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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte


Begriffserklärung: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist ein internationales Gericht mit Sitz in Straßburg, das über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und ihrer Zusatzprotokolle wacht. Er wurde 1959 vom Europarat errichtet und ist ein wesentlicher Mechanismus zum Schutz der Menschenrechte, Grundfreiheiten und fundamentalen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit in Europa.


Gründung und Rechtsgrundlage

Historischer Hintergrund

Die Gründung des Gerichtshofs erfolgte im Zuge der Entwicklung des Europarats, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg für die Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten einsetzte. Die EMRK, die 1950 in Rom unterzeichnet wurde, bildet das rechtliche Fundament des Gerichtshofs.

Rechtliche Grundlage: Die Europäische Menschenrechtskonvention

Die Europäische Menschenrechtskonvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der die Vertragsstaaten (Mitglieder des Europarats) zur Achtung und Gewährleistung spezifischer Menschenrechte verpflichtet. Ihre Bestimmungen sind für alle Unterzeichnerstaaten bindend. Der EGMR ist das unabhängige Organ zur Überwachung und Durchsetzung der Konvention.


Aufgaben und Zuständigkeiten

Individual- und Staatenbeschwerden

Der EGMR prüft Beschwerden auf zwei Wege:

  1. Individualbeschwerde: Einzelpersonen, Personengruppen oder nichtstaatliche Organisationen können den Gerichtshof anrufen, wenn sie sich in ihren Konventionsrechten verletzt sehen.
  2. Staatenbeschwerde: Vertragsstaaten können eine Verletzung der Konvention durch einen anderen Vertragsstaat beim Gerichtshof rügen.

Prüfungsmaßstab

Die Konvention und ihre Protokolle bilden den verbindlichen Maßstab. Der Gerichtshof prüft, ob nationale Behörden oder Gerichte die in der EMRK festgeschriebenen Rechte verletzt haben, etwa das Recht auf Leben, Verbot der Folter, Recht auf Freiheit und Sicherheit, Recht auf ein faires Verfahren, Schutz des Privat- und Familienlebens sowie Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

Bindungswirkung der Urteile

Urteile des EGMR sind für die betroffenen Staaten rechtlich bindend. Die Umsetzung wird durch das „Committee of Ministers” des Europarats überwacht. Die Staaten sind zur Beseitigung konventionswidriger Zustände und ggf. zur Wiedergutmachung verpflichtet.


Organisation und Zusammensetzung des Gerichtshofs

Richterinnen und Richter

Der Gerichtshof besteht aus einer Anzahl von Richterinnen und Richtern, die der Anzahl der Mitgliedsstaaten der Konvention entspricht. Jeder Vertragsstaat stellt eine Richterin oder einen Richter. Die Amtszeit beträgt neun Jahre ohne Möglichkeit der Wiederwahl. Die Wahl erfolgt durch die Parlamentarische Versammlung des Europarats.

Richterliche Unabhängigkeit

Die Richterinnen und Richter sind in ihrer Amtsführung unabhängig und dürfen keine anderen Tätigkeiten ausüben, die die Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit beeinträchtigen könnten.

Kammern und Große Kammer

Der Gerichtshof ist in Kammern organisiert, die aus sieben Richtern bestehen. Besonders bedeutende oder komplexe Rechtssachen werden in der Großen Kammer (17 Richter) verhandelt. Letztinstanzliche oder grundsätzliche Fragen landen ebenfalls in der Großen Kammer.


Verfahrensablauf

Zulässigkeitsvoraussetzungen

Bevor der Gerichtshof eine Beschwerde prüft, müssen bestimmte Zulässigkeitskriterien erfüllt sein:

  • Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs: Alle wirksamen nationalen Rechtsbehelfe müssen genutzt worden sein.
  • Frist von 4 Monaten: Beschwerden sind innerhalb von vier Monaten nach der letztinstanzlichen inländischen Entscheidung einzureichen.
  • Keine Anonymität: Beschwerdeführer müssen identifizierbar sein.
  • Bedeutung der Beschwerde: Die Sache muss von ausreichendem Gewicht sein („erheblicher Nachteil”).

Verfahrensschritte

Das Verfahren beginnt mit einer schriftlichen Beschwerde. Im Vorverfahren werden Zulässigkeitsvoraussetzungen geprüft. Im Hauptverfahren werden die Parteien zu einer Stellungnahme aufgefordert, ggf. erfolgt eine öffentliche mündliche Verhandlung. Der Gerichtshof entscheidet durch Urteil.

Rechtskräftigkeit und Überwachung der Urteilsumsetzung

Urteile werden nach Ablauf einer dreimonatigen Frist rechtskräftig, sofern keine Überweisung an die Große Kammer beantragt wurde. Das Ministerkomitee des Europarats überwacht die Umsetzung der Urteile in den Vertragsstaaten.


Rechtswirkungen und Bedeutung

Rechtliche Bindung der Staaten

Staaten sind verpflichtet, rechtskräftige Urteile zu befolgen und innerstaatliche Gesetze und Praktiken anzupassen, um künftige Konventionsverletzungen zu verhindern.

Einfluss auf das nationale Recht

Die Rechtsprechung des EGMR wirkt sich direkt auf die nationalen Rechtsordnungen aus. Zahlreiche Staaten haben Gesetze reformiert oder Urteile höherer Gerichte geändert, um den Anforderungen der Konvention und der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entsprechen.


Kritik und Herausforderungen

Verfahrensdauer und Überlastung

Der EGMR sieht sich einer hohen Zahl von Beschwerden gegenüber, was zu langen Verfahrensdauern führen kann. Reformen, insbesondere durch die Zusatzprotokolle Nr. 11 und Nr. 14 zur EMRK, zielten auf eine Effizienzsteigerung ab.

Spannungsfeld zwischen nationaler Souveränität und internationalem Schutz

Gelegentlich geraten Urteile des Gerichtshofs in Konflikt mit nationalen Rechtspositionen oder politischen Interessen. Diese Spannungsfelder betreffen insbesondere Fragen der Umsetzung und Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen auf nationaler Ebene.


Weiterentwicklung des Menschenrechtsschutzes

Zusatzprotokolle zur Konvention

Der Gerichtshof überwacht nicht nur die ursprüngliche Konvention, sondern auch eine Reihe von Zusatzprotokollen, die u. a. neue Rechte (z. B. Schutz des Eigentums, Wahlrechte) eingeführt oder das Verfahrensrecht weiterentwickelt haben.

Präzedenzwirkung und fortlaufende Auslegung

Die Rechtsprechung des EGMR beeinflusst fortlaufend die Auslegung und Weiterentwicklung der EMRK. Seine Urteile setzen europaweite Standards für den Schutz der Menschenrechte.


Literatur und weiterführende Informationen

  • Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
  • Zusatzprotokolle zur EMRK
  • Offizielle Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (https://www.echr.coe.int)

Mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verfügt Europa über ein einzigartiges supranationales Schutzsystem für Menschenrechte, das maßgeblichen Einfluss auf Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung der Mitgliedstaaten hat. Seine Entscheidungen sichern den europaweiten Mindestschutz der in der Konvention verankerten Rechte und spielen eine entscheidende Rolle für die Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzes.

Häufig gestellte Fragen

Wie erfolgt die Anrufung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und welche Voraussetzungen sind hierfür zu erfüllen?

Um den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anrufen zu können, müssen mehrere formale und materielle Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt sein. Zunächst muss der innerstaatliche Rechtsweg vollständig ausgeschöpft worden sein; das bedeutet, dass alle zur Verfügung stehenden gerichtlichen Instanzen im betreffenden Vertragsstaat durchlaufen wurden. Erst danach kann binnen vier Monaten nach der letztinstanzlichen Entscheidung Beschwerde beim EGMR eingelegt werden. Die Beschwerde muss gegen einen Vertragsstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gerichtet sein und eine behauptete Verletzung eines in der Konvention oder deren Zusatzprotokollen geschützten Rechts umfassen.

Die Beschwerde ist schriftlich, auf dem vorgegebenen Formular und auf einer Konventionssprache (meist Englisch oder Französisch), umfassend zu begründen sowie vom Beschwerdeführer oder einem bevollmächtigten Vertreter einzureichen. Unerlässlich ist zudem, dass die Beschwerde nicht anonym erfolgt und kein bereits identischer Fall vorliegt, der vom Gerichtshof entschieden wurde (Ne bis in idem). Ferner darf die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich sein und die behauptete Menschenrechtsverletzung muss den Beschwerdeführer persönlich und unmittelbar betreffen. Eine anwaltliche Vertretung ist im anfänglichen Verfahrensstadium nicht zwingend, im weiteren Verlauf jedoch häufig geboten.

Welche Rechtskraft und Bindungswirkung haben Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte?

Die Urteile des EGMR entfalten gemäß Artikel 46 Abs. 1 EMRK zwischen den Parteien des Verfahrens eine verbindliche Wirkung: Der verurteilte Staat verpflichtet sich, das Urteil umzusetzen und die festgestellte Konventionsverletzung zu beheben. Diese Umsetzungspflicht umfasst vorrangig die Behebung individueller Rechtsverletzungen etwa durch Schadenersatzzahlungen (gerechte Entschädigung nach Artikel 41 EMRK) an den Beschwerdeführer und/oder durch Wiederaufnahme oder Revision nationaler Gerichtsverfahren. Darüber hinaus besteht eine Verpflichtung zur Ergreifung allgemeiner Maßnahmen, etwa Gesetzesnovellierungen oder Verfahrensänderungen, um künftigen Verletzungen vorzubeugen.

Die Überwachung der Urteilsumsetzung obliegt dem Ministerkomitee des Europarates, das den jeweiligen Vertragsstaat zur Erfüllung der im Urteil genannten Anordnungen auffordern kann. Die Urteile des EGMR sind nicht als Präzedenzfälle mit unmittelbarer Bindungswirkung für andere Verfahren anzusehen, besitzen jedoch eine hohe praktische und persuasive Autorität für die nationale Rechtsprechung und die Gesetzgebung der Mitgliedsstaaten.

Inwieweit kann der Gerichtshof eine vorläufige Maßnahme (interim measure) anordnen?

Der EGMR ist befugt, gemäß Regel 39 seiner Verfahrensordnung auf Antrag des Beschwerdeführers oder von Amts wegen vorläufige Maßnahmen anzuordnen. Dies geschieht in Ausnahmefällen, in denen ein ernsthaftes Risiko irreversibler Schäden für den Beschwerdeführer besteht, etwa drohende Abschiebung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Die Anordnung erfolgt regelmäßig zur Sicherung der effektiven Ausübung des Beschwerderechts und der Menschenwürde gemäß den Artikeln 2 und 3 EMRK.

Solche Maßnahmen sind für die betroffenen Staaten verbindlich. Verstöße gegen sie werden als Missachtung der Konvention und des Gerichtshofs gewertet und können durch das Ministerkomitee des Europarates politisch verfolgt werden. Nach Erledigung des Hauptsacheverfahrens erlischen interim measures automatisch. Diese Maßnahme ist als außerordentliche Ausnahme ausgestaltet und erfolgt regelmäßig nur bei akuter Gefährdungslage.

Welche Staaten können vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt werden?

Vor dem EGMR können ausschließlich Staaten verklagt werden, die Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention sind. Derzeit (Stand 2024) gehören 46 Staaten dem Europarat an und haben die EMRK ratifiziert, mit Ausnahme Russlands, das 2022 ausgeschlossen wurde. Richtet sich die Beschwerde gegen staatliche Maßnahmen oder Unterlassungen eines Nichtmitglieds, ist der EGMR nicht zuständig.

Die EMRK sieht sowohl Individualbeschwerden (von natürlichen oder juristischen Personen) gegen einen Staat als auch Staatenbeschwerden vor, bei denen ein Mitgliedsstaat einen anderen Staat wegen vermuteter schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen verklagen kann (Artikel 33 EMRK). Die Klage kann sich auf jede Handlung oder Unterlassung beziehen, die dem Staat zurechenbar ist – unabhängig davon, ob sie durch exekutive, legislative oder judikative Organe erfolgte.

Welche Rechtsgebiete werden vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte abgedeckt?

Der EGMR ist insbesondere für die Überwachung und Durchsetzung der in der EMRK und deren Zusatzprotokollen festgeschriebenen Menschenrechte zuständig. Dies umfasst unter anderem den Schutz des Lebens, das Folterverbot, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, das Recht auf effektiven Rechtsschutz sowie das Diskriminierungsverbot.

Erweiterungen durch Zusatzprotokolle betreffen unter anderem das Eigentumsrecht, das Recht auf Bildung, das allgemeine Wahlrecht und das Verbot der Todesstrafe. Der EGMR entscheidet nicht über Fragen des allgemeinen Völkerrechts oder nationaler Verfassungsfragen, sondern ausschließlich über behauptete Verletzungen von Rechten, die explizit in der Konvention selbst oder deren Protokollen normiert sind.

Können EGMR-Urteile rechtlich erzwungen oder lediglich politisch umgesetzt werden?

Ungeachtet der völkerrechtlichen Bindungswirkung gemäß Artikel 46 EMRK verfügt der EGMR über keine eigenen Vollstreckungsbefugnisse. Die tatsächliche Umsetzung obliegt dem jeweiligen verurteilten Mitgliedsstaat, wobei das Ministerkomitee des Europarates als Kontroll- und Überwachungsorgan fungiert. Es kann Resolutionen erlassen und die Vertragsstaaten politisch oder diplomatisch unter Druck setzen, verfügt jedoch über keine Möglichkeit, Zwangsmittel im engeren Sinne des nationalen Vollstreckungsrechts einzusetzen.

Die faktische Durchsetzung von EGMR-Urteilen beruht daher auf der Kooperationsbereitschaft und dem politischen Willen der Staaten. Andauernde oder schwerwiegende Verweigerung der Urteilsumsetzung kann jedoch reputationsschädigende und politische Folgen nach sich ziehen bis hin zu weitreichenden Maßnahmen innerhalb des Europarates, wie der Suspendierung von Stimmrechten.