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Freistellungsverordnungen der EU


Freistellungsverordnungen der EU

Begriff und Bedeutung

Freistellungsverordnungen der Europäischen Union (EU) sind normative Rechtsakte im Bereich des europäischen Wettbewerbsrechts. Sie dienen der Regelung, unter welchen Bedingungen bestimmte Vereinbarungen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die nach Art. 101 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) grundsätzlich verboten sind, durch Verordnung vom Verbot ausgenommen („freigestellt”) werden können. Ziel ist die Förderung von Wettbewerbsfähigkeit, Effizienz und Innovation, ohne die Kontrolle über wettbewerbsbeschränkende Praktiken zu verlieren.

Im Mittelpunkt stehen sogenannte Gruppenfreistellungsverordnungen, die bestimmte Kategorien horizontaler und vertikaler Vereinbarungen pauschal vom Kartellverbot ausnehmen, sofern sie die in der Verordnung genannten Voraussetzungen erfüllen.

Rechtsgrundlagen und Systematik

Primärrechtliche Grundlage

Die wesentliche Rechtsgrundlage bildet Art. 101 AEUV. Während Abs. 1 Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und abgestimmte Verhaltensweisen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen und eine Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken, untersagt, sieht Abs. 3 Ausnahmen vor. Gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV können Vereinbarungen und Verhaltensweisen, die zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen, unter bestimmten Bedingungen zugelassen werden.

Sekundärrecht: Ermächtigung der Kommission

Auf Grundlage von Art. 103 AEUV ist die Europäische Kommission ermächtigt, durch Verordnungen bestimmte Gruppen von Vereinbarungen vom allgemeinen Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV auszunehmen (Gruppenfreistellung). Die erlassenen Freistellungsverordnungen konkretisieren so die Anwendung des Kartellverbots und bringen Rechtssicherheit für die Praxis.

Typen der Freistellungsverordnungen

Gruppenfreistellungsverordnungen

Gruppenfreistellungsverordnungen (Block Exemption Regulations, BER) regeln standardisierte Freistellungen für bestimmte Kategorien von Vereinbarungen. Bekannte Beispiele sind:

  • Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (Vertikal-GVO): (VO (EU) 2022/720, früher VO (EU) 330/2010) – bezogen auf Vertriebsverträge, Franchise und andere vertikale Beziehungen zwischen Marktteilnehmern auf verschiedenen Handelsstufen.
  • Kfz-Gruppenfreistellungsverordnung (Kfz-GVO): (VO (EU) 461/2010) – speziell für Vereinbarungen im Kraftfahrzeugsektor.
  • Forschungs- und Entwicklungs-Gruppenfreistellungsverordnung: (VO (EU) 2023/1066) – für F&E-Kooperationen.
  • Technologietransfer-Gruppenfreistellungsverordnung (TT-GVO): (VO (EU) 316/2014) – für Technologietransfer-Lizenzvereinbarungen.
  • Spezialisierungs-Gruppenfreistellungsverordnung: (VO (EU) 2023/1067) – für Produktions- und Spezialisierungsvereinbarungen unter Unternehmen.

Einzelanwendungen

Daneben besteht weiterhin die Möglichkeit, dass die Europäische Kommission eine Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV erteilt, wenn die spezifischen Voraussetzungen vorliegen. Diese Einzelfreistellung kommt jedoch in der Praxis seltener vor, seit die Gruppenfreistellungsverordnungen umfassende Bereiche abdecken und die Eigenverantwortlichkeit der Unternehmen durch das sog. Legalausnahmeprinzip (Self-Assessment) gestärkt wurde.

Voraussetzungen und Wirkungen

Tatbestandliche Voraussetzungen

Die Anwendung einer Freistellungsverordnung setzt voraus, dass eine Vereinbarung oder ein Verhalten nach Art. 101 Abs. 1 AEUV grundsätzlich verboten ist, aber unter den Anwendungsbereich der jeweiligen Freistellungsverordnung fällt und alle in dieser Verordnung statuierten Bedingungen einhält, z.B. Höchstmarktanteilsschwellen, keine Kernbeschränkungen (sog. „Hardcore-Beschränkungen”) enthält und etwaige weitere Vorgaben (z.B. Offenlegungspflichten) erfüllt.

Wirkungen der Freistellung

Die Erfüllung der Voraussetzungen bewirkt, dass das Kartellverbot auf die jeweilige Vereinbarung oder das Verhalten nicht anwendbar ist und somit keine Sanktionen oder Untersagungen drohen. Unternehmen erhalten Rechtssicherheit in der Vertragsgestaltung und müssen keine individuelle Untersagungs- oder Freistellungsentscheidung der Kommission abwarten.

Wird gegen Bedingungen oder Verbote der Verordnung verstoßen, verliert die Vereinbarung die Freistellungswirkung ex tunc (von Anfang an). Soweit nationale Wettbewerbsbehörden oder die Kommission feststellen, dass in bestimmten Einzelfällen die Voraussetzungen nicht erfüllt sind, kann die Freistellung auch rückwirkend widerrufen werden.

Regelungsinhalte der Freistellungsverordnungen

Freistellungsverordnungen enthalten typischerweise folgende Elemente:

  • Geltungsbereich: Präzisierung, welche Vereinbarungen oder Verhaltensweisen erfasst werden.
  • Marktanteilsschwellen: Die Freistellung gilt nur, solange die beteiligten Marktteilnehmer bestimmte Marktanteilsgrenzen (z.B. 30 %) nicht überschreiten.
  • Kernbeschränkungen (Hardcore-Restriktionen): Einige Beschränkungen (z.B. Preisabsprachen, Gebietsabsprachen) sind stets vom Schutz ausgeschlossen und führen zum Verlust der Freistellung.
  • Bedingungen und Qualitätsanforderungen: Weitere Voraussetzungen, u.a. Informationspflichten, Transparenzauflagen oder bestimmte Verhaltensmaßregeln.
  • Entzugsklauseln: Möglichkeit für Kommission oder nationale Behörden, die Freistellung in Einzelfällen zu widerrufen.

Entwicklung und Anpassung

Freistellungsverordnungen werden periodisch überprüft und modernisiert, um sie an Entwicklungen der Märkte, der Rechtsprechung und der ökonomischen Theorie anzupassen (sog. Modernisierung des Wettbewerbsrechts). So wurden etwa seit 2010 Änderungen vorgenommen, um Digitalisierungsprozesse und Innovationen insbesondere im Vertrieb, Lizenzierung und bei Kooperationen besser abzubilden.

Verhältnis zum nationalen Recht

Freistellungsverordnungen entfalten unmittelbar Wirkung in den Mitgliedstaaten (Art. 288 AEUV). Sie setzen für nationale Wettbewerbsbehörden und Gerichte verbindliche Auslegungsmaßstäbe. Nationale Regelungen müssen dabei grundsätzlich in Einklang mit europäischen Vorgaben stehen und dürfen die Anwendung des Unionsrechts nicht unterlaufen oder behindern.

Bedeutung für die Unternehmenspraxis

Freistellungsverordnungen bieten Unternehmen wichtige Leitlinien für die zulässige Gestaltung von Vertrags- und Kooperationsbeziehungen innerhalb des Binnenmarkts. Sie ermöglichen effiziente, wettbewerbsfördernde Vereinbarungen, bieten Rechtssicherheit und reduzieren die Komplexität von Notifizierungs- und Genehmigungsverfahren.

Relevante Rechtsakte (Auswahl)

  • Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (VO (EU) 2022/720)
  • Forschungs- und Entwicklungs-Gruppenfreistellungsverordnung (VO (EU) 2023/1066)
  • Spezialisierungs-Gruppenfreistellungsverordnung (VO (EU) 2023/1067)
  • Technologietransfer-Gruppenfreistellungsverordnung (VO (EU) 316/2014)
  • Kraftfahrzeuggruppenfreistellungsverordnung (VO (EU) 461/2010)

Literatur und Weblinks

  • Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (insb. Art. 101 und 103 AEUV)
  • Offizielle Webseiten der Europäischen Kommission zum Wettbewerbsrecht (ec.europa.eu/competition/antitrust/legislation)
  • Leitlinien und Mitteilungen der Kommission zu Art. 101 AEUV und den Freistellungsverordnungen

Hinweis: Die Angaben spiegeln den Stand der Gesetzgebung und Praxis bis Juni 2024 wider. Anpassungen durch spätere Änderungen der Rechtslage oder ergänzende Leitlinien der Kommission sind möglich.

Häufig gestellte Fragen

Wann und wie finden Freistellungsverordnungen der EU Anwendung?

Freistellungsverordnungen der EU, insbesondere im Kartellrecht, kommen immer dann zur Anwendung, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen, die eine Gruppenfreistellung von dem in Art. 101 Abs. 1 AEUV normierten Kartellverbot rechtfertigen. Die Anwendung setzt voraus, dass ein konkretes Abkommen, eine Entscheidung von Unternehmensvereinigungen oder eine abgestimmte Verhaltensweise grundsätzlich unter das Kartellverbot fällt, aber die Vereinbarung einer der in den jeweils maßgeblichen Freistellungsverordnungen definierten Kategorien (z.B. Vertikal- oder Horizontalkooperationen) zugeordnet werden kann. Die Unternehmen müssen die jeweiligen Bedingungen vollumfänglich einhalten – dazu zählen etwa Marktanteilsschwellen, Klauseln zu unerlaubten Kernbeschränkungen und spezifische Anforderungen an Preisbindungen und Exklusivitätsvereinbarungen. Die Anwendung erfolgt grundsätzlich durch Selbstbeurteilung der Unternehmen, die jedoch stets dem Risiko einer nachträglichen Kontrolle und gegebenenfalls Sanktionierung durch die Europäische Kommission oder nationale Kartellbehörden unterliegt.

Welche Rolle spielen Marktanteilsschwellen in den EU-Freistellungsverordnungen?

Marktanteilsschwellen sind ein zentrales Element sämtlicher Freistellungsverordnungen der EU, da sie den Anwendungsbereich und damit die automatische Anwendbarkeit der Gruppenfreistellung begrenzen. Sie dienen der Sicherstellung, dass nur solche Vereinbarungen freigestellt werden, bei denen nach Auffassung des Gesetzgebers keine relevante Beeinträchtigung des Wettbewerbs zu erwarten ist. Beispielsweise darf beim Vertrieb gemäß der Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (VO 2022/720) der Marktanteil der beteiligten Unternehmen in aller Regel 30 % nicht übersteigen. Liegt der Marktanteil über dieser Grenze, findet die Freistellungsverordnung keine Anwendung mehr. Unternehmen verlieren in diesem Fall die Gruppenfreistellung und müssten ihre Vereinbarung einer Einzelfreistellungsprüfung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV unterziehen.

Inwieweit haben nationale Gerichte und Kartellbehörden Einfluss auf die Auslegung von Freistellungsverordnungen?

Nationale Gerichte und Kartellbehörden haben eine wichtige Funktion bei der Durchsetzung und Auslegung der Freistellungsverordnungen, wenngleich die alleinige Auslegungsbefugnis dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und der Europäischen Kommission zusteht. In der Praxis wenden die nationalen Instanzen die Verordnungen eigenständig an und können insbesondere bei Verdacht auf Missbrauch, Überschreitung von Marktanteilsschwellen oder Vorliegen von Kernbeschränkungen Verfahren einleiten. Im Rahmen anhängiger Verfahren sind sie verpflichtet, relevante Unionsnormen – und damit auch Freistellungsverordnungen – auszulegen und anzuwenden. Im Zweifel haben sie die Möglichkeit (und teilweise die Pflicht), im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV eine verbindliche Auslegung durch den EuGH herbeizuführen.

Welche Folgen hat die Nichteinhaltung einzelner Bestimmungen einer Freistellungsverordnung?

Die Nichteinhaltung von Bedingungen oder Verboten einer Freistellungsverordnung führt nach dem sogenannten Trennbarkeitsgrundsatz zur (teilweisen oder vollständigen) Aberkennung der Freistellung. Sind insbesondere sog. Kernbeschränkungen (z.B. Preisabsprachen, Gebiets- oder Kundengruppenaufteilungen) Bestandteil der Vereinbarung, gilt die Gruppenfreistellung für die gesamte Vereinbarung nicht. Unzulässige Klauseln führen somit entweder zur Unwirksamkeit der Gesamtheit der Kartellabsprache oder – sofern sie trennbar sind – nur zur Unwirksamkeit der betreffenden Teile. Darüber hinaus drohen Bußgelder und weiterer kartellrechtlicher Prüfaufwand, da die Vereinbarung dann an Art. 101 Abs. 1 AEUV zu messen und einer etwaigen Einzelfreistellung zu unterziehen wäre.

Wie erfolgt die Kontrolle der Einhaltung von Freistellungsverordnungen in der Praxis?

Die Einhaltung der Bestimmungen der Freistellungsverordnungen wird von den Wettbewerbsbehörden sowohl auf Ebene der Europäischen Kommission als auch national (z.B. durch das Bundeskartellamt) kontrolliert. Die Praxis sieht hierzu regelmäßige Marktanalysen, stichprobenartige Überprüfungen sowie die Verfolgung von Hinweisen aus Unternehmen oder von Marktteilnehmern vor. Unternehmen tragen selbst die Darlegungs- und Beweislast für die Einhaltung der Voraussetzungen der jeweiligen Freistellungsverordnung, insbesondere bei einer behördlichen Prüfung oder im Falle eines Kartellverfahrens. Wird ein Verstoß festgestellt, kann die betreffende Vereinbarung rückwirkend für nichtig erklärt werden, verbunden mit erheblichen finanziellen Sanktionen.

Welche typische Laufzeiten und Evaluationsmechanismen haben Freistellungsverordnungen der EU?

Freistellungsverordnungen sind grundsätzlich zeitlich befristet und sehen regelmäßige Evaluierungen durch die Europäische Kommission vor. Die Laufzeit beträgt üblicherweise 10 bis 12 Jahre, wobei Verlängerungen oder Änderungen nach Durchführung von Konsultations- und Evaluationsverfahren möglich sind. Im Rahmen dieser Überprüfungen werden die Effizienz, Wettbewerbswirkungen und Marktveränderungen umfassend analysiert, und die Verordnungen werden gegebenenfalls angepasst, aufgehoben oder durch neue ersetzt, um sie an den aktuellen Stand des Binnenmarktes und der Wettbewerbspolitik anzupassen.

Gibt es Übergangsregelungen bei Änderung oder Außerkrafttreten von Freistellungsverordnungen?

Wenn eine bestehende Freistellungsverordnung geändert oder aufgehoben wird, sieht die EU üblicherweise klar definierte Übergangsregelungen vor. Diese geben Unternehmen eine bestimmte Frist – oft zwischen sechs Monaten und einem Jahr -, um ihre Vereinbarungen an die neuen Anforderungen anzupassen. In dieser Zeit bleiben bestehende Verträge entweder nach altem oder nach neuem Recht weiterhin freigestellt, je nach Regelung im Einzelfall. Ziel ist es, Rechtssicherheit und einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten. Versäumt ein Unternehmen die Anpassung innerhalb des Übergangszeitraums, verliert es die Freistellung rückwirkend und riskiert kartellrechtliche Sanktionen.