Begriff und Wesen der Europäischen Genossenschaft
Die Europäische Genossenschaft (auch SCE – Societas Cooperativa Europaea) ist eine supranationale Gesellschaftsform auf europäischer Ebene, die eingeführt wurde, um grenzüberschreitende Kooperationen und wirtschaftliche Aktivitäten von Genossenschaften innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums zu erleichtern. Sie besitzt Rechtspersönlichkeit und ist ausdrücklich auf die Bedürfnisse von Unternehmen mit gemeinschaftsübergreifender Tätigkeit zugeschnitten.
Rechtliche Grundlage
Die Grundlage der Europäischen Genossenschaft ist die Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 des Rates vom 22. Juli 2003 über das Statut der Europäischen Genossenschaft, ergänzt durch die Richtlinie 2003/72/EG hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer. Die Regelungen gelten unmittelbar und verbindlich in allen EU-Mitgliedsstaaten, wobei nationale Vorschriften zur Ergänzung herangezogen werden, sofern die Verordnung keine abschließenden Regelungen trifft.
Gründung und Gründungsvoraussetzungen
Gründungsrechte und Mindestvoraussetzungen
Eine SCE kann gegründet werden durch:
- Mindestens fünf natürliche Personen, die in mindestens zwei verschiedenen Mitgliedsstaaten ansässig sind;
- Unternehmen und andere juristische Personen mit Sitz in mindestens zwei unterschiedlichen Mitgliedstaaten;
- Verschmelzung von bestehenden Genossenschaften mit Sitz in unterschiedlichen Mitgliedsstaaten;
- Umwandlung einer bestehenden Genossenschaft, sofern sie seit mindestens zwei Jahren eine Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat besitzt.
Das Mindestkapital beträgt 30.000 Euro. Der Sitz sowie die Hauptverwaltung müssen in ein und demselben Mitgliedstaat liegen.
Gründungsverfahren
Das Gründungsverfahren besteht aus mehreren Schritten:
- Aufstellung und Annahme der Satzung;
- Zeichnung der Anteile durch die Gründungsmitglieder;
- Eintragung der SCE in das zuständige Register des Sitzstaates;
- Publikation der Gründung im Amtsblatt der Europäischen Union.
Durch die Eintragung erlangt die SCE ihre Rechtsfähigkeit.
Organe der Europäischen Genossenschaft
Die SCE besitzt eine (wahlweise) zwei- oder dreigliedrige Struktur der Unternehmensführung, die an nationale Regelungen angelehnt ist, jedoch eigenständig aus der Verordnung hervorgeht.
Generalversammlung
Die Generalversammlung der Mitglieder ist das oberste Willensbildungsorgan. Wesentliche Aufgaben sind u.a.:
- Änderung der Satzung,
- Bestellung des Leitungs- und Aufsichtsorgans,
- Genehmigung des Jahresabschlusses,
- Beschlussfassung über Gewinnverwendung.
Leitungsorgan und Aufsichtsorgan
Die Genossenschaft kann sich für ein dualistisches System (Leitungsorgan und Aufsichtsorgan) oder ein monistisches System (Verwaltungsorgan) entscheiden.
Leitungsorgan: Ist für die Geschäftsführung und Vertretung der SCE zuständig.
Aufsichtsorgan: Überwacht und kontrolliert das Leitungsorgan, mit umfassenden Einsichts- und Prüfungsrechten.
Im monistischen System übernimmt das Verwaltungsorgan beide Funktionen.
Mitgliederrechte und -pflichten
Mitgliedschaft
Mitglieder können natürliche oder juristische Personen mit Sitz innerhalb des EWR werden. Aufnahme, Ausscheiden, Ausschluss und Übertragung der Mitgliedschaft richten sich nach der Satzung und subsidiär nach dem nationalen Recht des Sitzstaates.
Rechte
- Stimmrecht in der Generalversammlung (Grundsatz: „Ein Mitglied – eine Stimme“, abweichende Satzungsregelungen möglich)
- Anspruch auf Auskunft und Rechenschaft über die Angelegenheiten der SCE
- Anspruch auf Dividendenausschüttung bei ergebnisabhängiger Beteiligung
Pflichten
Mitglieder sind insbesondere zur Leistung der Einlagen und – falls satzungsmäßig vorgesehen – zu Nachschüssen im Insolvenzfall verpflichtet.
Beteiligung der Arbeitnehmer
Gemäß Richtlinie 2003/72/EG sind Arbeitnehmerrechte bei der Gründung und im laufenden Betrieb der SCE umfassend zu berücksichtigen. Dies kann unter anderem die Einrichtung eines Europäischen Betriebsrats oder anderer Beteiligungsformen umfassen. Die konkrete Ausgestaltung ist abhängig von der Gründungsart und der nationalen Umsetzung der Richtlinie.
Rechnungslegung, Prüfung und Offenlegung
Die SCE ist zur Führung ordnungsgemäßer Bücher und zur Offenlegung von Jahresabschlüssen verpflichtet. Anwendbar sind die handelsrechtlichen Vorschriften des Sitzstaates, ergänzt um die unionsrechtlichen Vorgaben. Eine externe Abschlussprüfung ist grundsätzlich vorgeschrieben. Dies dient der Transparenz gegenüber Mitgliedern, Gläubigern und anderen Beteiligten.
Aufsicht, Kontrolle und Sanktionen
Die SCE unterliegt der öffentlich-rechtlichen Aufsicht des Sitzstaates, welcher die Einhaltung der gesellschaftsrechtlichen, genossenschaftlichen und steuerlichen Vorschriften kontrolliert. Bei Verstößen oder Missständen drohen Sanktionen bis hin zur Löschung der Genossenschaft aus dem Register.
Insolvenzrechtliche Besonderheiten
Im Falle einer Insolvenz gelten, sofern die Verordnung keine besonderen Regelungen trifft, die einschlägigen nationalen Insolvenzvorschriften des Mitgliedstaates, in dem die SCE ihren Sitz hat. Ergänzend sind die spezifischen Vorschriften der EG-Verordnung über Insolvenzverfahren zu beachten, soweit die SCE grenzüberschreitend tätig ist.
Umwandlung, Verschmelzung und Sitzverlegung
Die SCE kann nach dem europäischen Genossenschaftsstatut grenzüberschreitend fusionieren, umwandeln oder den Sitz in ein anderes EU-Land verlegen. Das Verfahren ist im Statut detailliert beschrieben und verlangt die Zustimmung der Generalversammlung sowie die Beteiligung der Arbeitnehmer.
Steuerrechtliche Behandlung
Steuerlich ist die SCE als Körperschaft zu behandeln. Sie unterliegt der Körperschaft- und Gewerbesteuer des Sitzstaats. Ein Interesse der Regelungen besteht darin, durch einheitliche Strukturen innergemeinschaftlichen Steuerwettbewerb zu vermeiden. Details regelt das jeweilige nationale Steuerrecht.
Bedeutung und Anwendungsbereich
Die Europäische Genossenschaft zielt darauf ab, wirtschaftliche Aktivitäten von genossenschaftlichen Unternehmen innerhalb der EU zu fördern und ihnen eine Rechtsform für länderübergreifende Tätigkeit zu bieten. Typische Einsatzgebiete sind Agrarwirtschaft, Kreditwesen, Wohnungsbau und Dienstleistungssektor.
Zusammenfassung
Die Europäische Genossenschaft (SCE) ist eine im EU-Recht verankerte Rechtsform mit eigener Rechtspersönlichkeit, die für grenzüberschreitende genossenschaftliche Zusammenarbeit geschaffen wurde. Sie vereint Merkmale der demokratischen Selbstorganisation, Flexibilität im organisatorischen Aufbau sowie umfassende Mitbestimmung der Mitglieder und Arbeitnehmer. Die rechtlichen Rahmenbedingungen ermöglichen eine effiziente rechtliche Struktur sowohl für kleine als auch für große, multinationale Genossenschaften und bieten einen europaweit anerkannten Rechtsrahmen für kooperatives Wirtschaften.
Quellenangaben:
- Verordnung (EG) Nr. 1435/2003
- Richtlinie 2003/72/EG
- Diverse nationale Ausführungsgesetze und handelsrechtliche Vorschriften der Mitgliedstaaten
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen für die Gründung einer Europäischen Genossenschaft (SCE) erfüllt sein?
Für die Gründung einer Europäischen Genossenschaft (Societas Cooperativa Europaea, SCE) müssen verschiedene rechtliche Voraussetzungen beachtet werden, die auf der EG-Verordnung Nr. 1435/2003 sowie dem jeweiligen nationalen Ausführungsgesetz basieren. Zunächst müssen sich mindestens fünf natürliche Personen mit Wohnsitz in mindestens zwei verschiedenen EU-Mitgliedstaaten oder juristische Personen mit Sitz in unterschiedlichen Mitgliedstaaten zusammenschließen. Die Gründung kann auch durch die Umwandlung oder Verschmelzung bestehender nationaler Genossenschaften erfolgen, sofern sie in unterschiedlichen Mitgliedstaaten ansässig sind. Des Weiteren ist ein Gesellschaftsvertrag bzw. eine Satzung notwendig, die die Errichtung und die interne Organisation der SCE regelt. Im Satzungsmuster müssen unter anderem Angaben zu Unternehmensgegenstand, Sitz, Dauer, Kapital und Mitgliederstruktur enthalten sein. Das Mindestkapital beträgt 30.000 Euro, wobei jede gezeichnete Geschäftsanteile bei Gründung mindestens 25 Prozent eingezahlt sein müssen. Die Gründung der SCE ist beim Registergericht des künftigen Sitzstaates anzumelden und wird mit der Eintragung rechtswirksam. Zudem gelten besondere Vorschriften zum Schutz der Arbeitnehmerrechte, insbesondere das Mitbestimmungsrecht auf europäischer Ebene, das im Rahmen des Gründungsverfahrens geregelt werden muss.
Wie ist die Haftung der Mitglieder einer Europäischen Genossenschaft geregelt?
Die Haftung der Mitglieder einer Europäischen Genossenschaft ist grundsätzlich beschränkt und orientiert sich am Genossenschaftsgedanken der Selbsthilfe. Die Mitglieder der SCE haften im Regelfall nur mit ihrer Einlage, das heißt, das persönliche Vermögen der Mitglieder bleibt unberührt. In der Satzung der SCE können allerdings Nachschusspflichten vorgesehen werden, die eine Nachschusshaftung im Falle eines Insolvenzverfahrens nach sich ziehen können. Diese Nachschusspflichten müssen ausdrücklich und detailliert im Gesellschaftsvertrag geregelt sein und sind im Handelsregister einzutragen. Ohne eine solche ausdrückliche Regelung im Statut sind die Möglichkeiten zur Haftungserweiterung ausgeschlossen. Im Verhältnis zu Dritten haftet die SCE allein mit ihrem Gesellschaftsvermögen.
Welche Vorschriften gelten für die Satzung einer Europäischen Genossenschaft?
Die Satzung einer Europäischen Genossenschaft muss bestimmte Mindestinhalte und formale Anforderungen erfüllen, die sich sowohl aus der SCE-Verordnung als auch aus ergänzenden nationalen Vorschriften ergeben. Zu den zwingenden Inhalten zählen insbesondere die Firma und der Sitz der Gesellschaft, der Gegenstand des Unternehmens, die Organe und deren Zusammensetzung, die Rechte und Pflichten der Mitglieder, das Verfahren zur Aufnahme und zum Ausscheiden von Mitgliedern, die Höhe des Grundkapitals, die Art und Weise der Kapitalaufbringung sowie Regelungen zu den Rücklagen und zur Ergebnisverwendung. Auch Vorschriften über die Vertretung und Geschäftsführung der Genossenschaft sowie über die Einberufung und Durchführung der Generalversammlung sind verpflichtend zu regeln. Zusätzlich müssen Bestimmungen über die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer getroffen werden, falls diese erforderlich sind. Änderungen der Satzung bedürfen der notariellen Beurkundung und sind dem zuständigen Registergericht zur Eintragung vorzulegen.
Welche Organe sind für die Leitung und Überwachung der Europäischen Genossenschaft vorgesehen?
Nach der SCE-Verordnung kann die Europäische Genossenschaft wahlweise ein dualistisches System (Vorstand und Aufsichtsrat) oder ein monistisches System (Verwaltungsrat) für die Leitung und Überwachung der Gesellschaft wählen. Im dualistischen Modell führt der Vorstand die Geschäfte der SCE und wird vom Aufsichtsrat kontrolliert. Der Aufsichtsrat bestellt und überwacht den Vorstand und ist gegenüber der Generalversammlung verantwortlich. Im monistischen Modell übernimmt ein Verwaltungsrat sowohl die Leitungs- als auch die Überwachungsaufgaben, wobei er aus Exekutiv- und Nicht-Exekutivmitgliedern besteht. Die Generalversammlung der Mitglieder bleibt in beiden Modellen das höchste Organ und entscheidet über grundlegende Angelegenheiten, wie Satzungsänderungen, Gewinnverwendung oder Auflösung der SCE. Die genaue Zusammensetzung und Zuständigkeit der Organe müssen in der Satzung geregelt werden, wobei stets die Vorgaben der SCE-Verordnung und des jeweils anwendbaren nationalen Rechts zu beachten sind.
Wie gestaltet sich der Gläubigerschutz im Rahmen der Europäischen Genossenschaft?
Der Gläubigerschutz wird bei der Europäischen Genossenschaft insbesondere durch das Erfordernis eines Mindestkapitals von 30.000 Euro und die Eintragung ins Handelsregister gewährleistet, welche die Genossenschaft als juristische Person mit eigenem Vermögen ausstattet. Weitere Schutzmechanismen ergeben sich aus den Publizitäts- und Offenlegungspflichten, wie beispielsweise der Pflicht zur Vorlage von Jahresabschlüssen nach international anerkannten Rechnungslegungsstandards. Außerdem ist jede Kapitalherabsetzung mit besonderen Sicherungsmaßnahmen für Gläubiger verbunden. Im Insolvenzfall greifen die einschlägigen nationalen Insolvenzvorschriften des Sitzstaates. Transaktionen, die zur Schmälerung des Genossenschaftsvermögens führen, sind beschränkt; Gewinne dürfen nur insoweit an Mitglieder verteilt werden, als dies nicht den gesetzlichen und satzungsmäßigen Rücklagen widerspricht. Schließlich ist die Nachschusspflicht ein potenzielles Instrument für zusätzlichen Gläubigerschutz, sofern sie in der Satzung der SCE geregelt ist.
Welche nationalen Vorschriften sind neben der SCE-Verordnung maßgeblich?
Neben der unmittelbar geltenden SCE-Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 gelten für die Europäische Genossenschaft diejenigen nationalen Vorschriften des Sitzstaates, die nicht durch die Verordnung geregelt werden. Dies betrifft unter anderem Fragen des Gesellschafts-, Steuer-, Insolvenz- und Arbeitsrechts, aber auch Formalien bei der Sitzverlegung innerhalb der EU sowie die Registerführung. In Deutschland gilt das Gesetz zur Einführung der Europäischen Genossenschaft (SCE-Ausführungsgesetz, SCEAG), das insbesondere die Registeranmeldung, die Leitung und Überwachung sowie den Arbeitnehmerschutz konkretisiert. Bei Lücken der Verordnung oder bei Abweichungen hat das nationale Recht des Registerstaates ergänzende oder vorrangige Bedeutung, soweit dies mit dem Ziel eines einheitlichen europäischen Gesellschaftsrechts vereinbar ist.
Wie werden Arbeitnehmerrechte und Mitbestimmung bei der SCE gewährleistet?
Arbeitnehmerrechte und die Mitbestimmung in der Europäischen Genossenschaft sind Gegenstand spezifischer europarechtlicher Regelungen. Vor oder während der Gründung ist ein Mitbestimmungsverfahren mit den Arbeitnehmervertretern einzuleiten, durch das ein Beteiligungssystem auf europäischer Ebene festgelegt wird (vgl. Richtlinie 2003/72/EG zur Ergänzung des Statuts der SE bezüglich der Beteiligung der Arbeitnehmer). Sollten die beteiligten Parteien keine Einigung erzielen, greifen die festgelegten Auffangregelungen der jeweiligen nationalen Gesetzgebung, die häufig weitreichende Informations-, Anhörungs- und Mitentscheidungsrechte vorsehen. In der Satzung sind entsprechende Bestimmungen aufzunehmen, und die Umsetzung wird spätestens mit der Eintragung der SCE in Kraft gesetzt. Die Einhaltung dieser Mitbestimmungsrechte ist Voraussetzung für die Eintragung der SCE und deren rechtliche Existenz.