Gemeinschaftsrecht, Europäisches – Begriff, Entwicklung und Bedeutung
Unter Europäischem Gemeinschaftsrecht wurde ursprünglich das Recht der Europäischen Gemeinschaften verstanden. Es bildete den Kern des heutigen Rechts der Europäischen Union. Seit der institutionellen Reform wurde der Begriff weitgehend durch den Ausdruck Unionsrecht ersetzt. In historischen, wissenschaftlichen und systematischen Zusammenhängen wird der Begriff Gemeinschaftsrecht weiterhin genutzt, um die Entwicklungslinien und die spezifischen Rechtsprinzipien der frühen Integrationsphase zu beschreiben.
Ursprung des Begriffs
Die Bezeichnung Gemeinschaftsrecht knüpft an die drei Europäischen Gemeinschaften an. Deren Normen und Institutionen begründeten ein eigenständiges, supranationales Rechtssystem mit unmittelbarer Wirkung in den Mitgliedstaaten.
Wandel zum Unionsrecht
Mit der Weiterentwicklung der Integration wurden die Gemeinschaften in die Struktur der Europäischen Union überführt. Das frühere Gemeinschaftsrecht ist funktional im Unionsrecht aufgegangen. Inhaltlich blieben die tragenden Prinzipien, Kompetenzen und Rechtsakte maßgeblich.
Bedeutung im heutigen Sprachgebrauch
Gemeinschaftsrecht wird heute meist als historischer oder systematischer Begriff verwendet. In der Sache meint er das supranationale Recht der EU, insbesondere die Grundfreiheiten, die primären Verträge und die sekundären Rechtsakte wie Verordnungen und Richtlinien.
Rechtsquellen und Rechtsakte
Primäres Recht
Das primäre Recht umfasst die Gründungs- und Änderungsverträge der Union einschließlich ihrer Protokolle sowie die Charta der Grundrechte. Es legt Zuständigkeiten, Institutionen, Verfahren und grundlegende Werte fest und bildet die höchste Normebene innerhalb des Unionsrechts.
Sekundäres Recht
Das sekundäre Recht wird von den Unionsorganen erlassen, um die Vorgaben des primären Rechts auszugestalten. Es umfasst verschiedene Rechtsakte mit unterschiedlicher Bindungswirkung.
Verordnungen
Verordnungen gelten allgemein und unmittelbar in allen Mitgliedstaaten. Sie bedürfen keiner Umsetzung und sind von Behörden und Gerichten unmittelbar anzuwenden.
Richtlinien
Richtlinien binden an das zu erreichende Ziel, überlassen den Mitgliedstaaten jedoch Form und Mittel der Umsetzung innerhalb einer festgelegten Frist. Unter bestimmten Voraussetzungen können einzelne Bestimmungen einer Richtlinie unmittelbare Wirkung entfalten, insbesondere gegenüber staatlichen Stellen.
Beschlüsse
Beschlüsse richten sich an bestimmte Adressaten, etwa Mitgliedstaaten, Unternehmen oder Einzelpersonen, und sind für diese verbindlich.
Empfehlungen und Stellungnahmen
Empfehlungen und Stellungnahmen haben keine bindende Wirkung. Sie können gleichwohl die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts beeinflussen und politische Koordinierung fördern.
Weitere Rechtsquellen
Allgemeine Rechtsgrundsätze und Grundrechte
Allgemeine Grundsätze wie Gleichheit, Rechtssicherheit, Verhältnismäßigkeit und Vertrauensschutz prägen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts. Die Grundrechte, insbesondere aus der Charta, binden die Union und die Mitgliedstaaten bei Durchführung des Unionsrechts.
Internationale Abkommen der EU
Die EU schließt völkerrechtliche Übereinkünfte, die Bestandteil der Unionsrechtsordnung werden und innerstaatlich zu beachten sind.
Völkergewohnheitsrecht
Anerkanntes Völkergewohnheitsrecht wird im Rahmen des Unionsrechts berücksichtigt, soweit es mit den Verträgen und den Grundsätzen vereinbar ist.
Grundprinzipien
Anwendungsvorrang
Das Unionsrecht beansprucht Vorrang vor entgegenstehendem nationalem Recht. Gerichte und Behörden sind verpflichtet, kollidierendes innerstaatliches Recht unangewendet zu lassen, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen.
Unmittelbare Wirkung
Klar und unbedingt formulierte Unionsrechtsnormen können Einzelnen Rechte verleihen, die vor nationalen Gerichten geltend gemacht werden. Dies gilt typischerweise für Bestimmungen des primären Rechts und für unmittelbar anwendbare Sekundärrechtsakte.
Effektiver Rechtsschutz und Staatshaftung
Mitgliedstaaten müssen wirksamen Rechtsschutz gewährleisten, wenn Unionsrecht betroffen ist. Bei qualifizierten Verstößen gegen Unionsrecht kann eine Haftung des Mitgliedstaats für Schäden in Betracht kommen.
Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit
Die Union wird tätig, wenn Ziele auf mitgliedstaatlicher Ebene nicht ausreichend erreicht werden können und besser auf Unionsebene zu verwirklichen sind. Maßnahmen dürfen nicht über das zur Zielerreichung Erforderliche hinausgehen.
Loyalitätsprinzip
Union und Mitgliedstaaten arbeiten loyal zusammen. Mitgliedstaaten treffen geeignete Maßnahmen zur Erfüllung unionsrechtlicher Pflichten und unterlassen Maßnahmen, die Unionsziele ernsthaft gefährden.
Zuständigkeiten und Politikbereiche
Kompetenzordnung
Ausschließliche Zuständigkeiten
In bestimmten Bereichen handelt allein die EU, etwa im Zollwesen und bei der handelspolitischen Ausrichtung gegenüber Drittstaaten.
Geteilte Zuständigkeiten
In vielen Materien teilen sich Union und Mitgliedstaaten die Gesetzgebungsbefugnis, beispielsweise im Binnenmarkt, Umwelt- und Verbraucherschutz. Vorrangig ist das Unionsrecht, sobald die EU ihre Zuständigkeit ausübt.
Unterstützende Maßnahmen
In Bereichen wie Kultur, Bildung oder Gesundheit kann die EU Maßnahmen koordinieren und unterstützen, ohne die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zu harmonisieren.
Zentrale Materien
Binnenmarkt und Grundfreiheiten
Freier Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr bilden das Fundament des Binnenmarkts. Beschränkungen sind nur unter engen Voraussetzungen zulässig.
Wettbewerbsrecht und Beihilfen
Vorschriften gegen wettbewerbsbeschränkende Absprachen und missbräuchliche Verhaltensweisen sowie die Kontrolle staatlicher Beihilfen sichern unverfälschten Wettbewerb.
Verbraucherschutz, Umwelt, Gesundheit
Harmonisierungsvorschriften stärken Sicherheit, Qualität und Transparenz von Produkten und Dienstleistungen und fördern nachhaltige Entwicklung.
Datenschutz und digitale Märkte
Ein unionsweit einheitlicher Datenschutzrahmen und Regelungen für digitale Dienste und Märkte gewährleisten Grundrechte und faire Wettbewerbsbedingungen.
Außenhandel und Zollunion
Einheitliche Außenzölle und gemeinsame Handelsabkommen regeln Waren- und Dienstleistungsströme mit Drittstaaten.
Wirtschafts- und Währungsunion
Koordinierung der Wirtschaftspolitik und gemeinsame Währung in teilnehmenden Staaten mit Regeln zur Haushaltsdisziplin und Finanzmarktstabilität.
Institutionen und Rechtsetzung
Rolle der Organe
Die wichtigsten Organe sind Parlament, Rat, Europäischer Rat, Kommission, Gerichtshof der Europäischen Union, Rechnungshof und Zentralbank. Sie wirken in Gesetzgebung, Ausführung, Kontrolle und Rechtsprechung zusammen.
Gesetzgebungsverfahren
Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren sieht eine gemeinsame Beschlussfassung von Parlament und Rat auf Vorschlag der Kommission vor. In besonderen Verfahren haben einzelne Organe eine hervorgehobene Rolle. Konsultationen, Anhörungen und Folgenabschätzungen flankieren die Rechtsetzung.
Rolle der nationalen Parlamente
Nationale Parlamente überwachen die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips und wirken politisch an der Willensbildung mit. Sie begleiten die Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben in innerstaatliches Recht.
Umsetzung und Durchsetzung
Umsetzung in den Mitgliedstaaten
Richtlinien werden innerhalb vorgegebener Fristen in nationales Recht überführt. Verordnungen gelten unmittelbar. Nationale Behörden und Gerichte sind verpflichtet, unionsrechtskonform auszulegen und anzuwenden.
Vertragsverletzungsverfahren
Bei vermutetem Verstoß eines Mitgliedstaats gegen Unionsrecht kann ein förmliches Verfahren eingeleitet werden. Es umfasst ein vorgerichtliches Stadium und eine gerichtliche Klärung. Sanktionen sind möglich, wenn die Pflichtverletzung fortbesteht.
Vorabentscheidung und gerichtliche Kontrolle
Gerichte der Mitgliedstaaten können Fragen zur Auslegung oder Gültigkeit des Unionsrechts vorlegen. Entscheidungen hierzu sichern die einheitliche Anwendung in allen Mitgliedstaaten.
Aufsicht und Behördennetzwerke
Dezentrale Agenturen und europaweite Netzwerke von Aufsichtsbehörden unterstützen einheitliche Standards und koordinieren die Vollzugspraktiken, etwa in Wettbewerb, Finanzmärkten, Datenschutz, Lebensmittelsicherheit oder Verkehr.
Verhältnis zu nationalem Recht
Kollisionen und Konfliktlösung
Kommt es zu Konflikten, sind nationale Normen unangewendet zu lassen, soweit sie mit unmittelbar anwendbarem Unionsrecht unvereinbar sind. Innerstaatliche Verfahrensautonomie gilt, solange Effektivität und Gleichwertigkeit des unionsrechtlichen Rechtsschutzes gewahrt sind.
Verfassungsidentität und Grenzen
Die Integration ist vertragsgebunden. Nationale Verfassungsstrukturen, Grundrechte und demokratische Grundsätze werden geachtet. Diskussionen über Identitätsvorbehalte und Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten begleiten die Fortentwicklung.
Föderale und regionale Ebenen
In föderalen Systemen wirken Bund und Länder bei der Umsetzung zusammen. Regionale Besonderheiten können berücksichtigt werden, sofern Vereinbarkeit mit Unionsrecht besteht.
Praktische Wirkung für Bürgerinnen und Unternehmen
Rechte der Unionsbürger
Unionsbürgerinnen und -bürger genießen Freizügigkeit, Niederlassungs- und Aufenthaltsrechte, Zugang zu Beschäftigung sowie Diskriminierungsschutz aufgrund der Staatsangehörigkeit im Anwendungsbereich des Unionsrechts.
Unternehmen im Binnenmarkt
Unternehmen profitieren von Marktzugang, Harmonisierung technischer Standards, einheitlichen Wettbewerbsregeln und grenzüberschreitenden Verfahren, etwa im öffentlichen Auftragswesen.
Öffentliche Verwaltung und Vergabe
Vergaberegeln und Transparenzanforderungen fördern fairen Wettbewerb. Behörden wenden unmittelbar geltende Unionsnormen an und berücksichtigen unionsrechtliche Grundsätze bei Ermessensentscheidungen.
Terminologie und Abgrenzungen
Gemeinschaftsrecht versus Unionsrecht
Inhaltlich beschreibt Gemeinschaftsrecht die früheren Rechtsakte und Prinzipien der Europäischen Gemeinschaften. Heute spricht man überwiegend von Unionsrecht. Beide Begriffe weisen auf das supranationale, eigenständige Rechtssystem hin.
Europäisches Recht im weiteren Sinne
Europäisches Recht ist kein einheitlicher Begriff. Neben dem Unionsrecht existieren eigenständige Rechtsordnungen anderer europäischer Organisationen, insbesondere des Europarats. Diese sind vom Unionsrecht zu unterscheiden, wirken aber in der europäischen Rechtslandschaft zusammen.
Soft Law und politische Koordinierung
Leitlinien, Mitteilungen und Koordinierungsinstrumente haben keine unmittelbare Bindungswirkung, können jedoch Auslegung, Vollzug und künftige Rechtsetzung maßgeblich prägen.
Häufig gestellte Fragen
Was bedeutet Europäisches Gemeinschaftsrecht heute?
Der Begriff bezeichnet historisch das Recht der Europäischen Gemeinschaften und wird heute meist als Synonym oder Vorläuferbegriff für das Recht der Europäischen Union verwendet. Inhaltlich geht es um ein supranationales Rechtssystem mit Vorrang und eigener Durchsetzungsstruktur.
Worin unterscheidet sich Gemeinschaftsrecht von nationalem Recht?
Unionsrecht beansprucht Anwendungsvorrang gegenüber entgegenstehendem nationalem Recht und wirkt zum Teil unmittelbar. Nationale Normen und Praktiken müssen sich daran messen lassen und bei Kollisionen zurücktreten.
Welche Rechtsakte gibt es und wie wirken sie?
Verordnungen gelten unmittelbar und allgemein. Richtlinien setzen Ziele und werden innerstaatlich umgesetzt; bestimmte Bestimmungen können unter Voraussetzungen unmittelbare Wirkung entfalten. Beschlüsse sind für benannte Adressaten verbindlich. Empfehlungen und Stellungnahmen sind rechtlich unverbindlich.
Wie wird die einheitliche Anwendung in allen Mitgliedstaaten gesichert?
Durch ein Zusammenspiel von Gesetzgebung, Aufsicht, Koordinierung der Behörden und gerichtlicher Kontrolle, insbesondere durch das Vorabentscheidungsverfahren, das Auslegung und Gültigkeit unionsrechtlicher Normen klärt.
Welche Rolle spielen Grundrechte im Gemeinschaftsrecht?
Grundrechte binden die Union und die Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht. Sie leiten die Auslegung, begrenzen Eingriffe und sichern einen wirksamen Rechtsschutz.
Wer überwacht die Einhaltung des Unionsrechts?
Die Kommission nimmt eine Aufsichtsfunktion wahr. Zudem sichern Gerichte in den Mitgliedstaaten und der Gerichtshof der Europäischen Union die Beachtung und einheitliche Anwendung. Behördennetzwerke und Agenturen unterstützen den Vollzug.
Was geschieht bei Verstößen eines Mitgliedstaats?
Es kann ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden, das von einem vorgerichtlichen Austausch bis zu einer gerichtlichen Entscheidung reicht. Bei fortdauerndem Verstoß sind Sanktionen möglich.
Hat Gemeinschaftsrecht unmittelbare Wirkung für Einzelne?
Ja, sofern Normen klar, präzise und unbedingt sind. Dies gilt typischerweise für Bestimmungen des primären Rechts und für unmittelbar anwendbare Sekundärrechtsakte. Bei Richtlinien kommt es auf die Umstände und die Stellung des Adressaten an.