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Europäische Gerichtsbarkeit


Begriff und Grundlagen der Europäischen Gerichtsbarkeit

Die Europäische Gerichtsbarkeit bezeichnet das Gesamtsystem gerichtlicher Zuständigkeiten im Rahmen der Europäischen Union (EU) sowie in bestimmten internationalen Organisationen auf dem europäischen Kontinent. Sie umfasst sämtliche Gerichte, die Unionsrecht auslegen, anwenden oder vollziehen, insbesondere mit Blick auf Individualrechte, Marktregulierung, staatliche sowie institutionelle Handlungen. Die Europäische Gerichtsbarkeit besitzt neben legislativen und exekutiven Kompetenzen eine zentrale Rolle bei der Integration und Durchsetzung des europäischen Rechtsraums.

Struktur und Zusammensetzung der Europäischen Gerichtsbarkeit

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EUGH)

Im Zentrum der Europäischen Gerichtsbarkeit steht der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mit Sitz in Luxemburg. Dieser besteht aus drei Hauptorganen:

  • Gerichtshof (EuGH)

Das höchste Organ, das über Vorabentscheidungsersuchen nationaler Gerichte, Klagen gegen EU-Institutionen sowie Vertragsverletzungsverfahren entscheidet.

  • Gericht (EuG)

Zuständig für Klagen von Einzelpersonen, Unternehmen und in bestimmten Fällen von Mitgliedstaaten, insbesondere im Bereich Wettbewerbsrecht, Beihilfen und Handelsrecht.

  • Fachgerichte (ehemals, z. B. Gericht für den öffentlichen Dienst)

Zwischen 2005 und 2016 gab es spezialgesetzliche Fachgerichte; ihre Aufgaben wurden in das Gericht integriert.

Weitere Institutionen und Organisationen

Außerhalb der Union existieren weitere gerichtliche Instanzen mit europaweiter Kompetenz:

  • Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

Organ des Europarats, überwacht die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

  • EFTA-Gerichtshof

Gericht der Europäischen Freihandelsassoziation, zuständig für die Länder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), soweit diese nicht EU-Mitglieder sind.

  • Größere internationale Schiedsgerichte und Sondertribunale

In spezifischen Rechtsmaterien finden sich weitere paneuropäische gerichtliche Einrichtungen.

Rechtsgrundlagen der Europäischen Gerichtsbarkeit

Primärrechtliche Grundlagen

Die Kompetenzen der Europäischen Gerichtsbarkeit beruhen primär auf:

  • Vertrag über die Europäische Union (EUV)
  • Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
  • Charta der Grundrechte der Europäischen Union
  • Gefestigte Praxis der Rechtsprechung (acquis communautaire)

Sekundärrecht und Satuten

Die Statuten des EuGH und die Verfahrensordnungen bilden das sekundärrechtliche Basiswerk für die Zuständigkeit, das Verfahren und die Organisation der europäischen Gerichte.

Zuständigkeit und Aufgabenbereiche

Zuständigkeiten des Gerichtshofs der Europäischen Union

Vorabentscheidungsverfahren (Artikel 267 AEUV)

Das Vorabentscheidungsverfahren ermöglicht es nationalen Gerichten, den EuGH um verbindliche Auslegung des Unionsrechts zu ersuchen. Dieses Instrument sichert die einheitliche Anwendung und Auslegung des europäischen Rechtsraums.

Vertragsverletzungsverfahren (Artikel 258 ff. AEUV)

Die Europäische Kommission oder Mitgliedstaaten können Klage gegen einen Mitgliedstaat erheben, der Unionsrecht nicht ordnungsgemäß umsetzt oder anwendet.

Nichtigkeitsklagen (Artikel 263 ff. AEUV)

Der EuGH prüft die Gültigkeit von Rechtsakten der EU-Organe und kann bei Verstößen diese für nichtig erklären.

Untätigkeitsklage (Artikel 265 AEUV)

Überprüft das unterlassene Handeln einer EU-Institution, sofern diese zu einem bestimmten Tätigwerden verpflichtet gewesen wäre.

Aufgaben des Europäischen Gerichthofs für Menschenrechte

Der EGMR prüft Beschwerden Einzelner oder Vertragsstaaten, die sich auf Verletzungen der EMRK berufen. Zwar besitzt der EGMR keine Durchgriffskompetenz gegenüber dem EU-Raum, seine Leitlinien werden jedoch im europäischen Rechtsraum regelmäßig berücksichtigt und respektiert.

Verhältnis der Europäischen Gerichtsbarkeit zu nationalen Gerichten

Autonomie und Anwendungsvorrang

Das Unionsrecht erkennt den Vorrang der Europäischen Gerichtsbarkeit gegenüber nationalem Recht, sofern Vertragliche Vereinbarungen oder einschlägige EU-Verordnungen und Richtlinien betroffen sind. Nationale Gerichte sind verpflichtet, Unionsrecht anzuwenden und nationale Normen, die dem widersprechen, unangewendet zu lassen.

Koexistenz und Zusammenarbeit

Die Zusammenarbeit erfolgt insbesondere durch das Vorabentscheidungsverfahren. Gleichwohl behalten nationale Gerichte die Primärkompetenz für die Rechtsdurchsetzung, soweit keine ausschließliche EU-Zuständigkeit gegeben ist.

Verfahrensrecht in der Europäischen Gerichtsbarkeit

Zulässigkeit und Klagearten

Das europäische Prozessrecht ist durch zahlreiche Besonderheiten gekennzeichnet, wie etwa Mindestfristen, spezifische Formerfordernisse sowie das Amtsermittlungsprinzip im gerichtlichen Verfahren.

  • Keine Instanzrechtsmittel im klassischen Sinn; Entscheidungen des EuGH sind endgültig.
  • Die Beteiligten können Staaten, Institutionen, Unternehmen oder Einzelpersonen sein, abhängig von der Klageart.

Rechtsschutz und Verfahrensgarantien

Untrennbar mit der Europäischen Gerichtsbarkeit verbunden ist die strikte Beachtung rechtsstaatlicher Garantien, insbesondere dem Anspruch auf rechtliches Gehör, das Recht auf effektiven Rechtsschutz sowie auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht.

Auswirkungen und Bedeutung der Europäischen Gerichtsbarkeit

Einhaltung und Fortentwicklung des Unionsrechts

Die Europäische Gerichtsbarkeit stellt sicher, dass Unionsrecht einheitlich ausgelegt und angewandt wird, trägt zu Rechtsfortbildung und Rechtsschutz im gemeinsamen Binnenmarkt sowie in übergeordneten Grundrechtsfragen bei.

Integration, Harmonisierung und Individualrechtsschutz

Durch die verbindliche Wirkung ihrer Urteile hat die Europäische Gerichtsbarkeit maßgeblich zur rechtlichen Integration Europas, zur Angleichung nationaler Rechtsordnungen und zur Stärkung des Individualrechtsschutzes beigetragen.

Literaturhinweise und weiterführende Informationen

  • Vertrag über die Europäische Union (EUV)
  • Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
  • Grundrechtecharta der Europäischen Union
  • Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Union
  • Internationale Rechtsprechungsdatenbanken, z. B. CURIA

Hinweis: Die Europäische Gerichtsbarkeit ist ein dynamisches Rechtsgebiet, das sich durch die Rechtsprechung und fortwährende Integration stetig weiterentwickelt. Die tatsächlichen Zuständigkeiten und Verfahrensweisen sind durch die offiziellen Rechtsquellen und die jeweils aktuelle Rechtsprechung zu prüfen.

Häufig gestellte Fragen

Welche Gerichte zählen zur europäischen Gerichtsbarkeit und welche Aufgaben nehmen sie wahr?

Zur europäischen Gerichtsbarkeit zählen hauptsächlich der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), das Gericht (EuG, früher Gericht erster Instanz) und teilweise auch das Europäische Gericht für Menschenrechte (EGMR), wobei letzteres zum Europarat und nicht zur EU gehört. Der EuGH mit Sitz in Luxemburg ist das höchste richterliche Organ der Europäischen Union und sichert die einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten. Er entscheidet insbesondere über Vertragsverletzungsklagen gegen Mitgliedstaaten, Vorabentscheidungsersuchen nationaler Gerichte sowie Klagen von Organen der Union. Das dem EuGH beigeordnete Gericht (EuG) befasst sich vor allem mit Klagen von Privatpersonen und Unternehmen sowie bestimmten Rechtssachen von Mitgliedstaaten. Seine Kompetenzen wurden in den letzten Jahren durch institutionelle Reformen stetig erweitert, insbesondere im Bereich des Wettbewerbsrechts, des Zollrechts und des Markenrechts. Das Zusammenspiel dieser Gerichte garantiert die Kohärenz und Wirksamkeit der europäischen Rechtsordnung und schützt sowohl die institutionellen Interessen der EU als auch die Rechte der Bürgerinnen und Bürger und der Unternehmen.

Wie wird die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Verhältnis zu nationalen Gerichten abgegrenzt?

Die Zuständigkeit des EuGH ergibt sich unmittelbar aus den EU-Verträgen und dient der Sicherstellung einer einheitlichen Auslegung des Unionsrechts. Die nationale Gerichtsbarkeit bleibt für die Anwendung von Unionsrecht grundsätzlich zuständig. Wenn es allerdings Fragen zur Auslegung oder Gültigkeit von EU-Rechtsakten gibt, können – und in bestimmten Fällen müssen – nationale Gerichte den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 AEUV) anrufen. Der EuGH entscheidet dann bindend über die Auslegung. Auch in Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten, in Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen gegen Unionsorgane sowie bei Streitigkeiten zwischen EU-Organen ist der EuGH primär zuständig. Die nationale Zuständigkeit bleibt jedoch stets dort relevant, wo lediglich nationales Recht – wenn auch unter Beachtung des Unionsrechts – zur Anwendung kommt und keine spezifische EU-Regelung eine Entscheidung des EuGH vorsieht.

Welche Rolle spielen Vorabentscheidungsverfahren in der europäischen Gerichtsbarkeit?

Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 267 AEUV ist das zentrale Instrument zur Gewährleistung der einheitlichen Auslegung und Anwendung von EU-Recht in allen Mitgliedstaaten. Nationale Gerichte können dem EuGH Fragen zur Auslegung oder zur Gültigkeit von EU-Rechtsakten vorlegen. Oberste nationale Gerichte sind in solchen Fällen sogar verpflichtet, entsprechende Fragen vorzulegen, sofern ein Vorabentscheidungsbedarf besteht. Die vom EuGH im Vorabentscheidungsverfahren getroffenen Entscheidungen sind für das vorlegende nationale Gericht sowie für alle anderen Gerichte der Mitgliedstaaten verbindlich. Das Verfahren trägt maßgeblich zur Kohärenz des europäischen Rechtssystems und zur Rechtssicherheit bei und ist somit ein Schlüsselelement zur Integration des europäischen Rechts in die nationalen Rechtsordnungen.

In welchen Fällen kann das Gericht der Europäischen Union (EuG) angerufen werden?

Das Gericht der Europäischen Union ist insbesondere zuständig für Klagen gegen die EU-Organe, etwa wegen Nichtigerklärung von EU-Rechtsakten (Nichtigkeitsklage), Untätigkeitsklagen oder Klagen auf Schadensersatz. Ebenfalls fallen viele Rechtsstreitigkeiten im Wettbewerbsrecht, im Markenrecht (einschließlich Entscheidungen des Europäischen Patentamts und des Amtes der Europäischen Union für geistiges Eigentum – EUIPO) und im Zollrecht in seine Zuständigkeit. Privatpersonen und Unternehmen können grundsätzlich das EuG anrufen, sofern sie unmittelbar und individuell betroffen sind. Es prüft zudem Rechtsmittel gegen die Entscheidungen bestimmter spezialisierter EU-Gerichte (z.B. des Gerichts für den öffentlichen Dienst, bis zu dessen Auflösung). Die Entscheidungen des EuG können in bestimmten Fällen beim EuGH angefochten werden.

In welchem Verhältnis steht das Europäische Gericht für Menschenrechte (EGMR) zur Gerichtsbarkeit der EU?

Der EGMR ist ein Organ des Europarats und überwacht die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch deren Vertragsstaaten, zu denen alle EU-Mitgliedstaaten gehören. Seine Zuständigkeit reicht jedoch nicht direkt in das Unionsrecht hinein, sondern bezieht sich auf nationales Recht und deren Umsetzung im Hinblick auf die Konvention. Der EuGH hat anerkannt, dass die Grundrechte, wie sie in der EMRK niedergelegt sind, als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts gelten. Bislang ist die EU selbst noch nicht der EMRK beigetreten, weshalb zwischen EuGH und EGMR kein förmliches Rechtsmittelverhältnis besteht. Gleichwohl ist die Rechtsprechung des EGMR für die Auslegung von Grundrechten durch den EuGH von hoher Bedeutung, was zu einer wechselseitigen Beeinflussung der Rechtsprechung führt.

Welche Rechtsmittel stehen gegen Entscheidungen der Gerichte der Europäischen Union zur Verfügung?

Gegen Urteile und Beschlüsse des Gerichts der Europäischen Union ist gemäß Artikel 256 AEUV ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel zum EuGH möglich. Dieses legt sich auf das Überprüfen von Rechtsfehlern und begrenzt die Tatsacheninstanz auf das EuG. Das Rechtsmittel ist zulässig, wenn ein Rechtsfehler vorliegt, etwa bei fehlerhafter Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts oder bei Verfahrensverstößen. In den meisten Fällen sind die EuGH-Entscheidungen endgültig. Auch spezielle Verfahrensarten, wie Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder gegen die Vollstreckung von Entscheidungen, sind möglich, jedoch in der Praxis selten. Die Ausgestaltung der Rechtsmittel stellt sicher, dass systematische Fehler im europäischen Gerichtssystem korrigiert werden können.