Begriff und Bedeutung von Gewalt im Strafrecht
Gewalt ist im Strafrecht ein zentraler Begriff, der in verschiedenen Delikten und strafrechtlichen Vorschriften unmittelbar relevant ist. Neben der klassischen Anwendung körperlicher Kraft erfasst das Gewaltverständnis nach der Rechtsprechung auch psychische Einwirkungen unter bestimmten Voraussetzungen. Die rechtsdogmatische Definition, die dogmatische Einordnung sowie die Abgrenzung zu benachbarten Begriffsbestimmungen, wie der Drohung oder dem Zwang, bilden die Grundlage für zahlreiche Strafvorschriften, insbesondere im Bereich der Straftaten gegen die persönliche Freiheit sowie des Eigentums und Vermögens.
Historische Entwicklung und Systematik des Gewaltbegriffs
Die Auslegung des Gewaltbegriffs entwickelte sich historisch von einem engen, rein physischen Verständnis zu einem umfassenderen Begriffsinhalt, der auch psychische und strukturelle Einflussnahmen umfasst. Maßgeblich geprägt wurde die heutige Sicht durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG).
Rechtsquellen und Regelungszusammenhänge
Strafgesetzbuch (StGB)
Im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland begegnet der Gewaltbegriff unter anderem in den folgenden zentralen Vorschriften:
- § 240 StGB (Nötigung): „Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt…“
- § 253 StGB (Erpressung)
- §§ 249, 250 StGB (Raub, schwerer Raub)
- § 255 StGB (räuberische Erpressung)
- §§ 177 ff. StGB (Sexualdelikte)
Bedeutung im Verfahrensrecht
Auch im Strafprozessrecht, insbesondere in Bezug auf Zwangsmittel und deren Anwendung, spielt der Gewaltbegriff eine Rolle (z. B. bei unmittelbarem Zwang, §§ 104 ff. StPO).
Gewalt als Tathandlung: Definition und Abgrenzung
Klassischer Gewaltbegriff
Im strafrechtlichen Kontext bezeichnet Gewalt grundsätzlich jede unmittelbare oder mittelbare Einwirkung auf einen anderen Menschen, die geeignet ist, den Einsatz von Körperkraft zu erfordern oder tatsächlich körperlich zu beeinträchtigen oder zu überwinden.
Unmittelbare Gewalt
Dabei umfasst „unmittelbare Gewalt“ jede direkte, körperliche Einwirkung, etwa in Form von Schlägen, Würgen, Fesseln oder Festhalten.
Mittelbare Gewalt
Mittelbare Gewalt liegt vor, wenn der Täter nicht selbst, sondern durch Beherrschung eines Tatmittlers oder eines Gegenstands auf den Körper des Opfers einwirkt, beispielsweise durch das Einsetzen von Hunden, Einleiten von Reizgas oder Manipulation von Maschinen.
Erweiterter Gewaltbegriff („vergeistigte Gewalt“)
Nach der Rechtsprechung wird unter Gewalt auch die „vergeistigte“ Gewalt verstanden. Hierunter fallen Handlungen, bei denen kein unmittelbarer körperlicher Zwang, sondern eine bedrohliche, nicht physische, aber psychisch zwanghafte Einwirkung auf das Opfer im Vordergrund steht (beispielsweise das Versperren eines Weges bei Demonstrationen, wenn das Opfer nicht ohne erheblichen körperlichen Aufwand passieren kann).
BVerfG und BGH: Entwicklung der Auslegung
Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen klargestellt, dass Gewalt im Sinne des § 240 StGB nur dann vorliegt, wenn eine physische Zwangswirkung vom Täter ausgeht, die auf das Opfer einwirkt. Lediglich psychische Einwirkungen reichen für das Vorliegen von Gewalt im klassischen strafrechtlichen Sinne regelmäßig nicht aus. Diese Rechtsprechung führte zur Einschränkung des ursprünglich weiter gefassten Gewaltbegriffs („Zweite-Reihe-Rechtsprechung“).
Tatbestandsmerkmale und Abgrenzungen
Abgrenzung zu „Drohung mit Gewalt“
Die Drohung mit Gewalt stellt keine unmittelbare Gewaltanwendung, sondern die Ankündigung eines künftigen gewaltsamen Verhaltens dar. Im Gegensatz zur tatsächlichen Gewalt liegt der Schwerpunkt hier auf der Ankündigung und dem damit einhergehenden psychischen Druck.
Abgrenzung zum einfachen Zwang
Im Unterschied zur Gewalt fehlt es beim Zwang im engeren Sinne regelmäßig an der Überwindung eines etwaigen physischen Widerstandes des Opfers; der Täter setzt lediglich die Willensrichtung des Opfers außer Kraft.
Gewalt gegen Sachen
Gewalt im strafrechtlichen Sinne muss regelmäßig gegen Menschen gerichtet sein, nicht gegen Sachen. Sachbeschädigungen oder vergleichbare Sachgewalt reichen nicht für Nötigungs-, Erpressungs- oder Raubdelikte, sofern sie nicht auf den Körper eines Menschen einwirken oder auf diesen übertragen werden.
Subjektive Anforderungen und Rechtswidrigkeit
Für die Strafbarkeit muss der Täter vorsätzlich handeln, also mit Wissen und Wollen über die Gewaltanwendung und deren Folgen. Ferner verlangt das Strafrecht die Prüfung der Rechtswidrigkeit, insbesondere im Rahmen einer Interesse- und Verhältnismäßigkeitsabwägung (§ 240 Abs. 2 StGB). Die Gewaltanwendung muss also „verwerflich“ sein.
Gewalt in verschiedenen Straftatbeständen
Nötigung (§ 240 StGB)
Gewalt ist eine mögliche Tathandlung im Rahmen der Nötigung. Hierbei erforderlich ist, dass der Täter durch Gewaltanwendung den Willen des Opfers bricht oder dessen Entschlussfreiheit einschränkt.
Raub und räuberische Erpressung
Im Zusammenhang mit Raub (§§ 249, 250 StGB) manifestiert sich Gewalt regelmäßig als Anwendung von physischer Kraft zur Wegnahme fremder beweglicher Sachen. Bei der räuberischen Erpressung (§ 255 StGB) besteht die Besonderheit darin, dass Gewalt oder die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eingesetzt werden.
Sexualdelikte
Auch in den §§ 177 ff. StGB findet Gewalt als strafschärfendes Merkmal Verwendung, sobald der Täter unter Gewaltanwendung sexuelle Handlungen gegen den erkennbaren Willen des Opfers durchsetzt.
Rechtsprechung und Praxisrelevanz
Die Auslegung und Anwendung des Gewaltbegriffs unterliegen fortlaufender rechtlicher Praxis und höchstrichterlicher Kontrolle. Maßgeblich für die Entscheidung, ob Gewalt vorliegt, sind stets die konkreten Umstände des Einzelfalles, die nach ständiger Rechtsprechung anhand objektiver und subjektiver Merkmale zu beurteilen sind.
Zusammenfassung
Der Begriff Gewalt ist im deutschen Strafrecht ein vielschichtiges Tatbestandsmerkmal und für zahlreiche Delikte konstitutiv. Die Definition erfasst unmittelbare und zum Teil auch mittelbare physische Einwirkungen auf den Körper eines anderen, unter engen Voraussetzungen auch psychische Zwangseinwirkungen. Maßgebende Kriterien sind die Überwindung eines natürlichen Widerstands durch den Einsatz von Kraft oder durch die Drohung mit einer entsprechenden Kraftanwendung. Die genaue Auslegung ist durch eine umfangreiche Rechtsprechung geprägt und muss stets anhand der Einzelfallumstände erfolgen. Gewalt im Sinne des Strafrechts unterscheidet sich damit klar von der bloßen Drohung oder dem einfachen Zwang und ist ein dynamisch ausgelegter, aber rechtsstaatlich begrenzter Begriff.
Häufig gestellte Fragen
Wie wird der Begriff der Gewalt im deutschen Strafrecht abgegrenzt?
Im deutschen Strafrecht wird unter Gewalt regelmäßig die Ausübung von physischem Kraftaufwand gegenüber einer Person verstanden, um einen geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden oder zu verhindern. Damit ist Gewalt im strafrechtlichen Sinne grundsätzlich eine mittelbare oder unmittelbare Einwirkung auf den Körper eines anderen Menschen, die darauf abzielt, dessen Willensentschluss zu beeinflussen oder seine Handlungsfreiheit zu beschränken. Bereits leichter körperlicher Zwang kann als Gewalt ausreichen, sofern er geeignet ist, einen Widerstand zu brechen oder zu verhindern. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die sogenannte „Zwangswirkung“, das heißt, die Gewalt muss nach ihrer Art und Intensität dazu dienen, eine Person gegen oder ohne ihren Willen zu einem bestimmten Verhalten zu nötigen. Relevant ist diese Auslegung insbesondere bei Tatbeständen wie Nötigung (§ 240 StGB), Raub (§ 249 StGB) oder Körperverletzungsdelikten. Die Rechtsprechung differenziert dabei je nach Delikt. So kann beispielsweise bei der Nötigung teilweise auch „psychische Gewalt“ anerkannt werden, wenn eine Handlung geeignet ist, beim Opfer einen erheblichen psychischen Zwang auszuüben.
Welche Rolle spielt Gewalt bei der Qualifikation von Straftatbeständen?
Die Anwendung von Gewalt kann bestimmte Grunddelikte im Strafrecht zu sogenannten Qualifikationstatbeständen machen, indem sie den Unrechtsgehalt der Tat erhöht und somit zu einer schwereren strafrechtlichen Einordnung führt. Ein klassisches Beispiel ist der Unterschied zwischen einfacher Nötigung (§ 240 StGB) und Raub (§ 249 StGB). Während die Nötigung bereits durch Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel erfüllt sein kann, wird beim Raub zusätzliche Gewaltanwendung gegen eine Person vorausgesetzt, um eine Wegnahme zu ermöglichen. Diese abgestufte Betrachtung führt zu höheren Strafandrohungen, da die Gesellschaft und das Rechtssystem einer durch Gewalt erreichten Rechtsgutsverletzung ein größeres Unrecht beimessen. Ebenso verhält es sich beim Diebstahl, der durch die Verwendung von Gewalt zum Raub qualifiziert wird. Eine weitere Rolle spielt Gewalt etwa auch bei Sexualdelikten, bei denen Gewaltanwendung regelmäßig Grundlage für eine Qualifikation ist.
Welche Anforderungen stellt die Rechtsprechung an die Feststellung von Gewaltanwendung?
Die Rechtsprechung verlangt, dass die Anwendung von Gewalt in objektiver und subjektiver Hinsicht präzise festgestellt wird. Objektiv muss feststehen, dass eine körperliche Einwirkung auf den oder die Geschädigten vorliegt, die geeignet ist, dessen oder deren Widerstand zu überwinden. Das reicht von Festhalten über Stoßen, Schlagen oder Würgen bis hin zu schwereren Angriffen. Auch das Androhen sofortiger Gewalt kann darunterfallen, wenn das Opfer sich dem entgegen nicht entziehen kann. Subjektiv erfordert die Feststellung, dass der Täter mit zumindest bedingtem Vorsatz handelt, das heißt, er muss bewusst und gewollt Gewalt anwenden, um zum gewünschten Erfolg zu gelangen. Die Gerichte verlangen eine genaue Tatsachenfeststellung, die sich oft auf Aussagen von Zeugen, ärztliche Gutachten oder sonstige objektive Indizien stützt.
Wann liegt im strafrechtlichen Sinne keine Gewaltanwendung vor?
Keine Gewaltanwendung im strafrechtlichen Sinne liegt vor, wenn entweder die Einwirkung auf den Körper gänzlich fehlt oder eine lediglich unerhebliche Beeinträchtigung vorliegt, die nicht geeignet ist, einen Widerstand zu brechen oder zu verhindern. Beispielhaft kann dies etwa der Fall sein, wenn eine Person leicht an der Kleidung gezupft wird, ohne dass daraus ein tatsächlicher Zwang resultiert. Gleiches gilt bei rein verbalen Drohungen, sofern diese nicht mit einer unmittelbar bevorstehenden körperlichen Einwirkung verbunden sind. Auch das Errichten von Barrikaden oder Blockaden im Rahmen von Demonstrationen ohne körperliche Einwirkung auf eine Person wurde lange Zeit nicht als Gewalt im Sinne des § 240 StGB angesehen, wenngleich der Bundesgerichtshof in den letzten Jahren differenziertere Maßstäbe entwickelt hat.
Wie unterscheidet sich „Gewalt gegen Sachen“ von „Gewalt gegen Personen“ im Strafrecht?
Im deutschen Strafrecht wird grundsätzlich zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen unterschieden. Gewalt gegen Sachen liegt vor, wenn physische Kraft unmittelbar auf eine Sache ausgeübt wird, etwa beim Einbrechen oder Zerstören von Gegenständen. Im Unterschied dazu ist bei der Gewalt gegen Personen eine unmittelbare oder mittelbare Einwirkung auf den menschlichen Körper erforderlich. Für die Annahme qualifizierender Tatbestände wie Raub oder erpresserischem Menschenraub sind ausschließlich Handlungen relevant, die sich direkt oder indirekt gegen Personen richten. Gewalt gegen Sachen kann jedoch auch als Nötigung gegenüber Personen gewertet werden, falls die Einwirkung auf eine Sache mittelbar den Zwang auf eine Person zur Folge hat (sog. „Zwang durch Sachgewalt“). Das ist beispielsweise der Fall, wenn jemand ein Fahrzeug blockiert und der Fahrer dadurch am Weiterfahren gehindert wird, wobei jedoch rechtliche und tatsächliche Hürden hinsichtlich der Anerkennung im Einzelfall bestehen.
Welche Bedeutung hat der Begriff der Gewalt für den Tatbestand des Raubes?
Für den Tatbestand des Raubes (§ 249 StGB) ist die Gewaltanwendung ein zentrales Tatbestandsmerkmal. Raub setzt voraus, dass der Täter mit Gewalt gegen eine Person oder unter Androhung gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine fremde bewegliche Sache einem anderen wegnimmt. Die Gewalt muss dabei darauf gerichtet sein, einen Widerstand zu überwinden, der sich auf die Wegnahmehandlung bezieht, und die vorgenommene Gewaltanwendung muss für das Opfer tatsächlich fühlbar sein. Die Intensität der Gewalt beim Raub muss das Opfer tatsächlich in eine Lage versetzen, in der es sich dem Zugriff auf die Sache nicht erfolgreich widersetzen kann. Dadurch unterscheidet sich der Raub grundlegend von anderen Eigentumsdelikten, wie etwa dem Diebstahl, der ohne Gewaltanwendung begangen werden kann.
Welche Strafen drohen bei Gewaltanwendung im Rahmen von Straftaten nach dem StGB?
Die Androhung der Strafen richtet sich nach dem jeweiligen Tatbestand und der Schwere der tatsächlich angewandten Gewalt. Bei Nötigung gemäß § 240 StGB etwa reicht das Strafmaß von Geldstrafe bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe, kann bei besonders schweren Fällen aber auch darüber liegen. Beim Raub nach § 249 StGB liegt das Mindestmaß der Freiheitsstrafe bei einem Jahr, bei besonders schweren Fällen nach § 250 StGB sogar bei mindestens fünf Jahren, sofern etwa eine Waffe gebraucht wurde oder das Opfer in Gefahr schwerer Gesundheitsschädigung gebracht wurde. Körperverletzungsdelikte (§§ 223 ff. StGB) werden je nach Art und Schwere der Gewaltanwendung und der Folgen für das Opfer mit unterschiedlich hohen Freiheitsstrafen oder Geldstrafen geahndet. Die genaue Strafhöhe bemisst sich jeweils nach der Intensität der Gewalt, den Tatumständen und auch der Schuld des Täters.