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Europäische Aktiengesellschaft


Begriff und Rechtsgrundlagen der Europäischen Aktiengesellschaft

Die Europäische Aktiengesellschaft (lateinisch: Societas Europaea, abgekürzt SE) ist eine Gesellschaftsform des europäischen Gesellschaftsrechts, die Unternehmen die Möglichkeit bietet, grenzüberschreitend innerhalb der Europäischen Union (EU) und des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zu operieren. Die SE ist im Jahr 2004 mit Inkrafttreten der europäischen SE-Verordnung geschaffen worden und ermöglicht die einheitliche Rechtsform für große Kapitalgesellschaften mit überstaatlicher Tätigkeit.

Die rechtliche Basis der Europäischen Aktiengesellschaft findet sich in der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) sowie in der Richtlinie 2001/86/EG zur Ergänzung des Statuts hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer. Ergänzend finden die nationalen Vorschriften Anwendung, insbesondere hinsichtlich solcher Aspekte, die nicht abschließend durch die SE-Verordnung geregelt werden.


Entstehung und Gründung der Europäischen Aktiengesellschaft

Gründungsvoraussetzungen

Die SE kann grundsätzlich nur von bereits bestehenden Gesellschaften gegründet werden. Die Gründung ist ausschließlich für bestimmte Gesellschaftstypen wie Aktiengesellschaften (Aktiengesellschaft, AG), Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) oder anderen gleichwertigen Rechtsformen möglich; natürliche Personen sind von diesem Gründungsverfahren ausgenommen.

Die SE kann auf vier unterschiedlichen Wegen errichtet werden:

  • Verschmelzung (Fusion) zweier oder mehrerer Aktiengesellschaften aus unterschiedlichen EU-Mitgliedstaaten (Art. 2 Abs. 1 SE-VO)
  • Gründung einer Holding-SE durch Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung aus mindestens zwei verschiedenen EU-Mitgliedstaaten (Art. 2 Abs. 2 SE-VO)
  • Gründung einer gemeinsamen Tochter-SE durch Gesellschaften oder andere juristische Personen nach öffentlichem oder privatem Recht aus mindestens zwei verschiedenen Mitgliedstaaten (Art. 2 Abs. 3 SE-VO)
  • Umwandlung einer nationalen Aktiengesellschaft in eine SE, falls diese mindestens seit zwei Jahren eine Tochtergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat hat (Art. 2 Abs. 4 SE-VO)

Mindestkapital und Sitz

Das Grundkapital einer SE muss mindestens 120.000 Euro betragen (Art. 4 Abs. 2 SE-VO). Die Satzung kann ein höheres Mindestkapital vorsehen. Der Sitz der SE muss identisch mit der Hauptverwaltung sein und innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums liegen.


Organstruktur und Unternehmensverfassung

Die Europäische Aktiengesellschaft zeichnet sich durch eine flexible Organstruktur aus. Die Gründer haben die Wahl zwischen einem dualistischen System (Vorstand und Aufsichtsrat) und einem monistischen System (Verwaltungsrat).

Dualistisches System

  • Vorstand: Leitungsorgan, dem die Geschäftsführung der Gesellschaft obliegt.
  • Aufsichtsrat: Überwachungsorgan, das die Aktivitäten des Vorstands kontrolliert und bestimmte Geschäftsführungsmaßnahmen genehmigen kann.

Monistisches System

  • Verwaltungsrat: Vereint die Aufgaben von Geschäftsführung und Überwachung teilweise in einem Gremium. Der Verwaltungsrat bestellt einen oder mehrere Geschäftsleiter (managing directors) für die laufende Geschäftsführung.

Arbeitnehmerbeteiligung

Besondere Bedeutung kommt der Arbeitnehmerbeteiligung zu (geregelt in der Richtlinie 2001/86/EG), die bei der Gründung einer SE zwingend zu beachten ist. Bestehende Beteiligungsrechte dürfen durch die Gründung einer SE grundsätzlich nicht verschlechtert werden. Das Beteiligungsverfahren erfolgt entweder durch Verhandlungen mit den Arbeitnehmervertretern oder, falls diese scheitern, durch Anwendung eines gesetzlich festgelegten Auffangmodells („Standardreglung“).


Mitbestimmung und Arbeitnehmerbeteiligung

Verhandlungsverfahren

Vor der Eintragung einer SE ist ein spezielles Verhandlungsverfahren über die Beteiligung der Arbeitnehmer vorgesehen. Ein besonderes Verhandlungsgremium, bestehend aus Arbeitnehmervertretern aus allen betroffenen Staaten, verhandelt mit den Unternehmenseigentümern über Mitbestimmungsrechte, insbesondere über die Zusammensetzung der Gesellschaftsorgane.

Auffangregelung

Können sich die Parteien nicht auf eine Regelung einigen, greift die in der jeweiligen nationalen Umsetzung gesetzlich vorgesehene Auffangregelung. Diese orientiert sich an bereits bestehenden Mitbestimmungsmodellen (z. B. deutsches Mitbestimmungsgesetz).


Rechtliche Stellung, Haftung und Sitzverlegungsmöglichkeiten

Rechtspersönlichkeit

Die SE ist im Rechtsverkehr eine eigenständige juristische Person mit voller Rechtsfähigkeit. Sie kann unter ihrer Firma Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen, klagen und verklagt werden.

Haftung

Für Verbindlichkeiten der Gesellschaft haftet ausschließlich das Gesellschaftsvermögen. Eine persönliche Haftung der Aktionäre ist ausgeschlossen (Art. 1 Abs. 2 SE-VO).

Sitzverlegung

Ein bedeutsames Merkmal der SE ist die mögliche Sitzverlegung innerhalb des EWR-Raums, ohne die Auflösung der Gesellschaftsstruktur (Art. 8 SE-VO). Dies ermöglicht eine flexible Reaktion auf wirtschaftliche oder rechtliche Veränderungen in den einzelnen Mitgliedstaaten.


Rechtliche Einordnung, Vorteile und Nachteile

Vorrang des europäischen Rechts

Für die SE gilt der Vorrang des europäischen Rechts. Die SE-Verordnung regelt die Grundstruktur, für Bereiche, die nicht oder nicht abschließend geregelt sind, findet das nationale Recht des Sitzstaats Anwendung.

Vorteile

  • Grenzüberschreitende Verschmelzungen und organisatorische Flexibilität
  • Wahlmöglichkeit zwischen dualistischer und monistischer Leitungsstruktur
  • Erleichterte Sitzverlegung im EWR
  • Einheitliche Aktiengattung und Aktienübertragbarkeit im Binnenmarkt

Nachteile

  • Komplexes Gründungsverfahren, insbesondere wegen der Mitbestimmungsregeln
  • Mindestkapitalanforderungen
  • Teilweise aufwändiges Verhandlungsverfahren mit Arbeitnehmervertretern
  • Hohe Anforderungen an Registereintragungen und Offenlegungspflichten

Eintragung und Publizität

Handelsregister und Veröffentlichungspflichten

Die Eintragung der SE erfolgt im Handelsregister des Sitzstaats. Mit der Eintragung entsteht die SE als juristische Person. Öffentliche Bekanntmachungen müssen entsprechend den EU-weiten Veröffentlichungsvorschriften und im Amtsblatt der Europäischen Union erfolgen.


Auflösung und Umwandlung

Eine SE kann aufgelöst werden durch:

  • Beschluss der Hauptversammlung
  • Ablauf der in der Satzung festgelegten Frist
  • Insolvenzverfahren
  • Übernahme durch Fusion, Spaltung oder sonstige Umwandlungsmaßnahmen
  • Sitzverlegung in einen Drittstaat

Die Umwandlung in eine andere Gesellschaftsform ist unter Wahrung der EU-rechtlichen Vorgaben möglich.


Fazit und Ausblick

Die Europäische Aktiengesellschaft bietet eine moderne, flexible Gesellschaftsform für supranationale Unternehmen mit Haupttätigkeit in der EU und im EWR. Die SE kombiniert grenzüberschreitende Gestaltungsfreiheit mit Schutzmechanismen für Gesellschafter und Arbeitnehmer. Durch die fortschreitende wirtschaftliche Integration und Harmonisierung des europäischen Gesellschaftsrechts gewinnt die SE weiterhin an Bedeutung. Ihre Relevanz wird durch zahlreiche Praxisfälle sowie anhaltende rechtliche Weiterentwicklungen weiterhin wachsen.


Quellen:

  • Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE)
  • Richtlinie 2001/86/EG zur Ergänzung des Statuts der SE hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer
  • §§ 341-342 AktG (Deutschland)
  • Bundesministerium der Justiz (Deutschland): Informationen zur Europäischen Aktiengesellschaft
  • Literaturhinweise und Kommentare zum Gesellschaftsrecht (z.B. Münchener Kommentar zum Aktiengesetz)

Häufig gestellte Fragen

Welche Organe sind für die Europäische Aktiengesellschaft (SE) gesetzlich vorgeschrieben?

Die Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea, SE) muss aufgrund der zugrunde liegenden europäischen Verordnung (VO EG Nr. 2157/2001) über die SE zwingend bestimmte Organe haben. Vorgeschrieben sind grundsätzlich das Leitungsorgan (entweder Vorstand bei dualistischem System oder Geschäftsleitung im monistischen System) sowie das Aufsichtsorgan (Aufsichtsrat oder Verwaltungsrat). Die SE kann sich für ein dualistisches Modell nach deutschem Vorbild mit Vorstand und Aufsichtsrat entscheiden oder das monistische System mit Verwaltungsrat wählen. Darüber hinaus ist zwingend eine Hauptversammlung der Aktionäre vorgesehen. Die Aufgaben, Rechte, Pflichten und Bildung dieser Organe richten sich nach der SE-Verordnung sowie subsidiär nach dem nationalen Aktienrecht des Sitzstaates, also beispielsweise dem deutschen Aktiengesetz. Insbesondere bestehen Anforderungen an die Zusammensetzung, die Einberufung, die Beschlussfassung sowie an die Vertretungsbefugnis der einzelnen Organe.

Welche Mitbestimmungsregelungen gelten bei der Europäischen Aktiengesellschaft (SE)?

Die Mitbestimmung in der SE ist ein zentrales rechtliches Thema, da solche Gesellschaften häufig durch grenzüberschreitende Umwandlungen entstehen. Die Regelungen ergeben sich aus der SE-Richtlinie 2001/86/EG, die durch nationale Gesetze umgesetzt wurde (in Deutschland das SE-Beteiligungsgesetz – SEBG). Vor der Eintragung einer SE ist zwingend ein Verfahren zur Vereinbarung der Arbeitnehmerbeteiligung durchzuführen. Bleibt dieses Verfahren erfolglos, greifen Auffangregelungen, nach denen die bisherige Mitbestimmungsstruktur grundsätzlich fortgeführt wird, sofern eine solche in den Gründungsgesellschaften bestand (sogenannter Bestandsschutz). Die Mitbestimmung kann dabei, je nach Ergebnis des Verhandlungsverfahrens, auf europäischer Ebene ausgestaltet werden und die Besetzung des Aufsichts- bzw. Verwaltungsorgans umfassen. Nationale Mitbestimmungsrechte dürfen durch die Gründung einer SE grundsätzlich nicht unterlaufen werden.

Wie erfolgt die Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE) rechtlich?

Die Gründung einer SE ist nur unter bestimmten, von der SE-Verordnung festgelegten Voraussetzungen möglich. Erlaubt sind vier Gründungswege: Verschmelzung von Aktiengesellschaften aus mindestens zwei verschiedenen EU-/EWR-Staaten, Gründung einer Holding-SE durch Aktiengesellschaften und ggf. andere Kapitalgesellschaften aus mehreren Mitgliedstaaten, Gründung einer gemeinsamen Tochter-SE oder die Umwandlung einer bestehenden nationalen Aktiengesellschaft, sofern diese mindestens eine Tochtergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat hat. Die Gründung erfordert einen schriftlichen Gründungsplan, Zustimmung der Hauptversammlungen, gegebenenfalls Genehmigungen der zuständigen Behörden in den beteiligten Ländern sowie die Durchführung der Mitbestimmungsverhandlungen. Die SE muss im Handelsregister des Sitzstaats eingetragen werden; erst dann erlangt sie Rechtspersönlichkeit.

Was sind die mindestkapitalrechtlichen Anforderungen an eine SE?

Nach Art. 4 der SE-Verordnung muss das Grundkapital einer Europäischen Aktiengesellschaft mindestens 120.000 Euro betragen. Die Einbringung dieses Kapitals kann bar oder als Sacheinlage erfolgen, wobei nationale Vorschriften über Sacheinlagen ergänzend zur Anwendung kommen. Ferner können nationale Regelungen ein höheres Mindestkapital vorsehen, sofern die betreffende Gesellschaft in einem bestimmten Sektor tätig ist, der nach nationalem Recht erhöhte Anforderungen vorsieht (z. B. Banken, Versicherungen). Das Kapital muss bei Gründung vollständig gezeichnet und entsprechend den gesetzlichen Vorgaben eingezahlt werden. Die Regelungen des jeweiligen Sitzstaates zur Kapitalerhaltung finden ergänzend Anwendung.

Welche Publizitäts- und Offenlegungspflichten unterliegt eine SE?

Europäische Aktiengesellschaften unterliegen umfangreichen Publizitäts- und Offenlegungspflichten, die sich sowohl aus der SE-Verordnung als auch aus dem Aktienrecht des Sitzstaates ergeben. Hierzu zählen insbesondere die Veröffentlichung der Satzung, der Gründungsdokumente, der Jahresabschlüsse, der Änderungen in den Organen und im Grundkapital sowie der Unternehmensmitteilungen im jeweiligen Handelsregister und im Amtsblatt der Europäischen Union. Jede Veränderung in Bezug auf Sitz, Satzung, Organbesetzung oder das Kapital muss zeitnah publiziert werden. Nationale Regelungen, wie etwa §§ 325 ff. HGB in Deutschland, können zusätzlich strengere Anforderungen an die Rechnungslegung und Offenlegungspflichten normieren, die für SEs im jeweiligen Staat verbindlich sind.

Können nationale Vorschriften das Recht der SE ergänzen oder verdrängen?

Ja, nationale Vorschriften kommen ergänzend zur SE-Verordnung zur Anwendung, soweit diese keine Regelung trifft oder explizit auf nationales Recht verweist. Die SE-Verordnung ist zwar auf europäischer Ebene unmittelbar anwendbar und geht widersprechenden nationalen Regelungen vor, doch greift sie nicht lückenlos alle Fragen auf. So finden beispielsweise Regelungen über das Insolvenzrecht, über die Besteuerung, Arbeitsrecht oder spezifische Verwaltungsvorschriften weiterhin ausschließlich nach dem Recht des Sitzstaates Anwendung. In Bereichen, in denen die SE-Verordnung keine abschließende Regelung enthält, kommen nationale Vorschriften zur Geltung, sofern sie nicht im Widerspruch zu den Grundprinzipien der SE stehen. Dies führt zu einer engen Verschränkung von Unionsrecht und nationalem Recht.

Wie kann der Sitz einer Europäischen Aktiengesellschaft verlegt werden?

Die SE besitzt gemäß Art. 8 SE-VO das Recht, ihren satzungsmäßigen Sitz innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zu verlegen, ohne dabei ihre Rechtspersönlichkeit zu verlieren. Das Verfahren setzt einen Beschluss der Hauptversammlung voraus, der mit einer qualifizierten Mehrheit getroffen werden muss. Ein Umzugsplan sowie ein Umzugsbericht sind zu erstellen und offenzulegen. Die Interessen von Gläubigern, Arbeitnehmern und Anteilseignern müssen durch Sicherungsmaßnahmen geschützt werden. Das Register des bisherigen Sitzstaates darf die Löschung erst vornehmen, wenn feststeht, dass die Gesellschaft im neuen Staat ordnungsgemäß eingetragen ist. Das Verfahren wird durch nationale Vorschriften des Sitzstaates konkretisiert, in Deutschland z. B. durch besondere Registerverfahren und Gläubigerschutzvorschriften nach dem Umwandlungsgesetz.