerichtlich überprüft?
Gerichtliche Prüfungen von Eingriffen in die Glaubens- und Gewissensfreiheit erfolgen zunächst durch eine Prüfung, ob überhaupt ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegt. Falls ja, wird untersucht, ob der Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage beruht und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Abschließend findet eine Verhältnismäßigkeitsprüfung statt, bei der festgestellt wird, ob der Eingriff geeignet, erforderlich und angemessen ist, das angestrebte Ziel zu erreichen. Dabei spielen das Übermaßverbot sowie die Pflicht zur Abwägung der betroffenen Grundrechte eine zentrale Rolle. Die Rechtsprechung, namentlich des Bundesverfassungsgerichts, hat hierzu zahlreiche Leitentscheidungen getroffen, die als Richtschnur für Verwaltung und Gerichte dienen.