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Gesamtvorsatz


Begriff und rechtliche Einordnung des Gesamtvorsatzes

Der Begriff Gesamtvorsatz findet insbesondere im Strafrecht Anwendung und bezeichnet den umfassenden Vorsatz eines Täters, der sich auf mehrere in einer natürlichen Handlungseinheit beziehungsweise auf mehrere tateinheitlich oder tatmehrheitlich begangene Straftaten erstreckt. Gesamtvorsatz ist damit ein wichtiger Terminus im Zusammenhang mit dem Vorsatzsystem des deutschen Strafrechts und hat sowohl für die Tatbestandsebene als auch für die Strafzumessung erhebliche Bedeutung.

Systematische Stellung im Strafrecht

Abgrenzung zu anderen Formen des Vorsatzes

Der Gesamtvorsatz steht im Gegensatz zum sogenannten Einzelvorsatz, der sich stets nur auf eine bestimmte einzelne Straftat oder einen bestimmten Straftatbestand richtet. Während der Einzelvorsatz im Rahmen eines bestimmten Tatgeschehens vorliegt, umfasst der Gesamtvorsatz mehrere, im Vorfeld gefasste Vorsätze, die der Täter in einer Handlungseinheit oder einem einheitlichen Lebenssachverhalt verwirklicht. Es ist hierbei zwischen dem Gesamtvorsatz im Sinne einer Gesamthandlung und der gleichzeitig begangenen Mehrzahl von Rechtsgutsverletzungen zu unterscheiden.

Entstehung und Voraussetzungen

Subjektive Voraussetzungen

Der Gesamtvorsatz setzt voraus, dass der Täter bei Begehung der ersten Tat bereits den Willen hat, weitere Straftaten gleicher oder ähnlicher Art in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang auszuführen. Es kommt darauf an, ob der Handlungswille von vornherein auf eine Mehrzahl von Rechtsgutsverletzungen gerichtet und damit die Gesamtheit der geplanten Handlungen von einem übergreifenden Planspiel getragen ist. Entscheidend ist hierbei die innere Willensrichtung des Täters, die im Ermittlungs- und Hauptverfahren häufig durch Zeugenaussagen, Indizienbeweise oder Einlassungen beurteilt werden muss.

Objektive Anforderungen

Objektiv muss die Mehrzahl der Delikte in engem zeitlichen, räumlichen und sachlichen Zusammenhang stehen, etwa bei Serienhandlungen, Seriendiebstählen oder fortgesetztem Handeln im Rahmen einer einheitlichen Lebenssituation. Der Bundesgerichtshof hat hierfür in zahlreichen Entscheidungen auf eine Gesamtschau der jeweiligen Tatumstände abgestellt.

Abgrenzung von Teilvorsatz, Tatmehrheit und Tateinheit

Der Gesamtvorsatz ist insbesondere von Teilvorsatz, Tatmehrheit (§ 53 StGB) und Tateinheit (§ 52 StGB) abzugrenzen:

  • Gesamtvorsatz und Teilvorsatz: Teilvorsatz bezieht sich lediglich auf einzelne Teile einer Tatgesamtplanung, nicht aber auf das gesamte Vorhaben.
  • Gesamtvorsatz und Tatmehrheit: Tatmehrheit liegt vor, wenn mehrere selbstständige Straftaten begangen werden, ohne dass ein einheitlicher Vorsatz bestand.
  • Gesamtvorsatz und Tateinheit: Bei Tateinheit werden mehrere strafbare Handlungen durch eine Handlung oder mehrere gleichartige Handlungen verwirklicht, die von einem Gesamtvorsatz getragen sein können.

Bedeutung in der Rechtsprechung

In der Rechtsprechung wird dem Gesamtvorsatz insbesondere im Zusammenhang mit der Abgrenzung von Handlungseinheiten, bei der Beurteilung einer natürlichen Handlungseinheit und der Begründung einer Bewertungseinheit große Bedeutung beigemessen. Bei der Strafzumessung dient der festgestellte Gesamtvorsatz regelmäßig als Indiz für die Bewertung der Tatmotivation, der kriminellen Energie und für das Ausmaß der Rechtsgutsverletzung. Der Bundesgerichtshof verlangt eine sorgfältige Prüfung, ob tatsächlich ein Gesamtvorsatz oder vielmehr eine spontane Ausweitung des Tatentschlusses angenommen werden muss.

Dogmatische Einordnung im Vorsatzbegriff

Der Gesamtvorsatz ist eine Ausprägung des Vorsatzes, wie er in § 15 StGB geregelt ist. Vorsatz als Wille zur Tatverwirklichung erfüllt bei Vorliegen eines Gesamtvorsatzes besondere Anforderungen an das Wissen und Wollen, das auf eine Mehrzahl von Rechtsgutsverletzungen ausgedehnt ist. Die sogenannte Gesamtvorsatztheorie hebt dabei auf die innere Einheit der Tathandlungen ab.

Relevanz bei Irrtumsfragen

Weiterhin ist der Gesamtvorsatz von Bedeutung bei Irrtumsfragen: Ein Fehlen des Gesamtvorsatzes kann beispielsweise im Rahmen des Tatbestandsirrtums oder des Erlaubnistatbestandsirrtums erheblich sein, sofern der Täter eine Ausweitung der Tat auf weitere Objekte oder Opfer nicht erkennt oder nicht will.

Relevanz für die Strafzumessung

Die Annahme eines Gesamtvorsatzes hat für die Strafzumessung weitreichende Folgen. Sie kann strafschärfend wirken, da sie einen erhöhten Grad an krimineller Energie und eine erhöhte Sozialgefährlichkeit indiziert. Zugleich kann sie im Rahmen von §§ 52, 53 StGB für die Frage, ob eine Gesamtstrafe zu bilden oder ob Tateinheit oder Tatmehrheit anzunehmen ist, bedeutend sein. Die Begrenzung der Strafzumessung auf das Unrecht der Gesamttat berücksichtigt den Gesamtvorsatz maßgeblich.

Gesamtvorsatz im internationalen Vergleich

Anders als im deutschen Strafrecht ist der Begriff Gesamtvorsatz im angloamerikanischen Rechtskreis in dieser Form nicht ausgeprägt; vergleichbare Wertungen werden dort unter den Dogmen der „continuing offenses“ oder „concurrence of actus reus and mens rea“ vollzogen.

Zusammenfassung und Bedeutung für die Praxis

Der Gesamtvorsatz bezeichnet im Strafrecht einen auf mehrere Rechtsgutsverletzungen gerichteten, von vornherein gefassten Tatentschluss, der für die rechtliche Beurteilung von Handlungseinheiten, die Bestimmung des Unrechtsgehalts und die Strafzumessung eine zentrale Rolle einnimmt. Die Unterscheidung von Einzelvorsatz, Teilvorsatz und Gesamtvorsatz ist für die korrekte Subsumtion und die Bildung von Gesamt- oder Einzelstrafen unerlässlich und erfordert eine sorgfältige Würdigung der subjektiven und objektiven Tatmomente.


Literaturhinweise:

  • Fischer, Strafgesetzbuch, § 52, Rn. 1 ff.
  • BGHSt 23, 243; BGHSt 37, 1
  • Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1, 5. Auflage, § 12
  • Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, vor § 52, Rn. 10 ff.

Häufig gestellte Fragen

Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen für das Vorliegen eines Gesamtvorsatzes erfüllt sein?

Für das Vorliegen eines Gesamtvorsatzes wird vorausgesetzt, dass der Täter bei Begehung mehrerer gleichartiger Straftaten einen einheitlichen Willensentschluss fasst, der sich auf eine Mehrheit von künftigen Einzeltaten bezieht. Dieser übergreifende Vorsatz umfasst alle Handlungen gleicher Art, die in einem inneren Zusammenhang stehen. Im juristischen Sinne ist entscheidend, dass der Gesamtvorsatz die einzelnen Tatentschlüsse zeitlich und sachlich verbindet, sodass die Tatserie als Ausführung eines vorab gefassten Plans erscheint. Der Gesamtvorsatz darf sich nicht lediglich auf eine unbestimmte Mehrzahl an Taten beziehen, sondern muss konkreten Inhalt und Umfang erkennen lassen, was in der gerichtlichen Praxis regelmäßig Gegenstand der Beweiswürdigung ist.

Welche Bedeutung hat der Gesamtvorsatz für die Konkurrenzlehre im Strafrecht?

Im Rahmen der Konkurrenzlehre spielt der Gesamtvorsatz insbesondere bei der Abgrenzung zwischen Tateinheit und Tatmehrheit eine zentrale Rolle. Liegt ein Gesamtvorsatz vor und werden mehrere Straftaten auf Basis dieses Gesamtvorsatzes begangen, handelt es sich um selbstständige, jedoch durch eine natürliche Handlungseinheit oder unter Umständen als fortgesetzte Handlung miteinander verbundene Einzeltaten. Dies beeinflusst die rechtliche Bewertung, da unter bestimmten Umständen eine Milderung der Strafe gemäß § 54 StGB möglich ist. Bei Ablehnung eines Gesamtvorsatzes werden die einzelnen Delikte nach den allgemeinen Regeln der Tatmehrheit behandelt, sodass eine strengere rechtliche Beurteilung erfolgen kann.

Wie wird in der Rechtsprechung der Zeitpunkt der Bildung des Gesamtvorsatzes bestimmt?

Die Rechtsprechung fordert, dass der Gesamtvorsatz vor oder spätestens bei Begehung der ersten Einzeltat gefasst wurde. Maßgeblich ist ein nach außen erkennbarer Gesamtplan, der die Ausführung mehrerer Taten umfasst. Kommt der Vorsatz erst sukzessive oder spontan bei Durchführung der einzelnen Taten hinzu, kann kein Gesamtvorsatz im Rechtssinne angenommen werden. Die exakte Feststellung des Zeitpunkts wird im Strafverfahren häufig anhand von Indizien überprüft, etwa durch Zeugenaussagen, die Planung von Tatmitteln oder auffällige Übereinstimmungen im Tatmodus.

Welche Rolle spielt der Gesamtvorsatz bei der Strafzumessung?

Der Gesamtvorsatz kann strafmildernd wirken, insbesondere wenn er als Grundlage für die Annahme einer fortgesetzten Handlung oder natürlichen Handlungseinheit dient. Die Gerichte können in solchen Fällen auf eine Gesamtstrafe erkennen, die niedriger sein kann als die Summe der Einzelstrafen. Zudem wirkt sich der Gesamtvorsatz im Rahmen der Strafzumessung innerhalb des § 46 StGB aus, da Planung, Intensität des Tatentschlusses und damit zusammenhängende Hemmungen berücksichtigt werden. Liegt dagegen kein Gesamtvorsatz vor, besteht die Gefahr einer Kumulierung von Strafen, was für den Angeklagten nachteiliger ist.

Gibt es typische Deliktsbereiche, in denen der Gesamtvorsatz besonders relevant ist?

Gesamtvorsatz ist vor allem bei Serien- oder Massendelikten relevant, etwa im Bereich der Vermögensdelikte (z. B. mehrfacher Betrug, Diebstahl in mehreren Fällen), aber auch bei Betäubungsmittelstraftaten und im Bereich der Urkundendelikte. Dort ist es nicht unüblich, dass Täter einen umfangreichen Tatplan fassen, der die Ausführung zahlreicher Einzeltaten umfasst. Auch bei Kapitalmarkt- und Steuerstraftaten findet der Gesamtvorsatz im Rahmen komplexer Tatserien häufig Anwendung in der strafrechtlichen Beurteilung.

Wie wird der Gesamtvorsatz im Ermittlungsverfahren festgestellt und bewiesen?

Im Ermittlungsverfahren wird der Gesamtvorsatz durch die Staatsanwaltschaft anhand sämtlicher ermittlungstechnischer Möglichkeiten, wie Zeugenvernehmungen, Überwachung von Kommunikation sowie Sicherstellung von Beweismitteln, rekonstruiert. Es wird darauf geachtet, ob bereits vor Tatbeginn Indizien für einen verbindenden Gesamtplan bestehen, beispielsweise in Form von Vorbereitungshandlungen oder kommunizierten Tatabsichten. Die Beweislast liegt bei der Staatsanwaltschaft; sie muss die Bildung des Gesamtvorsatzes hinreichend sicher nachweisen, da dieser erhebliche Auswirkungen auf die spätere rechtliche Würdigung und Strafzumessung hat.

Welche Unterschiede bestehen zwischen Gesamtvorsatz und fortgesetzter Handlung?

Obwohl beide Institute einen engen Zusammenhang bei der Begehung mehrerer Straftaten aufweisen, unterscheidet sich der Gesamtvorsatz von der fortgesetzten Handlung dadurch, dass Letztere mittlerweile nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Kern nur noch in bestimmten Ausnahmefällen (etwa bei sexuellen Missbrauchsdelikten) angenommen wird. Der Gesamtvorsatz hingegen ist ein Oberbegriff für die auf einen Gesamtplan zurückgehenden Tatserien, unabhängig davon, ob tatsächlich eine fortgesetzte Handlung vorliegt oder nicht; er wirkt sich auf die Art und Weise aus, wie die Taten prozessual und materiell-rechtlich erfasst und beurteilt werden. Die genaue Unterscheidung kann im Einzelfall entscheidend für den Umfang und die Höhe der verhängten Strafe sein.