Begriff und Definition von Fiqh
Fiqh (arabisch: فقه, „Verstehen”, „Einsicht”) bezeichnet in der islamischen Rechtswissenschaft die Lehre vom islamischen Recht (Scharia) und bezieht sich auf dessen detaillierte Auslegung und Anwendung. Fiqh umfasst das Wissen um die islamischen Rechtsquellen, die Ableitung konkreter Rechtssätze sowie deren Systematisierung. Im engeren Sinne steht Fiqh für die menschliche Rechtsfindung innerhalb der Grundprinzipien der Scharia, deren göttlichen Ursprung sie durch methodische Interpretation zu präzisieren und anwendbar zu machen versucht.
Historische Entwicklung und Quellen des Fiqh
Historische Entstehung
Fiqh entwickelte sich nach dem Tod des Propheten Mohammed aus dem Bedürfnis heraus, das islamische Regelwerk an sich verändernde Lebenswirklichkeiten und neue Sachverhalte anzupassen. Während die Scharia als Gesamtheit der göttlichen Normen unveränderbar gilt, ist Fiqh als menschliche Rechtswissenschaft geprägt von Interpretation, Weiterentwicklung und Vielfalt.
Rechtsquellen des Fiqh (Usul al-Fiqh)
Die Systematik des Fiqh stützt sich auf sogenannte Rechtsquellen, deren Bedeutung und Reihenfolge die islamischen Rechtsschulen festgelegt haben:
- Koran (Qur’an): Hauptquelle islamischer Normen, umfasst neben Glaubensinhalten auch grundlegende Rechtsvorschriften.
- Sunna: Handlungen, Aussprüche und Billigungen des Propheten Mohammed.
- Idscha’ (Konsens, Iǧmāʿ): Übereinstimmung der qualifizierten Gelehrten einer Epoche über eine Rechtsfrage.
- Qiyas (Analogieschluss): Vergleich eines neuen Sachverhalts mit bestehenden Normen anhand gemeinsamer Merkmale.
- Nebenzugriff auf weitere Methoden: Zum Beispiel der Gebrauch von „Istihsan” (Präferenzurteil), „Maslaha” (Nutzenabwägung) oder „Urf” (Gewohnheitsrecht), insbesondere in bestimmten Rechtsschulen.
Die Hauptströmungen und Rechtsschulen des Fiqh
Sunnitische Rechtsschulen
Vier herausragende sunnitische Rechtsschulen (Madhhab) prägen die Auslegung und Kodifizierung des Fiqh:
- Hanafitischer Fiqh: Geprägt von Logik und Rationalität, betont den Analogieschluss.
- Malikitischer Fiqh: Stützt sich insbesondere auf die Rechtsgewohnheiten der Einwohner von Medina (amal ahl al-Madina).
- Schafiitischer Fiqh: Strebt eine strikte Textgebundenheit an, differenziert zwischen starker und schwacher Sunna.
- Hanbalitischer Fiqh: Legt größten Wert auf wortgetreue Überlieferung.
Jede dieser Schulen hat das islamische Recht in unterschiedliche Einzelrechtsbereiche und Methoden modeliert.
Schiitische und weitere Schulen
Im schiitischen Raum, insbesondere im Zwölfer-Schiismus, ist die Dschafaritische Schule maßgeblich, die in Methoden und Normbildung eigene Wege verfolgt.
Systematik des Fiqh: Rechtsbereiche
Fiqh wird systematisch anhand verschiedener Rechtsgebiete erläutert:
1. Gottesdienste (Ibadat)
Dazu gehören Vorschriften zu:
- Gebet (Salat)
- Fasten (Saum)
- Pilgerfahrt (Haddsch)
- Zakat (Pflichtabgabe)
Dieser Teil regelt das Verhältnis des Menschen zu Gott.
2. Menschliche Beziehungen (Muamalat)
Der Großteil des Fiqh betrifft die Regelung von Rechtsbeziehungen unter Menschen, darunter:
- Zivilrecht (Eherecht, Kindschaftsrecht, Erbrecht)
- Vertragsrecht (Kauf, Miete, Pacht)
- Sachenrecht
- Strafrecht (Hadd-, Qisas-, Ta’zir-Delikte)
- Prozessrecht (Gerichtsverfahren, Beweisrecht, Zeugenaussage)
3. Staats- und Verwaltungsrecht
Fiqh behandelt darüber hinaus Normen zur Führung und Struktur des Gemeinwesens (Siyasa), Handlungen des Herrschers, Steuerrecht (Kharadsch, Dschizya) und weitere öffentlich-rechtliche Fragen.
4. Ethik und Sittenrecht
Vorschriften über Moral, gutes Verhalten (Adab), Hygiene und Verbote (Haram, Makruh) sind ebenfalls Teil des Fiqh.
Methode und Systematik der Rechtsfindung (Ijtihad)
Ijtihad – Die eigenständige Rechtsfindung
Ijtihad bezeichnet die methodengeleitete Anstrengung, neue Rechtssätze aus den anerkannten Quellen zu erschließen. Dies setzt vertiefte Kenntnisse voraus und war öfters Gegenstand von Diskussionen über dessen Zulässigkeit (Schließung oder Offenheit des Ijtihad).
Taqlid – Bindung an bestehende Lehre
Als Gegenteil von Ijtihad steht der Taqlid, die Bindung an die Auslegung traditioneller Autoritäten und Rechtsschulen.
Fatawa (Rechtsgutachten)
Ein zentrales Werkzeug des Fiqh ist die Fatwa, ein begründetes Rechtsgutachten, das in einer konkreten Situation Orientierung gibt, rechtlich jedoch unverbindlich ist.
Die Bedeutung des Fiqh im heutigen Kontext
Fiqh bestimmt bis heute sowohl das persönliche als auch das kollektive religiöse und soziale Leben zahlreicher muslimischer Gemeinschaften. In vielen Ländern beeinflusst Fiqh das Familienrecht, Teile des Zivilrechts sowie Normen für das tägliche Miteinander. Die fortlaufende Diskussion über die Anpassung des Fiqh an neue gesellschaftliche Entwicklungen und technische Fortschritte ist ein wichtiges Merkmal seiner Anwendbarkeit und Dynamik.
Abgrenzung: Fiqh und Scharia
Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Scharia als dem göttlichen Idealrecht und Fiqh als dessen menschliche Auslegung und Anwendung. Während die Scharia als unveränderliche Norm über den Dingen steht, entwickelt und präzisiert Fiqh die erforderlichen Rechtssätze für konkrete Lebensverhältnisse.
Literatur und Weiterführende Links
- Quellen zum islamischen Recht
- Systematik der islamischen Rechtswissenschaft
- Vergleichende Darstellung der Rechtsschulen
Zusammenfassung:
Fiqh bildet das zentrale Methodengerüst und Regelwerk der islamischen Rechtswissenschaft. Es dient der Auslegung, Systematisierung und Anwendung göttlicher Normen auf das tägliche Leben. Das komplexe Zusammenspiel von Rechtsquellen, Rechtsschulen, Methoden der Rechtsfindung und aktuellen Herausforderungen macht den Fiqh zu einer der vielseitigsten Rechtsordnungen weltweit.
Häufig gestellte Fragen
Wie wird die Gültigkeit des Gebets (Salat) im Fiqh bewertet, wenn kleine Mengen von Unreinheiten (Nadschasa) auf der Kleidung oder dem Körper vorhanden sind?
Im islamischen Fiqh ist die Reinheit (Taharah) eine grundlegende Voraussetzung für die Gültigkeit des Gebets (Salat). Grundsätzlich gilt, dass Gebet ungültig ist, wenn sich Nadschasa (unreine Substanzen) auf der Kleidung, dem Körper oder dem Gebetsplatz befinden. Allerdings differenzieren die vier klassischen Rechtsschulen (Madhahib) hinsichtlich der Toleranz kleiner Mengen von Unreinheiten: Die Hanafiten und einige andere Gelehrte gestatten das Gebet, sofern die Menge der Nadschasa ein bestimmtes Maß nicht überschreitet – zum Beispiel darf bei festen Unreinheiten deren Ausmaß nicht über die Größe einer Münze (ungefähr 2,7 Zentimeter Durchmesser) hinausgehen; bei flüssigen Unreinheiten gelten maximal etwa 5 Milliliter als tolerabel. Diese Regelungen basieren auf Überlieferungen, in denen kleine unbewusste Mengen nicht als schwerwiegende Hemmnisse betrachtet werden. Die Malikiten, Schafi’iten und Hanbaliten betonen die vollständige Entfernung jeglicher Unreinheiten, wobei Ausnahmen nur in Fällen von Notwendigkeit, Ungewissheit oder Vergesslichkeit gemacht werden. Im Zweifelsfall wird geraten, die Stelle zu reinigen, um dem Ideal der Reinheit nachzukommen und die Gültigkeit des Gebets nicht zu gefährden.
Welche rechtlichen Regelungen gibt es im Fiqh zur Verrichtung des Gebets auf unreinem Boden?
Die Verrichtung des Gebets auf unreinem Untergrund ist im Fiqh grundsätzlich ungültig, es sei denn, die Unreinheit wird vom Betenden nicht bemerkt oder ist nicht zu vermeiden (zum Beispiel auf Reisen in einem Zug oder bei unfreiwilligem Kontakt mit Nadschasa). Im Normalfall schreibt die Scharia die Suche eines reinen Gebetsplatzes vor. Die Rechtsschulen unterscheiden hier zwischen sichtbarer und unsichtbarer Nadschasa: Ist die Unreinheit sichtbar und bekannt, muss der Ort gereinigt oder der Gebetsplatz gewechselt werden, bevor das Gebet vollzogen werden darf. Wurde die Unreinheit erst nach dem Gebet festgestellt, sind die Meinungen geteilt: Die Mehrheit der Rechtsschulen sieht das Gebet in diesem Fall als gültig an, da keine vorsätzliche Vernachlässigung der Pflicht zur Reinheit vorlag. Im Falle von Zweifeln ist es empfohlen, das Gebet nachzuholen, um die korrekte Umsetzung der Vorschriften sicherzustellen.
Ist es nach klassischem Fiqh erlaubt, Zakat an direkte Familienmitglieder zu geben?
Die Zahlung der Zakat an Familienmitglieder ist im Fiqh differenziert geregelt. Es ist nicht zulässig, Zakat an direkte, unterhaltspflichtige Angehörige zu geben, also an die eigenen Eltern, Großeltern sowie an die eigenen Kinder und Enkelkinder. Der Grund liegt darin, dass für diese Personen ohnehin eine religiöse Unterhaltspflicht (Nafaqah) besteht, die nicht über die Zakat, sondern aus eigenen Vermögen zu bestreiten ist. Ausnahmen bilden jedoch Geschwister, Onkel, Tanten und andere Verwandte, für die keine unterhaltspflichtige Beziehung gilt. An diese sowie an entferntere Verwandte oder Bedürftige außerhalb des direkten Unterhaltskreises kann Zakat gezahlt werden, vorausgesetzt, sie zählen zu den in Sure At-Tawba (9:60) festgelegten acht Empfängerkategorien. Ehegatten dürfen sich nach dem Fiqh nicht gegenseitig mit Zakat unterstützen, da gegenseitige Fürsorge ebenfalls zu den Basispflichten der Ehe gehört.
Welche Regelungen bestehen im Fiqh zur rituellen Waschung (Wudu) bei chronischer Krankheit (z. B. Inkontinenz)?
Personen, die unter einer chronischen Krankheit wie Inkontinenz, Nasenbluten, Fisteln oder anderen Leiden leiden, bei denen fortlaufend Unreinheit abgeht, gelten im Fiqh als „muʿdhar” (entschuldigter Zustand). Für sie legen die Rechtsschulen eine Ausnahme fest: Sie vollziehen die rituelle Waschung (Wudu) jeweils zu Beginn der Gebetszeit und bleiben für alle Gebete dieser Zeitperiode „rituell rein”, selbst wenn weiterhin Unreinheit austritt. Erst mit dem Eintritt der nächsten Gebetszeit muss Wudu wiederholt werden. Bedingung ist, dass Wudu erst dann vollzogen wird, wenn die Gebetszeit begonnen hat und das Leiden durchgehend während dieser Zeit anhält. Das Gebet wird dadurch rechtsgültig, und es besteht keine Pflicht, unter erschwerten Bedingungen die Austritte zu unterbinden, sofern dies unzumutbar ist.
Welche Regeln gibt es im Fiqh bei Konsum von Speisen und Getränken, deren erlaubter oder verbotener Status zweifelhaft ist?
Sollte ein Muslim in eine Situation geraten, in der unklar ist, ob eine Speise oder ein Getränk halal (erlaubt) oder haram (verboten) ist, empfiehlt der Fiqh, das Prinzip „Vorsicht bei Zweifelsfällen” (ihtiyat/war’) anzuwenden. Die Scharia rät dazu, das Konsumieren zweifelhafter Dinge (mashbuh) zu vermeiden, sofern keine Notwendigkeit oder unzumutbarer Nachteil besteht. Kann der rechtliche Status nicht abschließend geklärt werden und bestehen gleichwertige oder ausreichende Alternativen, so gilt der Grundsatz „Im Zweifel für das Erlaubte” nur dann, wenn alle Nachforschungen ausgeschöpft wurden. Bei Unwissenheit über die Ingredienzen besteht laut Hanafi- und Maliki-Rechtsschule dagegen eine gewisse Erleichterung: Was normalerweise als halal verkauft wird und keinen offensichtlichen Grund zur Beanstandung liefert, darf konsumiert werden. Bei bewusstem Risiko des Haram-Genusses ist Konsum dagegen untersagt.
Gibt es im Fiqh Unterschiede beim Vererben von Eigentum zwischen Söhnen und Töchtern?
Im klassischen Fiqh ist das Erbrecht (Faraid) ausführlich geregelt. Söhne und Töchter erhalten grundsätzlich beide einen Anteil am Erbe, allerdings ist die Aufteilung explizit im Koran geregelt: Ein männlicher Erbe (Sohn) erhält stets den doppelten Anteil einer weiblichen Erbin (Tochter). Dies spiegelt sich in der Koranstelle 4:11 wider: „Für den Sohn ist der gleiche Anteil wie für zwei Töchter.” Dieser Grundsatz gilt unabhängig von der Anzahl der Nachkommen. Die restliche Verteilung richtet sich nach der Anzahl der Erben und anderer erbfähiger Verwandter; unter bestimmten Umständen – etwa wenn nur eine Tochter erbt und keine Söhne, oder andere Teilempfänger wie Eltern vorhanden sind – ergeben sich Sonderregeln, die von den Gelehrten im Detail ausgeführt werden. Die Unterscheidung zielt auf die unterschiedlichen Unterhaltspflichten ab, die im Fiqh an Söhne und Töchter gestellt werden.