Begriff und Funktion des Gemeinsamen Senats
Der Begriff Gemeinsamer Senat bezeichnet ein besonderes Gremium auf Bundesebene, das die höchstrangigen Fachgerichte Deutschlands zusammenführt. Es wird einberufen, um widersprüchliche Auslegungen des Bundesrechts zwischen den obersten Gerichtshöfen zu klären und die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu sichern. Der Gemeinsame Senat ist kein eigenes Gericht für individuelle Rechtsmittel, sondern ein Koordinationsorgan, das über grundsätzliche Rechtsfragen entscheidet, die mehrere Gerichtszweige betreffen.
Rechtsstellung und Zweck
Zentraler Zweck des Gemeinsamen Senats ist die Wahrung der Rechtseinheit. Treffen etwa der Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht, das Bundesarbeitsgericht, das Bundessozialgericht oder der Bundesfinanzhof zu derselben Rechtsfrage unterschiedliche Wertungen, kann der Gemeinsame Senat die klärende, verbindliche Antwort zur Auslegung des Bundesrechts geben. Dadurch werden nachhaltige Rechtsunsicherheiten vermieden, die aus voneinander abweichenden Leitentscheidungen entstehen könnten.
Abgrenzung
Der Gemeinsame Senat steht nicht über den obersten Gerichtshöfen, sondern vermittelt zwischen ihnen. Er entscheidet keine gesamten Verfahren, sondern nur die vorgelegte abstrakte Rechtsfrage. Die Sache selbst wird anschließend von dem vorlegenden Gericht unter Beachtung der Entscheidung des Gemeinsamen Senats entschieden.
Historische Entwicklung
Der Gemeinsame Senat wurde durch Bundesgesetz geschaffen, um eine institutionalisierte Klärung bei divergierenden Auslegungen durch verschiedene höchste Fachgerichte zu ermöglichen. Seit seiner Einrichtung wird er nur selten angerufen, was die Regelhaftigkeit harmonisierter Rechtsprechung und die hohe Abstimmungsdichte der Fachgerichte widerspiegelt.
Zuständigkeit und Auslöser
Die Zuständigkeit des Gemeinsamen Senats ist auf wenige, klar umrissene Fallgruppen beschränkt. Im Mittelpunkt stehen Divergenzen und Zuständigkeitsfragen auf höchstrichterlicher Ebene.
Divergenzvorlage
Will ein Senat eines obersten Gerichtshofs zu einer bestimmten Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs abweichen, kann die betreffende Rechtsfrage dem Gemeinsamen Senat zur Klärung vorgelegt werden. Zuvor wird regelmäßig geklärt, ob das andere Gericht an seiner Linie festhält. Nur wenn die Divergenz fortbesteht, kommt es zur Anrufung.
Zuständigkeitsstreit
Kommt es zu einem Konflikt darüber, welcher oberste Gerichtshof für eine bestimmte Materie abschließend zuständig ist, kann der Gemeinsame Senat entscheiden, um die sachliche Zuordnung zu präzisieren. Das dient der klaren Grenzziehung zwischen den Gerichtszweigen.
Abstrakte Rechtsfragen
Der Gemeinsame Senat beantwortet stets abstrakte Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung, die über den Einzelfall hinausweisen. Er befasst sich nicht mit der Tatsachenfeststellung und nimmt keine umfassende Beweiswürdigung vor.
Zusammensetzung und Arbeitsweise
Der Gemeinsame Senat ist ein ad hoc zusammentretendes Gremium. Seine Besetzung und sein Verfahren sind auf effiziente, ausgewogene und transparent nachvollziehbare Entscheidungen ausgerichtet.
Mitglieder und Vorsitz
Dem Gemeinsamen Senat gehören die Präsidentinnen oder Präsidenten der beteiligten obersten Gerichtshöfe sowie weitere, von diesen Gerichten entsandte Mitglieder an. Den Vorsitz führt die Präsidentin oder der Präsident des Bundesgerichtshofs. Welche weiteren Mitglieder teilnehmen, richtet sich nach der betroffenen Materie und der Beteiligung der jeweiligen Gerichtszweige.
Einberufung und Verfahren
Ein oberster Gerichtshof legt dem Gemeinsamen Senat eine klar formulierte Rechtsfrage vor. Das Verfahren ist auf die Klärung dieser Frage zugeschnitten: Die beteiligten Gerichte nehmen Stellung, es kann eine mündliche Verhandlung stattfinden, und am Ende steht eine schriftlich begründete Entscheidung. Die Entscheidung ergeht mehrheitlich.
Entscheidungswirkung
Die Antwort des Gemeinsamen Senats bindet das vorlegende Gericht in der vorgelegten Rechtsfrage. Für die übrigen obersten Gerichtshöfe entfaltet sie eine starke Leitwirkung und wird regelmäßig beachtet, um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten. Der Ausgangsrechtsstreit wird vom vorlegenden Senat unter Anwendung der geklärten Rechtsauffassung fortgeführt.
Bedeutung in der Rechtsordnung
Der Gemeinsame Senat hat eine Schlüsselfunktion im Gefüge der Fachgerichtsbarkeiten. Er sorgt dafür, dass gleichartige Sachverhalte im Bundesrecht über alle Gerichtszweige hinweg möglichst einheitlich behandelt werden.
Wahrung der Rechtseinheit
Durch seine Entscheidungen verhindert der Gemeinsame Senat dauerhafte Parallelentwicklungen in der Auslegung desselben Bundesrechts. Damit stärkt er Verlässlichkeit, Voraussehbarkeit und Gleichbehandlung im Rechtssystem.
Verhältnis zu Verfassungsgerichtsbarkeit und EU-Recht
Der Gemeinsame Senat entscheidet allein Fragen des einfachen Bundesrechts. Verfassungsrechtliche Konflikte werden durch das Bundesverfassungsgericht geklärt. Fragen zum Unionsrecht werden durch die zuständigen Gerichte im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgelegt. Der Gemeinsame Senat ersetzt diese Mechanismen nicht, sondern ergänzt sie auf nationaler Ebene.
Abgrenzungen zu ähnlichen Gremien
Große Senate der Fachgerichte
Innerhalb eines einzelnen obersten Gerichtshofs existieren teilweise eigene Große Senate, die innergerichtliche Abweichungen zwischen verschiedenen Fachsenaten dieses Gerichts bereinigen. Der Gemeinsame Senat greift demgegenüber erst bei Abweichungen zwischen unterschiedlichen obersten Gerichtshöfen ein.
Plenum des Bundesverfassungsgerichts
Beim Bundesverfassungsgericht dient das Plenum der Vereinheitlichung zwischen dessen Senaten. Das Bundesverfassungsgericht ist kein Teil des Gemeinsamen Senats; es agiert in einem getrennten verfassungsrechtlichen Kompetenzbereich.
Transparenz und Praxis
Seltenheit und Publizität
Der Gemeinsame Senat wird selten angerufen. Das ist ein Hinweis auf die grundsätzlich abgestimmte Rechtsprechungspraxis der obersten Gerichtshöfe. Seine Entscheidungen werden veröffentlicht und entfalten dadurch systembildende Wirkung.
Typische Fallkonstellationen
Häufige Anlässe sind Abweichungen bei der Auslegung von Begriffen, die in verschiedenen Rechtsgebieten gleich verwendet werden, oder die Klärung, welcher Gerichtszweig eine bestimmte Materie abschließend beurteilen soll. Auch die Zuordnung neuartiger Sachverhalte zu einem Gerichtszweig kann Anlass zur Befassung sein.
Häufig gestellte Fragen
Was ist der Gemeinsame Senat?
Der Gemeinsame Senat ist ein gemeinsames Gremium der obersten Gerichtshöfe des Bundes. Er klärt grundsätzliche Rechtsfragen, wenn diese von verschiedenen höchstrangigen Fachgerichten unterschiedlich beantwortet werden, und sorgt so für einheitliche Anwendung des Bundesrechts.
Wann wird der Gemeinsame Senat angerufen?
Er wird angerufen, wenn ein oberster Gerichtshof in einer Rechtsfrage von der Rechtsprechung eines anderen obersten Gerichtshofs abweichen will oder wenn unklar ist, welcher Gerichtszweig für eine Materie zuständig ist. Voraussetzung ist, dass die Divergenz tatsächlich fortbesteht und sich nicht innergerichtlich bereinigen lässt.
Wer darf den Gemeinsamen Senat anrufen?
Nur die obersten Gerichtshöfe des Bundes können den Gemeinsamen Senat anrufen. Einzelne Parteien eines Rechtsstreits haben keinen unmittelbaren Zugang; sie können eine Anrufung nicht beantragen.
Entscheidet der Gemeinsame Senat den gesamten Rechtsstreit?
Nein. Er beantwortet allein die vorgelegte abstrakte Rechtsfrage. Der konkrete Rechtsstreit wird anschließend vom vorlegenden Gericht unter Beachtung der Antwort des Gemeinsamen Senats entschieden.
Sind die Entscheidungen des Gemeinsamen Senats verbindlich?
Die Entscheidung bindet das vorlegende Gericht in der konkreten Rechtsfrage. Für andere oberste Gerichtshöfe hat sie starke Leitwirkung und wird zur Wahrung der Rechtseinheit regelmäßig befolgt.
Wie oft tagt der Gemeinsame Senat?
Er tagt selten. Die meisten Divergenzen werden durch innergerichtliche Abstimmung oder Anpassung der Rechtsprechung gelöst. Die seltenen Entscheidungen haben dafür erhöhtes Gewicht.
Worin liegt der Unterschied zum Bundesverfassungsgericht?
Der Gemeinsame Senat klärt Fragen des einfachen Bundesrechts zwischen verschiedenen Fachgerichtsbarkeiten. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über verfassungsrechtliche Fragen. Beide Gremien haben getrennte Aufgaben und Zuständigkeiten.
Ist die Verhandlung vor dem Gemeinsamen Senat öffentlich?
Die Beratung ist nicht öffentlich; eine mündliche Verhandlung kann stattfinden und wird grundsätzlich öffentlich geführt. Die Entscheidung wird schriftlich begründet veröffentlicht.