Begriff und Definition von Geh- und Stehbehinderungen
Geh- und Stehbehinderungen sind rechtlich definierte Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit, welche insbesondere das selbstständige Gehen oder Stehen dauerhaft oder vorübergehend beeinträchtigen. Diese Behinderungen werden im deutschen Recht zahlreichen Bestimmungen zugeordnet, um sozialen Ausgleich und Teilhabe zu gewährleisten. Die relevanten Definitionen finden sich hauptsächlich im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX), in der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) sowie in spezialgesetzlichen Regelungen wie dem Straßenverkehrsrecht.
Im rechtlichen Sinne liegt eine Geh- und Stehbehinderung vor, wenn die Fähigkeit der betroffenen Person, an öffentlichen Orten zu gehen oder zu stehen, durch Krankheit, Unfallfolgen oder angeborene Einschränkungen wesentlich beeinträchtigt ist. Dabei spielt der Grad der Behinderung (GdB) gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX eine zentrale Rolle.
Gesetzliche Grundlagen
Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe
Das SGB IX bildet die übergeordnete Rechtsgrundlage zur Erfassung und Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in Deutschland. Es legt die Anforderungen an die Feststellung von Behinderungen sowie an die Bereitstellung von Nachteilsausgleichen fest. Der Begriff „Geh- und Stehbehinderungen” wird im Kontext der Leistungsgewährung und der Feststellung von Merkmalen für Nachteilsausgleiche, insbesondere für das Merkzeichen „G”, konkretisiert (§ 228 Abs. 1 SGB IX).
Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)
Die VersMedV und die hierin enthaltenen Versorgungsmedizinischen Grundsätze konkretisieren die rechtlichen Vorgaben zur Feststellung des Grades der Behinderung. Die Beurteilung der Geh- und Stehbehinderung richtet sich nach den Auswirkungen der Einschränkung auf die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. In Anhang zu § 2 VersMedV werden Kriterien für das Vorliegen der Merkzeichen „G”, „aG” (außergewöhnliche Gehbehinderung) und „B” (Begleitung) definiert.
Feststellung und Nachweis
Grad der Behinderung (GdB)
Für die Feststellung einer Geh- und Stehbehinderung wird der Grad der Behinderung gemäß § 152 SGB IX in Verbindung mit der VersMedV bewertet. Ein GdB von mindestens 50 gilt als Kriterium für die Annahme einer Schwerbehinderung. Für Nachteilsausgleiche, wie das Merkzeichen „G”, ist jedoch maßgeblich, dass die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist – unabhängig vom Gesamt-GdB.
Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis
Im deutschen Schwerbehindertenausweis werden folgende Merkzeichen vergeben, sofern die Voraussetzungen für eine Geh- und Stehbehinderung erfüllt sind:
- G: Erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr
- aG: Außergewöhnliche Gehbehinderung
- B: Notwendigkeit der ständigen Begleitung
Die Zuerkennung erfolgt nach Einzelfallprüfung durch die zuständige Behörde (in der Regel das Versorgungsamt) und ist an spezifische medizinische Anforderungen geknüpft.
Rechtliche Auswirkungen und Nachteilsausgleiche
Parkerleichterungen
Menschen mit anerkannten Geh- und Stehbehinderungen erhalten je nach Merkzeichen verschiedene Parkerleichterungen gemäß § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO, die in der Ausnahmegenehmigung enthalten sind:
- Parkerleichterungen für außergewöhnlich Gehbehinderte (aG): Anspruch auf einen Behindertenparkausweis (blauer Parkausweis), der das Parken auf Behindertenparkplätzen sowie weitere Ausnahmen vom allgemeinen Halte- und Parkverbot ermöglicht.
- Erhebliche Gehbehinderung (G): Möglichkeit zur Beantragung des orangefarbenen Parkausweises („bundesweiter Parkausweis”), dessen Rechte jedoch eingeschränkt sind.
Steuervorteile und finanzielle Entlastungen
Personen mit Geh- und Stehbehinderungen werden finanzielle Erleichterungen in Form von Steuervergünstigungen gewährt, wie beispielsweise der Pauschbetrag gemäß § 33b Einkommensteuergesetz (EStG) oder Vergünstigungen bei der Kraftfahrzeugsteuer durch die Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO).
* Voraussetzungen: Nachweis der Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis
* Umfang: Steuerermäßigung für außergewöhnliche Belastungen, Nachlass oder Befreiung von der Kfz-Steuer
Sozialrechtliche Rechte und Teilhabe
Mit Feststellung einer Geh- und Stehbehinderung eröffnen sich Ansprüche auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur sozialen Teilhabe (zum Beispiel Kostenübernahmen für Mobilitätshilfen gemäß § 49 SGB IX) und Anspruch auf barrierefreie Gestaltung öffentlicher Einrichtungen (§ 4 Behindertengleichstellungsgesetz).
Rechtsprechung und Verwaltungspraxis
Die deutsche Sozialgerichtsbarkeit hat das Merkmal der erheblichen oder außergewöhnlichen Gehbehinderung in mehreren Grundsatzurteilen konkretisiert. Maßgeblich ist die Fähigkeit, sich im Straßenverkehr ohne erhebliche Erschwernisse oder Gefahren zu bewegen. Die Einschränkung wird nicht nur anhand medizinischer Diagnosen, sondern vorrangig anhand der Auswirkung auf die konkrete Mobilität bewertet (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 – B 9 SB 7/01 R).
Eine wesentliche Gehbehinderung ist unter anderem dann gegeben, wenn die betroffene Person nicht ohne erhebliche Pause eine Strecke von etwa zwei Kilometern in zumutbarer Zeit zu Fuß zurücklegen kann.
Die Versorgungsverwaltungen wenden in der prüfenden Praxis die Vorgaben der VersMedV und die hierzu ergangene aktuelle Rechtsprechung an.
Übersicht: Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Wer entscheidet über das Vorliegen einer Geh- und Stehbehinderung?
Die zuständige Behörde (Versorgungsamt) nach Antrag und medizinischer Begutachtung.
Gibt es Fristen für die Antragstellung?
Die Antragstellung ist jederzeit möglich. Die Leistungen und Nachteilsausgleiche wirken ab dem Monat des Antragseingangs.
Können Hilfsmittel berücksichtigt werden?
Ja, der Grad der Behinderung wird unter Berücksichtigung von Hilfsmitteln festgestellt, sofern diese dauerhaft benutzt werden.
Literatur und weiterführende Vorschriften
- Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)
- Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)
- Einkommensteuergesetz (EStG)
- Straßenverkehrs-Ordnung (StVO)
- Behindertengleichstellungsgesetz (BGG)
Zusammenfassung
Geh- und Stehbehinderungen sind rechtlich umfassend geregelt und betreffen insbesondere die sozialen Nachteilsausgleiche, die Mobilität und die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Die gesetzliche Definition, die Feststellungsvoraussetzungen und die damit verbundenen Nachteilsausgleiche sind im deutschen Recht sorgfältig ausdifferenziert. Für Betroffene ist es entscheidend, passende Anträge zu stellen und die erforderlichen Nachweise zu erbringen, um die zustehenden Rechte und Vorteile wahrzunehmen.
Häufig gestellte Fragen
Welche Ansprüche auf Nachteilsausgleiche bestehen bei Geh- und Stehbehinderungen?
Personen mit einer Geh- und Stehbehinderung haben in Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf verschiedene Nachteilsausgleiche, die gesetzlich im Sozialgesetzbuch (insbesondere SGB IX, SGB XII und SGB V) geregelt sind. Zu diesen Ansprüchen gehören zum Beispiel Steuererleichterungen (z. B. Pauschbeträge bei der Einkommenssteuer), unentgeltliche oder vergünstigte Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr (sog. Merkzeichen „G”, „aG” oder „H” im Schwerbehindertenausweis), Befreiung von der Kfz-Steuer sowie spezielle Parkberechtigungen (Behindertenparkplatz). Darüber hinaus können auch Ansprüche auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Hilfsmittelversorgung und Wohnumfeldverbessernde Maßnahmen bestehen, sofern die rechtlichen Voraussetzungen vorliegen (etwa ein anerkannter Grad der Behinderung oder ein entsprechendes Merkzeichen im Behindertenausweis).
Welche Voraussetzungen müssen für die Zuerkennung eines Merkzeichens wie „G” oder „aG” im Schwerbehindertenausweis erfüllt sein?
Die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Merkzeichens im Schwerbehindertenausweis sind im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) sowie in der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) geregelt. Das Merkzeichen „G” (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) setzt voraus, dass die Person infolge ihrer Geh- und Stehbehinderung dauerhaft in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich eingeschränkt ist. Hingegen erfordert das Merkzeichen „aG” (außergewöhnliche Gehbehinderung) eine besonders schwere Beeinträchtigung der Gehfähigkeit, sodass ein selbständiges Fortbewegen auch mit Hilfsmitteln auf kürzesten Wegen nicht oder nur unter größten Anstrengungen möglich ist. Die Entscheidung erfolgt durch die zuständige Versorgungsverwaltung auf Basis eines ärztlichen Gutachtens.
Welche Rechte bestehen hinsichtlich barrierefreier Gestaltung von Arbeitsplätzen?
Nach den Vorgaben des SGB IX und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) besteht für Arbeitgeber die gesetzliche Verpflichtung, Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen, insbesondere mit Geh- und Stehbehinderungen, barrierefrei auszugestalten. Dies umfasst Umbaumaßnahmen zur Beseitigung baulicher Hindernisse, die Bereitstellung von Hilfsmitteln sowie gegebenenfalls die Anpassung von Arbeitsabläufen. Menschen mit anerkannten Geh- und Stehbehinderungen haben einen rechtsverbindlichen Anspruch darauf, dass erforderliche und angemessene Vorkehrungen getroffen werden, sofern dies für die Wahrnehmung des Arbeitsplatzes notwendig ist und keine unverhältnismäßige Belastung für den Arbeitgeber entsteht.
Welche Ansprüche auf Hilfsmittelversorgung bestehen bei einer Geh- und Stehbehinderung?
Geh- und Stehbehinderten steht gemäß § 33 SGB V sowie § 31 SGB IX ein Anspruch auf die Versorgung mit notwendigen Hilfsmitteln zu. Dieser Anspruch bezieht sich auf Hilfsmittel, die erforderlich sind, um die Behinderung auszugleichen (z. B. Rollstühle, Gehhilfen), eine drohende Behinderung zu verhindern oder die Pflege zu erleichtern. Die Kosten für medizinisch notwendige Hilfsmittel werden in der Regel von der gesetzlichen Krankenversicherung oder ggf. vom Träger der Eingliederungshilfe übernommen, nachdem die ärztliche Verordnung vorliegt und eine Prüfung auf Wirtschaftlichkeit, Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit erfolgt ist.
Welche Rechte bestehen bei der Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs?
Personen mit anerkannter Geh- und Stehbehinderung und entsprechenden Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis haben nach § 145 SGB IX Anspruch auf unentgeltliche oder ermäßigte Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr. Dies wird durch die sogenannten Wertmarken geregelt, die beim Versorgungsamt beantragt werden können. Mit Merkzeichen „G” oder „aG” besteht zudem ein Anspruch auf barrierefreie Zugänglichkeit zu Verkehrsmitteln. Betreiber des öffentlichen Personenverkehrs sind nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und dem Personenbeförderungsgesetz (PBefG) verpflichtet, Barrierefreiheit weitestgehend herzustellen.
Welche steuerlichen Vergünstigungen sind für Menschen mit Geh- und Stehbehinderungen vorgesehen?
Gemäß § 33b EStG (Einkommensteuergesetz) und den entsprechenden Anlageverordnungen können Menschen mit Geh- und Stehbehinderung steuerliche Vergünstigungen geltend machen. Insbesondere steht ein Behinderten-Pauschbetrag zu, dessen Höhe sich nach dem Grad der Behinderung richtet. Das Vorliegen eines Merkzeichens „G”, „aG” oder „H” im Schwerbehindertenausweis kann darüber hinaus zur Inanspruchnahme weiterer Vergünstigungen führen, etwa bei der Kraftfahrzeugsteuer (befreit oder ermäßigt nach § 3a KraftStG) oder der Berücksichtigung außergewöhnlicher Belastungen (z. B. Fahrtkosten zu notwendigen Arztbesuchen).
Wie kann gegen eine Ablehnung gesetzlicher Leistungen wegen einer Geh- und Stehbehinderung Widerspruch eingelegt werden?
Sofern Leistungen (z. B. Merkzeichen, Hilfsmittel, Nachteilsausgleiche) aufgrund einer Geh- und Stehbehinderung durch eine zuständige Behörde abgelehnt werden, besteht für Betroffene das Recht, Widerspruch gegen den Bescheid einzulegen. Die Frist hierfür beträgt in der Regel einen Monat ab Zugang des Bescheids. Der Widerspruch muss schriftlich und begründet erfolgen; gegebenenfalls sollte medizinisches Zusatzmaterial beigefügt werden. Wird dem Widerspruch nicht abgeholfen, kann vor dem zuständigen Sozialgericht Klage erhoben werden. Alle Rechtsbehelfe richten sich nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuchs, insbesondere SGB X und SGG (Sozialgerichtsgesetz).