Europäische Gemeinschaft (EG) – Begriff und Rechtsnatur
Die Europäische Gemeinschaft (EG) war bis Ende 2009 die zentrale rechtsfähige Gemeinschaft innerhalb der europäischen Integration. Sie ging aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hervor und vereinigte die wesentlichen politischen und rechtlichen Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten in Bereichen wie Binnenmarkt, Wettbewerb, Handel, Landwirtschaft, Verkehr und Umwelt. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurde die EG in die Europäischen Union (EU) überführt; die EU trat als Rechtsnachfolgerin in sämtliche Rechte und Pflichten der EG ein. Seitdem wird der Begriff vor allem historisch oder zur Bezeichnung fortgeltender Rechtsakte verwendet (z. B. „EG-Verordnung“).
Historische Entwicklung
Von der EWG zur EG
Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wurde 1957 gegründet, um einen gemeinsamen Markt mit freiem Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zu schaffen. Mit dem Vertrag von Maastricht (1993) wurde die EWG in „Europäische Gemeinschaft (EG)“ umbenannt, um die über den reinen Wirtschaftsbereich hinausgehende Integration widerzuspiegeln.
Verhältnis zu den „Europäischen Gemeinschaften“ (Plural)
Der Ausdruck „Europäische Gemeinschaften“ bezeichnete die Gesamtheit der damaligen Gemeinschaften: die EG (früher EWG), die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (bis 2002) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom). Im allgemeinen Sprachgebrauch stand „EG“ häufig pars pro toto für die gesamte gemeinschaftsrechtliche Ordnung.
Aufgehen der EG in der EU (Vertrag von Lissabon)
Mit dem Vertrag von Lissabon (2009) erhielt die EU eigene Rechtspersönlichkeit, und die EG wurde in die EU integriert. Die EU übernahm alle Kompetenzen, Rechtsakte, Verträge und Vermögenswerte der EG. Nur Euratom blieb als eigenständige Gemeinschaft bestehen, teilt jedoch die institutionellen Strukturen mit der EU.
Institutionelle Ordnung
Organe und ihre Funktionen
- Europäische Kommission: Initiativrecht für Rechtsetzung, Überwachung der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, Vertretung nach außen in Gemeinschaftszuständigkeiten.
- Rat (der Europäischen Union): Vertretung der Mitgliedstaaten, zentrale Rolle in der Rechtsetzung und Koordinierung.
- Europäisches Parlament: Mitwirkung an der Gesetzgebung und Kontrolle, wachsende Mitentscheidungsrechte im Laufe der Reformverträge.
- Gerichtshof der Europäischen Union: Auslegung und Sicherung der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts; Kontrolle der Handlungen der Organe.
- Europäischer Rechnungshof: Kontrolle der Einnahmen und Ausgaben.
- Europäischer Rat: Politische Impulse und Leitlinien (kein Gesetzgeber der EG, aber richtungsgebend).
Rechtsetzung und Verfahren
Die EG kannte verschiedene Gesetzgebungsverfahren, insbesondere das Mitentscheidungsverfahren (heute: ordentliches Gesetzgebungsverfahren), das Zustimmungsverfahren und das Anhörungsverfahren. Je nach Rechtsgrundlage waren Kommission, Rat und Parlament in unterschiedlicher Weise beteiligt. Ergänzend bestanden Durchführungsmechanismen („Komitologie“) zur Ausgestaltung von Sekundärrecht.
Zuständigkeiten und Politikbereiche
Kompetenzordnung
Die EG handelte nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung: Zuständigkeiten beruhten auf ausdrücklichen Ermächtigungen im Primärrecht. In der Praxis ergaben sich folgende Kategorien:
- Ausschließliche Zuständigkeiten (z. B. Zollunion, wesentliche Teile der gemeinsamen Handelspolitik, Wettbewerbsregeln für den Binnenmarkt).
- Geteilte Zuständigkeiten (z. B. Umwelt, Verkehr, Verbraucherschutz, Binnenmarktregulierung, Landwirtschaft und Fischerei).
- Unterstützende oder koordinierende Zuständigkeiten (z. B. Kultur, Bildung, Gesundheit – mit begrenzten Harmonisierungsbefugnissen).
Subsidarität und Verhältnismäßigkeit prägten die Aufgabenteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten.
Zentrale Politikfelder der EG
- Binnenmarkt: Abbau von Handelshemmnissen, Anerkennung von Qualifikationen, Produkt- und Sicherheitsstandards.
- Wettbewerb: Kartellverbot, Fusionskontrolle, staatliche Beihilfenaufsicht.
- Gemeinsame Agrar- und Fischereipolitik: Marktordnungen, Förderinstrumente, Bewirtschaftungsregeln.
- Gemeinsame Handelspolitik: Abschluss von Handelsabkommen, Zolltarife, Antidumpingmaßnahmen.
- Verkehr, Energie, Umwelt, Verbraucher- und Gesundheitsschutz: sektorspezifische Regelungen und Mindeststandards.
- Freizügigkeiten: Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Kapitalverkehr.
- Forschung, technologischer Fortschritt, Kohäsion: Programme und Fonds zur Angleichung der Lebensverhältnisse.
Rechtsquellen und Rechtswirkung
Primärrecht und Sekundärrecht
Das Primärrecht umfasste die Gründungs- und Änderungsverträge sowie Beitrittsverträge. Darauf aufbauend erließ die EG Sekundärrecht:
- Verordnungen: allgemein geltend und unmittelbar in allen Mitgliedstaaten anwendbar.
- Richtlinien: verbindlich hinsichtlich des zu erreichenden Ziels; Umsetzung in nationales Recht erforderlich.
- Entscheidungen: verbindlich für die jeweils bezeichneten Adressaten.
- Empfehlungen und Stellungnahmen: rechtlich nicht verbindlich.
Grundprinzipien der Anwendung
- Vorrang: Gemeinschaftsrecht ging bei Konflikten nationalem Recht vor, um einheitliche Anwendung zu sichern.
- Unmittelbare Wirkung: Bestimmte Normen konnten Einzelnen Rechte verleihen, die vor nationalen Gerichten geltend gemacht werden konnten.
- Staatliche Haftung: Bei qualifizierten Verstößen gegen Gemeinschaftsrecht konnte ein Entschädigungsanspruch bestehen.
- Loyale Zusammenarbeit: Mitgliedstaaten und Organe unterstützten sich gegenseitig bei der Erfüllung gemeinschaftlicher Aufgaben.
Durchsetzung und Kontrolle
Vertragsverletzungsverfahren
Die Kommission überwachte die Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Bei mutmaßlichen Verstößen leitete sie ein Verfahren ein, das zu einer gerichtlichen Feststellung eines Verstoßes führen konnte.
Vorabentscheidungsverfahren
Nationale Gerichte konnten dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung oder Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts vorlegen. Dieses Verfahren sicherte die einheitliche Anwendung in allen Mitgliedstaaten.
Individueller Rechtsschutz
Einzelne, Unternehmen und Mitgliedstaaten konnten Handlungen der Organe anfechten oder Untätigkeit rügen, soweit die prozessualen Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt waren. Zudem standen nationale Rechtswege offen, um aus Gemeinschaftsrecht abgeleitete Ansprüche geltend zu machen.
Außenbeziehungen und Völkerrecht
Internationale Vertretung und Abkommen
Die EG schloss völkerrechtliche Abkommen, insbesondere im Handel und in sektorspezifischen Bereichen. Je nach Zuständigkeitsverteilung kamen auch sogenannte Mischabkommen zustande, an denen sowohl die Gemeinschaft als auch die Mitgliedstaaten beteiligt waren. Die EG war in relevanten internationalen Organisationen vertreten, etwa im Welthandelssystem.
Kontinuität nach 2009
Mit der Rechtsnachfolge gingen sämtliche internationalen Verträge, Rechte und Pflichten der EG auf die EU über. Entsprechende Abkommen gelten fort, bis sie geändert oder aufgehoben werden. Dasselbe gilt für Sekundärrecht der EG, das weiterhin Anwendung findet, soweit es nicht ersetzt wurde.
Mitgliedschaft und Erweiterung
Aufnahme neuer Staaten
Beitritte zur EG erfolgten durch Beitrittsverträge, die Rechte und Pflichten sowie Übergangsregelungen festlegten. Mit jeder Erweiterung wuchs der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts.
Austritt und Sonderfälle
Ein förmlicher Austrittsmechanismus prägt heute die EU. In der EG-Zeit kam es nur zu vereinzelten Sonderkonstellationen, in denen Gebiete ihren Status im Verhältnis zur Gemeinschaft änderten.
Abgrenzungen
EG und EU
Vor 2009 war die EG Trägerin der meisten integrationspolitischen Zuständigkeiten, während die EU als Dachkonstruktion mit zusätzlichen Politikbereichen (insbesondere Außen- und Sicherheitspolitik sowie justizielle Zusammenarbeit) auftrat. Seit 2009 ist die EU alleinige Rechtsperson.
EG und Euratom
Euratom blieb neben der EG stets eine eigene Gemeinschaft mit eigenem Vertrag, teilte jedoch die Organe. Nach 2009 besteht Euratom fort, organisatorisch eng mit der EU verbunden.
Die „Säulenstruktur“ vor 2009
Die EU war in drei Säulen gegliedert: die Gemeinschaftssäule (EG), die Außen- und Sicherheitspolitik sowie die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit. Mit Lissabon wurde diese Struktur aufgehoben und in ein einheitliches Gefüge überführt.
Bedeutung heute
Der Begriff „Europäische Gemeinschaft (EG)“ ist heute vorrangig rechtshistorisch. Er ist weiterhin relevant, um ältere Rechtsakte, Verträge, Zuständigkeiten und die dogmatische Entwicklung der europäischen Rechtsordnung zu verstehen. Viele Regelungen der EG wirken fort; sie werden als Teil des gemeinsamen Besitzstands aufgefasst, den neue Mitgliedstaaten mit dem Beitritt übernehmen.
Häufig gestellte Fragen
Ist die Europäische Gemeinschaft (EG) noch eine eigenständige Organisation?
Nein. Die EG wurde 2009 in die Europäische Union integriert. Die EU ist Rechtsnachfolgerin und Trägerin aller früheren Rechte und Pflichten der EG.
Was bedeutet die Rechtsnachfolge der EU in Bezug auf frühere EG-Rechtsakte?
Frühere EG-Verordnungen, -Richtlinien und -Entscheidungen gelten fort, bis sie geändert oder aufgehoben werden. Die EU führt diese Rechtsakte in eigener Verantwortung weiter.
Gelten die Prinzipien wie Vorrang und unmittelbare Wirkung weiterhin?
Ja. Die tragenden Prinzipien zur Anwendung und Durchsetzung des supranationalen Rechts gelten in der heutigen EU fort und sichern eine einheitliche Rechtsanwendung.
Worin unterschied sich die institutionelle Struktur der EG von der heutigen EU?
Die wesentlichen Organe sind dieselben. Der Unterschied besteht darin, dass die EU seit 2009 selbst Rechtspersönlichkeit besitzt und die frühere Trennung zwischen Gemeinschaft und anderen Politikbereichen aufgehoben wurde.
Was war der Unterschied zwischen „EG“ und „Europäischen Gemeinschaften“?
„EG“ bezeichnete die zentrale Gemeinschaft (früher EWG). „Europäische Gemeinschaften“ war ein Sammelbegriff für EG, Euratom und bis 2002 die Gemeinschaft für Kohle und Stahl.
Welche Rolle hatte die EG in der Außenhandelspolitik?
Die EG handelte Handelsabkommen, setzte gemeinsame Zölle fest und vertrat die Mitgliedstaaten gegenüber Drittstaaten und internationalen Organisationen in den erfassten Bereichen.
Sind Verweise auf „EG-Verordnungen“ und „EG-Richtlinien“ noch korrekt?
Ja, sofern es sich um Rechtsakte aus der Zeit vor 2009 handelt. Inhaltlich gelten sie fort; heute werden neue Rechtsakte als „EU-Verordnung“ oder „EU-Richtlinie“ erlassen.
Wie wirkte sich die Auflösung der Säulenstruktur auf die frühere EG aus?
Die Kompetenzen der EG gingen vollständig in die EU über. Die zuvor getrennten Politikbereiche wurden in einem einheitlichen Rechtsrahmen zusammengeführt.