Legal Lexikon

ESM


Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM)

Der Europäische Stabilitätsmechanismus (kurz: ESM) ist eine zwischenstaatliche internationale Finanzinstitution, die im Zuge der Eurokrise geschaffen wurde, um Staaten der Eurozone in finanziellen Schwierigkeiten mit Krediten oder Bürgschaften zu unterstützen. Der ESM ist eine zentrale Säule der europäischen Finanzarchitektur zur Sicherung der Stabilität der Eurozone und besitzt eine weitreichende rechtliche Grundlage, die sowohl völkerrechtliche, europarechtliche als auch verfassungsrechtliche Dimensionen umfasst.

Entstehung und Zielsetzung

Historischer Kontext

Im Verlauf der Staatsschuldenkrise im Euroraum zwischen 2009 und 2012 zeigte sich, dass bestehende Mechanismen zur Krisenbewältigung nicht ausreichten. Infolge der Instabilität der öffentlichen Haushalte einiger Mitgliedstaaten der Eurozone wurden temporäre Rettungsfazilitäten geschaffen, beispielsweise die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). Mit dem Ziel einer dauerhaften Lösung wurde 2012 der ESM durch einen völkerrechtlichen Vertrag gegründet.

Vertragsgrundlage

Die rechtliche Grundlage des ESM bildet der Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag), der von den siebzehn Staaten der Eurozone (Stand: 2012) geschlossen wurde. Der Vertrag trat am 27. September 2012 in Kraft, nachdem die erforderlichen Ratifikationen erfolgt waren.

Rechtliche Struktur und Institutioneller Aufbau

Völkerrechtliche Institution

Der ESM ist eine völkerrechtliche Organisation mit Sitz in Luxemburg. Er besitzt eigene Rechtspersönlichkeit und kann im eigenen Namen Rechte erwerben und Pflichten eingehen. Seine Zielsetzung besteht laut Art. 3 ESM-Vertrag darin, die Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets als Ganzes sowie seiner Mitgliedstaaten zu erhalten.

Mitglieder und Governance

Mitglieder des ESM sind ausschließlich die Staaten, die den Euro als offizielles Zahlungsmittel eingeführt haben. Organe des ESM sind gemäß Art. 5 bis 7 ESM-Vertrag:

  • das Gouverneursrat (höchstes Organ, setzt sich aus den Finanzministern der Mitgliedstaaten zusammen),
  • das Direktorium (führendes Exekutivorgan, vertreten durch hochrangige Beamte der Finanzministerien),
  • der Geschäftsführende Direktor (Leitung der laufenden Verwaltung, Vertreter des ESM nach außen).

Beschlüsse im ESM werden je nach Bedeutung mit qualifizierter Mehrheit, einfacher Mehrheit, Supermehrheit oder im Dringlichkeitsverfahren getroffen (§ 4 ESM-Vertrag).

Rechtliche Grundlagen und Verhältnis zum Unionsrecht

Völkerrechtlicher Charakter

Der ESM-Vertrag ist ein klassischer völkerrechtlicher Vertrag außerhalb des Primärrechts der Europäischen Union. Die Errichtung des ESM wurde zudem durch den Artikel 136 Abs. 3 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ergänzt, wodurch die Errichtung eines permanenten Krisenmechanismus ausdrücklich ermöglicht wurde.

Vereinbarkeit mit Unionsrecht

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte im sogenannten „ESM-Urteil“ bestätigt, dass der ESM mit dem Unionsrecht vereinbar ist (Rs. Pringle, Urteil vom 27.11.2012, C-370/12). Insbesondere wird die sogenannte „No-Bailout-Klausel“ (Art. 125 AEUV), wonach die Union oder die Mitgliedstaaten nicht für die Schulden eines anderen Mitgliedstaats haften, nicht verletzt, wenn Hilfen des ESM an strikte Auflagen geknüpft werden.

Aufgaben, Instrumente und Arbeitsweise

Finanzhilfemechanismen

Der ESM kann finanzielle Hilfen in unterschiedlichen Formen bereitstellen, unter anderem:

  • vorsorgliche Finanzhilfen (Präventionsdarlehen),
  • Darlehen an Mitgliedstaaten unter Makroökonomischen Anpassungsprogrammen,
  • Kredite zur Bankenrekapitalisierung,
  • Primär- und Sekundärmarktkäufe von Staatsanleihen.

Die Gewährung von Hilfen ist an die Zustimmung der zuständigen ESM-Gremien und das Vorliegen strenger wirtschafts- und finanzpolitischer Auflagen (Konditionalität) geknüpft.

Finanzierung und Kapitalstruktur

Das gezeichnete Stammkapital des ESM beläuft sich auf 704,8 Milliarden Euro (Stand 2024), wovon 80,5 Milliarden Euro eingezahlt und der Rest als abrufbares Kapital bereitsteht. Die Haftung der Mitglieder ist auf ihre Anteile begrenzt.

Kontrolle und Transparenz

Der ESM unterliegt einer internen und externen Kontrolle. Zu den Kontrollorganen zählen das interne Audit, der externe Prüfer (externe Rechnungsprüfung), ein Board of Auditors sowie ein unabhängiges Kontrollgremium.

Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten

Beitritt und Austritt

Der ESM steht ausschließlich Staaten der Eurozone offen. Der Beitritt weiterer Mitgliedstaaten ist mit der Einführung des Euro für neue EU-Mitglieder möglich. Ein Austritt ist im Vertrag nicht explizit geregelt, wäre völkerrechtlich nach allgemeinen Grundsätzen jedoch theoretisch möglich.

Beitrags- und Haftungsregime

Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, sich entsprechend ihrem Anteil am Kapital des ESM an der Finanzierung zu beteiligen. Die Haftung ist auf den jeweiligen Anteil begrenzt, im Falle eines Zahlungsausfalls eines Mitgliedstaats besteht eine Nachschusspflicht für die übrigen Mitglieder (Lastenverteilung).

Immunität und Rechtsstellung

Immunitätsbestimmungen

Der ESM, sein Vermögen, seine Dokumente und seine Angestellten genießen weitreichende Immunitäten (Art. 32 und 35 ESM-Vertrag), u.a.:

  • Immunität von gerichtlichen Verfahren,
  • Immunität vor Durchsuchung und Beschlagnahme,
  • steuerliche Privilegien.

Diese Immunitäten sollen die Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit des ESM sichern, wurden jedoch insbesondere in den Mitgliedstaaten kontrovers diskutiert.

Kritik und Reformdebatte

Demokratiedefizit und Kontrolle

Es bestehen Bedenken hinsichtlich des demokratischen Legitimationsniveaus der ESM-Entscheidungsträger, da Beschlüsse zum Teil intransparent und außerhalb bestehender EU-Institutionen getroffen werden.

Weiterentwicklung des ESM

Im Zusammenhang mit der Stärkung der Bankenunion und der Debatte um eine EU-Haushaltsunion wird über eine Reform des ESM diskutiert. Seit 2019 befindet sich der ESM in einem Reformprozess, der u.a. die Rolle des ESM als Backstop für den Einheitlichen Abwicklungsfonds (SRF) der Bankenunion stärken soll.

Literatur und weiterführende Vorschriften

  • Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag)
  • AEUV, insbesondere Art. 136 Abs. 3 und Art. 125
  • EuGH, Urteil vom 27.11.2012, C-370/12 – Pringle

Fazit

Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) stellt ein zentrales Instrument zur Gewährleistung der Finanzstabilität im Euro-Währungsgebiet dar. Er ist durch einen eigenständigen völkerrechtlichen Vertrag errichtet, agiert als internationale Finanzinstitution und verfügt über umfangreiche rechtliche Befugnisse, Kontrollmechanismen sowie weitreichende Immunitäten. Die Einbindung in die europäische Rechtsordnung und fortlaufende Reformüberlegungen prägen die Weiterentwicklung und Funktionsweise des ESM maßgeblich.

Häufig gestellte Fragen

Wer ist nach europäischem Recht Vertragspartei des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM)?

Im rechtlichen Kontext sind die Vertragsparteien des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ausschließlich die Euro-Mitgliedstaaten, die auch die Gründungsmitglieder des ESM sind. Grundlage ist das völkerrechtliche Vertragswerk, bekannt als ESM-Vertrag, welcher am 2. Februar 2012 unterzeichnet wurde. Die Europäische Union ist selbst keine Vertragspartei, ebensowenig wie Drittstaaten oder Nicht-Euro-Mitgliedstaaten. Die rechtliche Bindung an den ESM erwächst für die einzelnen Staaten aus der Ratifizierung gemäß ihren jeweiligen innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Vorgaben. Änderungen des ESM-Vertrags bedürfen der Zustimmung aller Vertragsparteien und müssen gemäß deren jeweiligen Verfassungen ratifiziert werden. Der ESM besitzt gemäß Art. 32 des ESM-Vertrags Rechtspersönlichkeit und Rechtsfähigkeit auf dem Gebiet jedes Mitgliedstaates, sodass er unabhängig agieren und Verträge schließen oder verpflichtet werden kann.

Unterliegt der ESM einer Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH)?

Der ESM als internationale Finanzinstitution unterliegt grundsätzlich keiner unmittelbaren Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), da er nicht als EU-Institution, sondern als eigenständige völkerrechtliche Organisation gegründet wurde. Gleichwohl bestehen indirekte Kontrollmöglichkeiten, insbesondere dann, wenn nationale Gesetze, die zur Umsetzung oder Ausführung von ESM-Maßnahmen angenommen werden (zum Beispiel Garantien, Bürgschaften oder andere staatliche Maßnahmen), Gegenstand gerichtlicher Überprüfungen sowohl auf nationaler Ebene als auch vor dem EuGH im Wege der Vorabentscheidung werden können. Besonders bekannt ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. September 2012, das die Vereinbarkeit des ESM mit dem Grundgesetz prüfte. Der EuGH kann zudem angerufen werden, wenn Unionsrecht im Zusammenhang mit dem ESM berührt wird – etwa bezüglich der Einhaltung der in den EU-Verträgen festgelegten Vorgaben oder der Charta der Grundrechte, sofern eine Verknüpfung mit EU-Recht besteht.

Welche Immunitätsregelungen gelten für den ESM und seine Organe?

Der ESM genießt gemäß seinem Gründungsvertrag weitreichende Immunitäten und Privilegien, die sowohl ihn selbst als auch seine Mitarbeiter sowie Funktionsträger, etwa Direktoren und Gouverneure, betreffen. Artikel 32 und 35 ESM-Vertrag statuieren die Unabhängigkeit und Immunität von Gerichtsbarkeit für sämtliche Handlungen im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit. ESM-Eigentum und -Vermögen sind unabhängig von ihrem Standort und im Besitz des Mechanismus immun gegen Durchsuchung, Beschlagnahme, Enteignung und jede andere Form der Einwirkung durch Regierungs-, Verwaltungs-, Justiz- oder Gesetzgebungsorgane. Die Immunität kann nur durch einen Beschluss des Gouverneursrats aufgehoben werden, sofern dies im Interesse des ESM liegt. Mitarbeiter genießen Immunitäten vergleichbar denjenigen von Beamten internationaler Organisationen. Dies soll die Unabhängigkeit bei der Durchführung der Aufgaben des ESM gewährleisten.

Wie werden Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem ESM rechtlich beigelegt?

Streitigkeiten, die zwischen den Vertragsparteien oder zwischen ESM und seinen Gläubigern beziehungsweise Kreditnehmern entstehen, werden nach Artikel 37 ESM-Vertrag vorrangig durch Verhandlungen beigelegt. Scheitert dies, so ist eine Schlichtung vorgesehen. Für bestimmte Arten von Streitigkeiten, insbesondere solche, die das Innenverhältnis der ESM-Organe oder die Auslegung des ESM-Vertrags betreffen, ist der EuGH als letztinstanzliches Schiedsgericht vorgesehen, allerdings nur für Vertragsparteien, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind. Dies ergibt sich aus Art. 273 AEUV in Verbindung mit Art. 37 ESM-Vertrag. Streitigkeiten anderer Art, insbesondere mit privaten Dritten, unterliegen meist dem allgemeinen internationalen Vertragsrecht oder individualvertraglichen Gerichtsstandsklauseln.

Welche Informations- und Rechenschaftspflichten hat der ESM gegenüber nationalen Parlamenten und der Öffentlichkeit?

Der ESM ist primär seinen Vertragsparteien, also den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets, rechenschaftspflichtig. Nach Art. 30 und 31 ESM-Vertrag muss der ESM jährlich einen Bericht und geprüfte Jahresabschlüsse vorlegen, die den Regierungen der Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission, dem Europäischen Rechnungshof und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Es besteht jedoch keine unmittelbare parlamentarische Kontrolle des ESM durch das Europäische Parlament oder nationale Parlamente. Dennoch fordern verschiedene nationale Verfassungen, zum Beispiel das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, eine Beteiligung der Parlamente an relevanten Entscheidungen (wie zum Beispiel Bürgschaftsübernahmen oder Kreditvergaben durch den ESM), was zu nationalen Einbindungspflichten führt. Auch der Europäische Rechnungshof erhält gemäß einer zwischenstaatlichen Vereinbarung gewisse Prüfungsrechte.

Wie wird das Verhältnis des ESM zum Unionsrecht juristisch bewertet?

Rechtlich gesehen ist der ESM als völkerrechtliches Vertragswerk grundsätzlich autonom vom Unionsrecht. Mit der „ESM-Entscheidung“ des Europäischen Rates (2011/199/EU) wurde Art. 136 Absatz 3 AEUV eingefügt, um ESM-Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den EU-Verträgen zu gestalten. Daher muss der ESM so angewendet werden, dass Unionsrecht, insbesondere Regelungen zum Stabilitäts- und Wachstumspakt, Finanzmarktregulierung und die Grundrechtecharta, nicht verletzt werden. Der EuGH hat in seinem Pringle-Urteil bestätigt, dass der ESM-Vertrag mit dem EU-Recht vereinbar ist, solange ESM-Maßnahmen keine Aufgaben der Union an sich reißen und die geltenden Unionsregeln beachtet werden.

Welche interne und externe Kontrollinstanzen überwachen die Einhaltung des ESM-Vertrags?

Der ESM unterliegt einer Vielzahl von Kontrollmechanismen: Intern erfolgt die Überwachung durch den Board of Auditors (eigenes internes Kontrollgremium), der mindestens drei Mitglieder aus verschiedenen Mitgliedstaaten umfasst. Extern prüft ein externer unabhängiger Rechnungsprüfer die Jahresabschlüsse. Hinzu kommt der Europäische Rechnungshof, der einzelne Aspekte, insbesondere die Effizienz und Rechtmäßigkeit der Verwendung von Mitteln, kontrolliert. Eine politische, aber keine unmittelbar rechtliche Kontrolle wird zudem durch die Beteiligung der Finanzminister (als Gouverneursrat) und deren nationale Verantwortung ergänzt. Verstöße gegen die Bestimmungen des ESM-Vertrags können vor das Schiedsgericht gemäß Art. 37 ESM-Vertrag gebracht werden.