EU-Zinsrichtlinie
Die EU-Zinsrichtlinie (Richtlinie 2003/48/EG des Rates vom 3. Juni 2003 über die Besteuerung von Zinserträgen) war ein europäisches Rechtsinstrument, das die effektive Besteuerung von Zinserträgen natürlicher Personen innerhalb der Europäischen Union gewährleisten sollte. Ziel war es, Steuerhinterziehung im Hinblick auf grenzüberschreitend erzielte Zinserträge zu verhindern und Transparenz im Finanzverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu schaffen.
Hintergrund und Entstehungsgeschichte
Steuerliche Ausgangssituation vor Einführung der Richtlinie
Vor Einführung der EU-Zinsrichtlinie bestand in den EU-Mitgliedstaaten keine einheitliche Regelung bezüglich der Besteuerung von Grenzüberschreitenden Zinserträgen. Dies führte dazu, dass natürliche Personen ihre Kapitalanlagen häufig in Staaten mit geringer oder keiner Besteuerung platzierten. Hierdurch bestand ein erhebliches Risiko der Steuerumgehung und Steuerflucht innerhalb des Europäischen Binnenmarktes.
Zielsetzung der EU-Zinsrichtlinie
Die Richtlinie sollte sicherstellen, dass Zinserträge von Ansässigen eines Mitgliedstaates, die aus einem anderen Mitgliedstaat stammen, in ihrem Wohnsitzstaat besteuert werden können. Die Etablierung eines automatischen Informationsaustauschs zwischen den Steuerverwaltungen war Kernelement der angestrebten Regelung. Damit sollte die gegenseitige Unterstützung der Finanzbehörden verbessert und der Steuerwettbewerb gemindert werden.
Regelungsinhalt der EU-Zinsrichtlinie
Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich
Die EU-Zinsrichtlinie erfasste Zinserträge, die an natürliche Personen mit steuerlichem Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat gezahlt wurden. Die Regelungen galten für Zinszahlungen, die von einem „Zahlstellenstaat“ ausgingen, also meist Banken oder anderen Finanzinstituten mit Sitz im jeweiligen EU-Land.
Ausgenommen waren juristische Personen und bestimmte Organstrukturen, die nicht als wirtschaftlich berechtigte Personen galten. Die Richtlinie erfasste folgende Arten von Zinserträgen:
- Zinsen aus Forderungen jeder Art einschließlich Staatspapieren und Schuldverschreibungen,
- Einkünfte aus dem Verkauf bestimmter Forderungsrechte (z.B. Zero-Bonds),
- Bestimmte Zinskomponenten aus Investmentfonds, soweit diese in Forderungswertpapiere investierten.
Verpflichtungen der Zahlstellen
Finanzinstitute waren verpflichtet, die durch sie ausgezahlten oder gutgeschriebenen Zinserträge an die Steuerbehörden des Ansässigkeitsstaates der berechtigten Person zu melden. In bestimmten Übergangsperioden behielten einige Mitgliedstaaten (etwa Luxemburg, Österreich bis zum Auslaufen der Richtlinie) anstelle des automatischen Informationsaustauschs eine Quellensteuer auf die Zinserträge ein und führten einen Teil des Steueraufkommens an die Wohnsitzstaaten ab.
Informationsaustausch und Datenschutz
Ein wesentliches Element der EU-Zinsrichtlinie war der automatische Informationsaustausch: Jeder Mitgliedstaat hatte mindestens einmal jährlich Informationen über Zinserträge an andere betroffene Mitgliedstaaten zu übermitteln. Zu den im Austausch vorgesehenen Daten gehörten Name und Adresse des Anlegers, Name und Anschrift des Zahlers der Zinsen, der Betrag der Zinszahlung sowie der Wohnsitzstaat des Anlegers. Der Datenschutz wurde durch bestehende Rechtsakte der EU und nationale Gesetze zusätzlich gewährleistet.
Umsetzungen und Wirkungen in den Mitgliedstaaten
Nationale Umsetzung
Die Mitgliedstaaten waren dazu verpflichtet, die EU-Zinsrichtlinie bis zum 1. Juli 2005 in nationales Recht umzusetzen. Deutschland setzte die Richtlinie durch das Gesetz über die Durchführung der EG-Richtlinie über die Besteuerung von Zinserträgen vom 21. Juni 2005 um (Zinsinformationsverordnung – ZIV).
Herausforderungen in der Praxis
Die Richtlinie stieß auf verschiedene praktische Herausforderungen. Eine der zentralen Probleme waren die Ausweichstrategien mittels Gestaltung über zwischengeschaltete Gesellschaften und Investmentvehikel, die nicht von der Richtlinie erfasst wurden. Zudem wurde die Wirksamkeit des Quellensteuerverfahrens angezweifelt, da dieses nur eine begrenzte Wirkung auf die Steuermotivationen der Anleger ausübte.
Reform und Aufhebung der EU-Zinsrichtlinie
Novellierung und Erweiterung der Richtlinie
Aufgrund verschiedener Schlupflöcher und unzureichender Regelungsreichweite wurde die EU-Zinsrichtlinie 2014 überarbeitet (Richtlinie 2014/48/EU). Die Novellierung erweiterte sowohl den persönlichen als auch den sachlichen Anwendungsbereich, insbesondere im Hinblick auf Stiftungen, Trusts und andere Konstrukte, die zur Steuerumgehung genutzt werden konnten.
Ersetzung durch den Common Reporting Standard (CRS)
Mit der Einführung des Gemeinsamen Melde- und Sorgfaltsstandards (Common Reporting Standard – CRS) der OECD wurde der rechtliche Rahmen für den internationalen Informationsaustausch innerhalb der EU restrukturiert. Die neue Rechtsgrundlage in diesem Bereich bildet nun die EU-Amtshilferichtlinie (Richtlinie 2011/16/EU in der geänderten Fassung „DAC2“), die den CRS vollständig auf europäischer Ebene implementiert.
Außerkrafttreten
Die EU-Zinsrichtlinie wurde durch die Richtlinie 2015/2060/EU des Rates mit Wirkung zum 1. Januar 2016 für die meisten Mitgliedstaaten aufgehoben. Die letzten Umsetzungsregelungen traten sukzessive bis zum 1. Januar 2017 außer Kraft.
Bedeutung und Nachwirkungen
Resümee und Auswirkungen auf die Steuerpolitik
Die EU-Zinsrichtlinie markiert einen Meilenstein bei der Bekämpfung von Steuerflucht und ist als Vorläufer des heutigen internationalen Informationsaustauschs zu bewerten. Sie legte die Grundlage für die Schaffung einheitlicher Standards im grenzüberschreitenden Steuerrecht und trug maßgeblich zur internationalen Kooperation der Steuerbehörden bei.
Verhältnis zu weiteren EU-Regelungen
Mit der Einführung von DAC2 und CRS wurde das Ziel der Richtlinie – die Bekämpfung von Steuerflucht und die Förderung der Steuergerechtigkeit – im noch umfassenderen Maße und mit weitergehenden Berichtspflichten implementiert. Die Steuerbehörden verfügen durch die aktuellen Regelungen über umfangreiche Instrumente zur grenzüberschreitenden Aufklärung von Kapitaleinkünften natürlicher Personen.
Literatur und weiterführende Regelungen
- Richtlinie 2003/48/EG über die Besteuerung von Zinserträgen
- Richtlinie 2011/16/EU über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung (DAC)
- Richtlinie 2014/48/EU zur Änderung der EU-Zinsrichtlinie
- Richtlinie 2015/2060/EU zur Aufhebung der Richtlinie 2003/48/EG
Weblinks
Hinweis: Diese Darstellung stellt eine umfassende Zusammenfassung der historischen und gegenwärtigen Rechtslage rund um die EU-Zinsrichtlinie dar. Die aktuelle steuerliche Behandlung von Zinserträgen richtet sich nach der EU-Amtshilferichtlinie (DAC2) sowie dem globalen Common Reporting Standard (CRS).
Häufig gestellte Fragen
Welche Pflichten auferlegt die EU-Zinsrichtlinie den Mitgliedstaaten hinsichtlich des Informationsaustauschs?
Die EU-Zinsrichtlinie (Richtlinie 2003/48/EG) verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, einen automatischen Informationsaustausch über Zinseinkünfte natürlicher Personen, die in einem anderen EU-Staat ansässig sind, durchzuführen. Kreditinstitute und bestimmte andere Wirtschaftsbeteiligte, die als Zahlstellen fungieren, müssen die relevanten Informationen zu Zinszahlungen an die nationalen Steuerbehörden melden. Anschließend sind die Steuerbehörden der Melde-Mitgliedstaaten verpflichtet, diese Informationen jährlich systematisch an die Steuerbehörden des Wohnsitzstaates des Nutznießers weiterzuleiten. Ziel dieser Pflicht ist es, Steuerhinterziehung durch Kapitalerträge grenzüberschreitend einzudämmen und eine effektive Besteuerung im Wohnsitzstaat zu gewährleisten.
Inwieweit werden Ausnahmen von der Anwendung der EU-Zinsrichtlinie ermöglicht?
Die EU-Zinsrichtlinie sieht bestimmte Ausnahmen und Übergangsregelungen vor. Beispielsweise konnten einige Mitgliedstaaten, darunter Österreich und Luxemburg, für eine Übergangszeit ein Quellensteuersystem anwenden, anstatt den automatischen Informationsaustausch umzusetzen. Diese Mitgliedstaaten behielten einen Prozentsatz der Zinsen als Steuer ein und leiteten einen Teil davon anonym an den Wohnsitzstaat des Nutznießers weiter. Außerdem unterliegt die Richtlinie Einschränkungen bezüglich bestimmter Finanzprodukte, auf die sie nicht anwendbar ist, wie zum Beispiel Zinsen aus strukturierten Produkten oder bestimmten gebündelten Finanzinstrumenten, sofern die Voraussetzungen dafür gegeben sind.
Wie wirkt sich die EU-Zinsrichtlinie auf grenzüberschreitende Steuerpflichten aus?
Im rechtlichen Kontext bewirkt die EU-Zinsrichtlinie eine verstärkte Transparenz hinsichtlich grenzüberschreitender Zinseinkünfte. Das bedeutet, dass Zinserträge, die an eine im Ausland innerhalb der EU ansässige natürliche Person gezahlt werden, nicht länger ohne Kenntnis der Steuerbehörden des Ansässigkeitsstaates bleiben. Daraus folgt eine erhöhte Verpflichtung der betroffenen Steuerpflichtigen, entsprechende Erträge korrekt und vollständig in ihren Steuererklärungen im Wohnsitzstaat anzugeben. Gleichzeitig steigt die Haftung der meldepflichtigen Zahlstellen, da sie für die ordnungsgemäße Datenweitergabe und deren Qualität verantwortlich sind.
Welche Datenschutzanforderungen müssen beim Informationsaustausch nach der EU-Zinsrichtlinie beachtet werden?
Beim automatischen Informationsaustausch nach der EU-Zinsrichtlinie werden personenbezogene Daten übermittelt, weshalb sämtliche diesbezüglichen Datenschutzbestimmungen der EU beachtet werden müssen. Die Übermittlung und Verarbeitung der Daten muss zweckgebunden und verhältnismäßig erfolgen. Darüber hinaus sind technische und organisatorische Maßnahmen zu treffen, um die Sicherheit und Vertraulichkeit der Daten zu gewährleisten. Die betroffenen Personen müssen über die Datenverarbeitung informiert werden, und sie haben das Recht auf Auskunft, Berichtigung sowie ggf. Löschung der sie betreffenden Daten nach Maßgabe der jeweils geltenden Datenschutzgesetze, insbesondere der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO).
Welche rechtlichen Sanktionen drohen bei Verstößen gegen die EU-Zinsrichtlinie?
Verstöße gegen die Verpflichtungen der EU-Zinsrichtlinie können sowohl zivilrechtliche als auch verwaltungsrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Zahlstellen, die ihrer Meldepflicht nicht nachkommen, können mit Bußgeldern oder anderen verwaltungsrechtlichen Maßnahmen belegt werden. In schweren Fällen, insbesondere bei vorsätzlicher Steuerhinterziehung oder grob fahrlässigem Verhalten, können strafrechtliche Konsequenzen für die Verantwortlichen drohen. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass der betroffene Staat die erhaltenen Informationen dazu nutzt, Steuerstrafverfahren gegen die jeweiligen Steuerpflichtigen einzuleiten, wenn diese ihren Erklärungspflichten nicht nachgekommen sind.
Welche Bedeutung hat die Aufhebung der EU-Zinsrichtlinie für bestehende Verpflichtungen?
Die EU-Zinsrichtlinie wurde durch die Richtlinie 2014/107/EU zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung abgelöst und ist daher seit Januar 2016 außer Kraft gesetzt. Dennoch sind Verpflichtungen und Daten, die während der Laufzeit der Zinsrichtlinie erhoben wurden, weiterhin für etwaige Prüfungen oder Ermittlungen relevant. Für offene Prüfungszeiträume gelten die bisherigen Rechtsgrundlagen fort, insbesondere, wenn diese nicht durch spätere gesetzliche Änderungen überholt wurden. Gegenwärtig erfolgt der Informationsaustausch im Rahmen des Common Reporting Standard (CRS) sowie der genannten EU-Richtlinie zur Amtshilfe.