Begriff und Grundlagen der Europäischen Staatsanwaltschaft
Die Europäische Staatsanwaltschaft (European Public Prosecutor’s Office, EPPO) ist eine unabhängige Institution der Europäischen Union, die für die strafrechtliche Verfolgung und Koordination grenzüberschreitender Straftaten zum Nachteil des finanziellen Interesses der EU zuständig ist. Sie nimmt eine zentrale Rolle im europäischen Strafverfolgungssystem ein und stellt einen bedeutenden Schritt der europäischen Integration im Bereich Justiz und Inneres dar.
Rechtsgrundlage und Entstehung
Primärrechtliche Grundlage
Die rechtliche Grundlage der Europäischen Staatsanwaltschaft findet sich in Artikel 86 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Gemäß Absatz 1 kann der Rat eine Europäische Staatsanwaltschaft errichten, um schwerwiegende Straftaten mit Auswirkungen auf die finanziellen Interessen der Union zu bekämpfen.
Erwähnung im AEUV
Artikel 86 AEUV legt fest:
- Einrichtung: Die Staatsanwaltschaft kann mittels eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens durch den Rat mit Zustimmung des Europäischen Parlaments geschaffen werden.
- Aufgaben: Die Aufgaben sind auf die Ermittlung, Verfolgung und Anklageführung im Zusammenhang mit Straftaten zum Nachteil des EU-Haushalts beschränkt.
Sekundärrechtliche Ausgestaltung
Die konkreten organisatorischen und funktionalen Anforderungen an die Europäische Staatsanwaltschaft werden durch die Verordnung (EU) 2017/1939 vom 12. Oktober 2017 bestimmt (auch: EPPO-Verordnung). Sie trat am 20. November 2017 in Kraft und stellte die Weichen für die praktische Umsetzung und Institutionalisierung der EPPO.
Zuständigkeiten und Aufgabenbereiche
Sachliche Zuständigkeit
Die Europäische Staatsanwaltschaft ist für die Ermittlung, Verfolgung und Anklage von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union zuständig. Dies umfasst insbesondere:
- Betrug im Zusammenhang mit EU-Mitteln
- Korruption, die EU-Finanzinteressen berührt
- Geldwäsche im Zusammenhang mit EU-Geldern
- Organisation und Beteiligung an Straftaten, die die finanziellen Interessen der Union betreffen
Die konkrete Bestimmung der einschlägigen Straftatbestände erfolgt durch die Richtlinie (EU) 2017/1371 (PIF-Richtlinie) zum Schutz der finanziellen Interessen der Union durch das Strafrecht.
Örtliche Zuständigkeit
Die Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft erstreckt sich ausschließlich auf diejenigen Mitgliedstaaten der EU, die sich im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit gemäß Art. 86 AEUV an der EPPO beteiligen. Nicht alle EU-Mitgliedstaaten sind bislang Teil der Europäischen Staatsanwaltschaft.
Personelle Zuständigkeit
Die Europäische Staatsanwaltschaft kann sowohl natürliche als auch juristische Personen verfolgen, sofern deren Handlungen unter die genannten Straftatbestände fallen.
Aufbau und Organisation
Struktur der Behörde
Die Europäische Staatsanwaltschaft ist als dezentralisierte europäische Behörde organisiert und setzt sich aus mehreren Ebenen zusammen:
Europäische Ebene
- Europäische Generalstaatsanwältin/Generalstaatsanwalt: Leitung und Außenvertretung der EPPO
- Senate: Plenum und ständige Kammern, die über wichtige Fälle entscheiden
- Europäische Staatsanwälte: Ernannte Vertreter der beteiligten Mitgliedstaaten, zuständig für übergeordnete Kontrolle und Koordination
Nationale Ebene
- Europäische Delegierte Staatsanwälte: In den jeweiligen Mitgliedstaaten angesiedelt, tätig als Organe der EPPO vor Ort. Sie führen Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen durch und kooperieren mit nationalen Strafverfolgungsbehörden.
Unabhängigkeit der Behörde
Die EPPO agiert unabhängig von den Mitgliedstaaten und den EU-Institutionen. Die Entscheidungsträger unterliegen keinerlei Weisungen von außen und dürfen durch nationale Regierungen oder andere Stellen nicht beeinflusst werden.
Ermittlungs- und Verfahrensbefugnisse
Ermittlungsbefugnisse
Die Europäischen Delegierten Staatsanwälte verfügen über weitreichende Ermittlungsbefugnisse. Sie können insbesondere:
- Polizei und andere nationale Ermittlungsbehörden mit Ermittlungen beauftragen
- Durchsuchungen, Überwachungen und Beschlagnahmen anordnen (je nach nationalem Recht)
- Europäische Ermittlungsanordnungen ausstellen
Zusammenarbeit mit nationalen Behörden
Die EPPO arbeitet eng mit den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten zusammen. Die nationalen Behörden sind zur Unterstützung verpflichtet. Dabei gilt das Kooperationsprinzip, das insbesondere die Zusammenarbeit, Informationspflichten und gegenseitige Unterstützung umfasst.
gerichtliches Verfahren und Anklage
Die Anklage vor Gericht erfolgt grundsätzlich vor den zuständigen Gerichten des jeweiligen Mitgliedstaats, in dem die Straftat begangen wurde. Die Europäischen Delegierten Staatsanwälte übernehmen in diesen Verfahren die Rolle der Anklagevertretung.
Verhältnis zu anderen Einrichtungen
Zusammenarbeit mit OLAF
Die Europäische Staatsanwaltschaft kooperiert insbesondere mit dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF). Während OLAF die Funktion der administrativen Ermittlungen ausübt, verfolgt die EPPO Straftaten strafrechtlich. Die Zusammenarbeit ist in der EPPO-Verordnung und weiteren Abkommen detailliert geregelt.
Verhältnis zu Eurojust
Die EPPO arbeitet mit Eurojust zusammen, soweit dies zur Durchführung ihrer Aufgaben notwendig ist. Die genaue Abgrenzung der Zuständigkeiten ist in der Verordnung geregelt und dient dazu, Überschneidungen zu vermeiden.
Rechtsschutz und Kontrolle
Rechtsmittelverfahren
Entscheidungen der EPPO unterliegen der gerichtlichen Kontrolle durch die Gerichte des betreffenden Mitgliedstaates, vor denen das Strafverfahren geführt wird. Bestimmte Entscheidungen können zudem vor dem Gerichtshof der Europäischen Union angefochten werden.
interne und externe Kontrolle
Die Tätigkeit der EPPO wird durch interne Mechanismen (Plenum, ständige Kammern) wie auch externe Stellen (Europäischer Rechnungshof, Europäisches Parlament) überwacht.
Bedeutung der Europäischen Staatsanwaltschaft
Mit der Schaffung der Europäischen Staatsanwaltschaft wurde ein entscheidender Schritt zur Stärkung der strafrechtlichen Integration in der Europäischen Union vollzogen. Die EPPO trägt maßgeblich zur wirksamen Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität und Betrug zum Nachteil der EU-Finanzen bei. Durch die zentrale Koordination grenzüberschreitender Ermittlungen entsteht ein harmonisiertes und effizienteres Vorgehen gegen komplexe und organisierte Kriminalität im EU-Binnenmarkt.
Literatur und Rechtsquellen
- Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), insbesondere Art. 86 AEUV
- Verordnung (EU) 2017/1939 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft
- Richtlinie (EU) 2017/1371 (PIF-Richtlinie)
- Veröffentlichungen und Materialien der Europäischen Staatsanwaltschaft (www.eppo.europa.eu)
Dieser Artikel bietet eine umfassende rechtliche Darstellung zur Europäischen Staatsanwaltschaft und erläutert deren Grundlagen, Aufgaben, Organisation sowie das Verhältnis zu anderen europäischen Institutionen und die praktische Bedeutung für das europäische Strafverfolgungsrecht.
Häufig gestellte Fragen
Wie ist das Verhältnis der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) zu den nationalen Strafverfolgungsbehörden geregelt?
Das Verhältnis der Europäischen Staatsanwaltschaft (Europäische Staatsanwaltschaft, EUStA/EPPO) zu den nationalen Strafverfolgungsbehörden ist im Wesentlichen in der Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates vom 12. Oktober 2017 geregelt. Die EUStA ist eine supranationale Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörde, die in den teilnehmenden Mitgliedstaaten eigenständig und unabhängig ermittelt und anklagt, wenn es um Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union geht („PIF-Delikte“).
Trotz ihrer eigenen Kompetenzen agiert die EUStA eng verzahnt mit den nationalen Behören, insbesondere durch die Europäischen Delegierten Staatsanwälte (EDS), die in den Mitgliedstaaten als verlängerter Arm der EUStA tätig sind. Sie nehmen sowohl Aufgaben für die EUStA als auch für die nationale Strafverfolgungsstruktur wahr. Die Ermittlungen werden dabei grundsätzlich nach nationalem Recht geführt, soweit die EUStA-Verordnung nichts anderes regelt (Art. 5, 13 ff.). Nationale Behörden bleiben für Straftaten zuständig, die nicht dem Ermittlungsmandat der EUStA unterliegen. Eine klare Kompetenzabgrenzung und Kooperationspflichten stellen sicher, dass keine Überschneidungen oder Lücken in der Strafverfolgung entstehen. Im Konfliktfall regelt die Verordnung, dass die EUStA Vorrang genießt, sofern ihre Zuständigkeit gegeben ist. Die nationalen Behörden sind verpflichtet, die EUStA zu unterstützen und alle nach nationalem Recht verfügbaren Maßnahmen zu ergreifen, wenn sie von ihr beauftragt werden.
Wie wird die Unabhängigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft sichergestellt?
Die Unabhängigkeit der EUStA ist ein zentrales Prinzip und in Art. 6 der Verordnung (EU) 2017/1939 ausdrücklich verankert. Der Aufbau der Behörde wurde gezielt so gestaltet, dass sie unabhängig von nationalen Regierungen und Organen der Europäischen Union agiert. Die Mitglieder der EUStA – bestehend aus der Europäischen Generalstaatsanwältin/dem Europäischen Generalstaatsanwalt, den 22 Europäischen Staatsanwälten (je einer pro teilnehmendem Mitgliedstaat) und den zahlreichen Europäischen Delegierten Staatsanwälten in den Ländern – handeln ausschließlich im Interesse der Europäischen Union. Weder nationale Regierungen, noch EU-Organe, -Einrichtungen oder -Agenturen dürfen versuchen, Einfluss auf die von der EUStA geführten Ermittlungen oder Verfahren zu nehmen.
Die Unabhängigkeit wird zudem durch die Ernennung der Generalstaatsanwältin/des Generalstaatsanwalts und der Europäischen Staatsanwälte durch einen Europäischen Auswahl- und Ernennungsausschuss garantiert, wobei Mandatsdauer, Amtsenthebung und disziplinarische Maßnahmen hohen rechtlichen Hürden unterliegen. Transparente Vorschriften regeln ferner die Rechenschaftspflichten, sodass die öffentliche Kontrolle gewährleistet bleibt, ohne die operativen Entscheidungen zu beeinflussen.
In welchen Fällen hat die EUStA Vorrang vor den nationalen Strafverfolgungsbehörden?
Die EUStA hat gemäß Art. 25 Abs. 2 der Verordnung (EU) 2017/1939 Vorrang vor den zuständigen nationalen Behörden bei der Verfolgung von Straftaten, die in ihre Zuständigkeit fallen, also insbesondere bei Betrugs-, Korruptions- und Geldwäsche-Straftaten zum Nachteil des EU-Haushalts („PIF-Delikte“). Bei solchen Delikten dürfen die nationalen Behörden eigene Ermittlungen nur fortsetzen, solange die EUStA nicht tätig geworden ist. Sobald die EUStA ein Verfahren eröffnet, übernimmt sie federführend die Ermittlungen; nationale Behörden sind dann verpflichtet, ihre eigenen Ermittlungen einzustellen oder zu übertragen.
Es gibt detaillierte Vorschriften zur Vermeidung von Zuständigkeitskonflikten: Kommt es zu streitigen Zuständigkeitsfragen, ist eine Entscheidung des zentralen Kollegiums der EUStA vorgesehen, die verbindlich ist. Die Vorrangsregelung dient der Verhinderung von Parallelverfahren und Kompetenzstreitigkeiten, um sowohl Effizienz als auch Rechtsstaatlichkeit bei der Verfolgung von EU-Schädigungsdelikten zu gewährleisten.
Wie gestaltet sich die Rechtsstellung der beschuldigten Person im Verfahren der Europäischen Staatsanwaltschaft?
Beschuldigte im Ermittlungsverfahren der EUStA genießen sämtliche in den teilnehmenden Staaten und auf EU-Ebene garantierten Verfahrensrechte. Die Verordnung sieht vor, dass die Ermittlungen der EUStA nach den einschlägigen nationalen Verfahrensvorschriften geführt werden, soweit in der Verordnung keine spezifischen Regeln existieren. Grundrechte wie das Recht auf ein faires Verfahren, die Unschuldsvermutung, das Recht auf Verteidigung, Akteneinsicht, ein Dolmetscher und anwaltlicher Beistand, sowie das Recht, nicht gegen sich selbst aussagen zu müssen, sind jederzeit zu wahren.
Die EUStA hat ausdrücklich zu gewährleisten, dass das Verfahren mit der Charta der Grundrechte der EU sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar ist. Zudem besteht die Möglichkeit, bestimmte prozessuale Entscheidungen vor nationalen Gerichten überprüfen zu lassen. Im Falle eines Gerichtsverfahrens vor nationalen Gerichten gelten wiederum die Schutzinstrumente des jeweiligen Mitgliedstaats sowie der EU-Grundrechtekatalog.
Inwieweit ist eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidungen der Europäischen Staatsanwaltschaft möglich?
Die gerichtliche Kontrolle der Handlungen und Entscheidungen der EUStA erfolgt hauptsächlich durch die zuständigen nationalen Gerichte der teilnehmenden Mitgliedstaaten. Ist ein Ermittlungs- oder Anklageverfahren abgeschlossen, wird die Sache vor ein nationales Gericht gebracht, das sämtliche prozessrelevanten Maßnahmen – wie Anklagezulassung, Haftanordnungen, Beschlagnahmen oder Verfahrenseinstellungen – überprüft.
Daneben kann die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) eingebunden werden, etwa im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens, wenn unionsrechtliche Fragen zu klären sind. Gleichwohl obliegt die unmittelbare Rechtskontrolle hinsichtlich der Rechtmäßigkeit prozessualer Handlungen normalerweise dem jeweiligen nationalen Justizsystem. Das duale Kontrollsystem gewährleistet damit sowohl eine effektive als auch rechtsstaatliche Überprüfung der Tätigkeit der EUStA.
Welche rechtlichen Möglichkeiten haben Betroffene, sich gegen Ermittlungsmaßnahmen der EUStA zu wehren?
Gegen Ermittlungsmaßnahmen der EUStA – etwa Durchsuchungen, Beschlagnahmen oder Verhaftungen – können sich Betroffene mithilfe der im nationalen Recht vorgesehenen Rechtsbehelfe zur Wehr setzen. Die Verordnung (EU) 2017/1939 sieht ausdrücklich vor, dass Beschuldigte und Dritte nationale Gerichte anrufen können, um Maßnahmen anzugreifen oder überprüfen zu lassen, sofern diese auf dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaats beruhen (Art. 42). Somit steht der gesamte Instanzenzug, wie er für nationale Strafverfahren vorgesehen ist, zur Verfügung.
Ergänzend können sich Betroffene auch auf unmittelbares EU-Recht und die Europäische Grundrechtecharta berufen. Soweit die Verordnung selbst einschlägige Regelungen trifft und keine nationalen Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, kann eine Klage vor den Unionsgerichten, insbesondere dem Gericht der Europäischen Union beziehungsweise dem Europäischen Gerichtshof, in Betracht kommen. In der Praxis ist ein effektiver Rechtsschutz damit umfassend gewährleistet.
Wie wirken die Verfahrensabschlüsse der Europäischen Staatsanwaltschaft in den teilnehmenden Mitgliedstaaten?
Entscheidet die EUStA, ein Ermittlungsverfahren einzustellen, eine Anklage zu erheben oder eine andere abschließende Entscheidung zu treffen, so sind diese Beschlüsse für die nationalen Behörden verbindlich. Gemäß Art. 36 der Verordnung sind alle Verfahrensabschlüsse der EUStA in den Mitgliedstaaten anzuerkennen und zu vollstrecken, als handele es sich um nationale Strafverfolgungsentscheidungen. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im EU-Strafrecht wird dafür entsprechend angewandt. Nationale Gerichte prüfen lediglich, ob die verfahrensrechtlichen Minimalstandards und prozessualen Rechte eingehalten wurden. Die Verbindlichkeit der Entscheidungen soll gewährleisten, dass kein Staat einer effektiven Strafverfolgung europäischer Finanzdelikte im Wege stehen kann und die Ziele der EUStA nicht unterlaufen werden.