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Erststimme

Begriff und Funktion der Erststimme

Die Erststimme ist ein zentrales Element des Wahlrechts für die Wahl des Deutschen Bundestages. Mit ihr wählen Wahlberechtigte eine Person ihres Wahlkreises, die sie im Parlament direkt vertreten soll. Diese Person wird als Wahlkreisbewerberin oder Wahlkreisbewerber bezeichnet. Die Erststimme ist damit der personenbezogene Teil des Systems der personalisierten Verhältniswahl und ergänzt die Zweitstimme, die über die parteipolitische Zusammensetzung des Bundestages entscheidet.

Rechtsrahmen und Stellung im Wahlsystem

Personalisierte Verhältniswahl: Zusammenspiel mit der Zweitstimme

Die Erststimme richtet sich auf eine konkrete Kandidatur im Wahlkreis. Wer die meisten Erststimmen in einem Wahlkreis erhält, erringt dort ein Direktmandat. Die Zweitstimme entscheidet über die proportionale Sitzverteilung auf die Parteien. In der Gesamtschau verbindet das System einen personenbezogenen Mehrheitsentscheid im Wahlkreis mit einer proportionalen Verteilung der Sitze nach Stimmenanteilen. Dadurch erhalten Wählerinnen und Wähler sowohl Einfluss auf die parteipolitischen Kräfteverhältnisse (über die Zweitstimme) als auch auf die persönliche Vertretung vor Ort (über die Erststimme).

Wahlrechtsgrundsätze

Die Ausübung der Erststimme unterliegt den Grundsätzen der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl. Allgemein bedeutet, dass alle Wahlberechtigten teilnehmen können; unmittelbar, dass ohne zwischengeschaltete Instanz direkt über eine Person entschieden wird; frei, dass die Stimmabgabe ohne Zwang erfolgt; gleich, dass jede Erststimme denselben Zählwert hat; geheim, dass die individuelle Stimmabgabe nicht offenbart wird. Diese Grundsätze prägen sowohl die Stimmabgabe als auch die Auszählung und die rechtliche Bewertung der Gültigkeit.

Wahlkreise und Direktmandat

Deutschland ist für Bundestagswahlen in eine festgelegte Zahl von Wahlkreisen eingeteilt, aus denen jeweils eine Person direkt in den Bundestag gewählt wird. Die Einteilung orientiert sich an der Bevölkerungszahl, um eine möglichst gleiche Stimmgewichtung zu gewährleisten. Größere Abweichungen in den Bevölkerungszahlen der Wahlkreise werden regelmäßig überprüft und können eine Neueinteilung erforderlich machen. Das Direktmandat entsteht durch die relative Mehrheit der Erststimmen im jeweiligen Wahlkreis.

Ablauf und Auszählung der Erststimme

Stimmabgabe und Gültigkeit

Die Erststimme wird auf dem Stimmzettel im dafür vorgesehenen Feld für die Wahlkreiskandidatur gekennzeichnet. Eine eindeutige Kennzeichnung ist erforderlich. Mehrere Kennzeichnungen in diesem Feld, Zusätze oder eindeutige Identifizierungsmerkmale können die Erststimme ungültig machen. Die Gültigkeit der Erststimme wird unabhängig von der Zweitstimme beurteilt. Wer nur eine der beiden Stimmen abgibt, beeinflusst ausschließlich den entsprechenden Teil des Wahlergebnisses; die jeweils andere, nicht abgegebene Stimme bleibt ohne Wirkung.

Mehrheitsprinzip im Wahlkreis

Für das Direktmandat genügt die einfache relative Mehrheit: Gewählt ist die Person mit den meisten gültigen Erststimmen, ohne dass eine absolute Mehrheit erforderlich ist. Es findet nur ein Wahlgang statt.

Gleichstand, Nachzählung und Wahlprüfung

Bei Stimmengleichheit der erstplatzierten Kandidaturen entscheidet das Los. Nachzählungen können angeordnet werden, wenn Unklarheiten bestehen. Die gesamte Wahl – und damit auch die Behandlung der Erststimmen – unterliegt der Wahlprüfung. Festgestellte Unregelmäßigkeiten können zur Berichtigung des Ergebnisses oder in besonderen Fällen zu einer Wiederholung im betroffenen Bereich führen.

Rechtliche Wirkungen der Erststimme auf die Sitzverteilung

Direktmandat und Mandatsgewinn

Das Direktmandat begründet einen unmittelbaren Sitz im Bundestag für die Gewinnerin oder den Gewinner des Wahlkreises. Die Person zieht mit persönlicher Legitimation in das Parlament ein. Die Zahl der Direktmandate einer Partei ergibt sich aus der Summe der gewonnenen Wahlkreise.

Überhang- und Ausgleichsmechanismen

Treffen die durch Erststimmen errungenen Direktmandate auf die durch Zweitstimmen bestimmte Sitzverteilung, können Unterschiede entstehen. Je nach geltender Rechtslage kommen Mechanismen zum Einsatz, um das Verhältnis der Sitze an die Zweitstimmenanteile anzunähern. Historisch konnten so genannte Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Wahlkreise gewann, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil zustanden. Dem wurde durch Ausgleichsregelungen begegnet. Reformen des Wahlrechts haben diese Mechanismen wiederholt angepasst, mit dem Ziel, die Größe des Bundestages zu begrenzen und die Proportionalität zu sichern. Der konkrete rechtliche Zuschnitt dieser Verknüpfung – und damit die genaue Wirkung einer gewonnenen Erststimme auf die Gesamtzahl der Sitze – richtet sich nach der jeweils gültigen Fassung des Wahlrechts.

Sperrklausel und Grundmandatsregel

Die Sperrklausel dient der Stabilität der parlamentarischen Arbeit, indem nur Parteien mit einem Mindestmaß an Unterstützung an der proportionalen Sitzverteilung teilnehmen. Die Erststimme kann hierbei eine besondere Rolle spielen, wenn rechtliche Regelungen vorsehen, dass mehrere gewonnene Direktmandate eine Teilnahme an der Sitzverteilung eröffnen, auch wenn ein bestimmter Stimmenanteil mit der Zweitstimme verfehlt wurde. Der rechtliche Bestand und die konkrete Ausgestaltung solcher Regeln sind Reformen unterworfen und können sich ändern. Unabhängig davon zählen Stimmen für anerkannte politische Vereinigungen nationaler Minderheiten gesondert, da diese von allgemeinen Sperrklauseln nicht erfasst werden.

Kandidaturen im Wahlkreis

Nominierung durch Parteien und Einzelbewerbungen

Im Wahlkreis können Parteien eigene Bewerberinnen und Bewerber aufstellen. Daneben sind Einzelbewerbungen möglich. Für die Zulassung gelten formale Voraussetzungen, die die Ernsthaftigkeit der Bewerbung sichern und eine ordnungsgemäße Wahl vorbereiten. Die Erststimme kann sowohl Personen unterstützen, die von einer Partei nominiert sind, als auch parteiunabhängige Einzelbewerbungen.

Bindung des Mandats und Nachfolge

Das durch Erststimme errungene Direktmandat ist ein freies Mandat. Ein Mandatsträger ist nicht rechtlich an Weisungen gebunden. Scheidet eine direkt gewählte Person vorzeitig aus, wird der Sitz grundsätzlich durch die Landesliste der Partei nachbesetzt, der die Person bei der Wahl zugeordnet war. Bei parteiunabhängigen Direktmandaten oder wenn keine geeigneten Listenbewerbungen mehr vorhanden sind, bleibt der Sitz unbesetzt. Das Direktmandat bleibt auch dann bestehen, wenn die gewählte Person später die Partei wechselt oder ohne Fraktion tätig ist; der persönliche Mandatsgewinn durch Erststimme wird dadurch nicht rückwirkend verändert.

Besondere Konstellationen

Stimmensplitting

Die Erststimme kann unabhängig von der Zweitstimme vergeben werden. Es ist zulässig, die Erststimme einer Person aus einer anderen politischen Richtung zu geben als der Partei, der mit der Zweitstimme der Vorzug gegeben wird. Dieses Stimmensplitting ist ein bewusst vorgesehener Bestandteil des Wahlsystems.

Briefwahl

Die Erststimme kann im Wahllokal oder per Briefwahl abgegeben werden. Die rechtlichen Anforderungen an Geheimheit, Freiheit und Gültigkeit sind identisch. Die erststimmenbezogene Auszählung erfolgt zusammen mit den Urnenstimmen, wobei für die Briefwahl besondere organisatorische Sicherungen bestehen.

Wahlkreisneueinteilungen

Änderungen der Bevölkerungsverteilung können eine Anpassung der Wahlkreise erforderlich machen. Solche Neueinteilungen wirken sich darauf aus, wer in welchem Gebiet eine Erststimme abgeben kann und welche Bewerbungen dort zugelassen sind. Ziel ist eine möglichst gleichgewichtige Stimmkraft der Erststimmen über das gesamte Bundesgebiet.

Häufig gestellte Fragen

Wofür zählt die Erststimme konkret?

Die Erststimme entscheidet darüber, welche Person den jeweiligen Wahlkreis im Bundestag direkt vertritt. Sie ist personenbezogen und bestimmt die Vergabe von Direktmandaten unabhängig von der Zweitstimme.

Kann die Erststimme an eine Person und die Zweitstimme an eine andere Partei gehen?

Ja. Erst- und Zweitstimme sind rechtlich getrennt. Die Erststimme gilt einer Person im Wahlkreis, die Zweitstimme der parteipolitischen Sitzverteilung. Beide Stimmen können voneinander abweichen.

Wie wird ein Direktmandat vergeben?

Ein Direktmandat erhält die Person, die im Wahlkreis die meisten gültigen Erststimmen erzielt. Eine absolute Mehrheit ist nicht erforderlich; es genügt die relative Mehrheit.

Was passiert bei Stimmengleichheit im Wahlkreis?

Bei einem Gleichstand der bestplatzierten Bewerbungen entscheidet das Los. Dieses Verfahren ist rechtlich vorgesehen, um einen eindeutigen Mandatsinhaber zu bestimmen.

Wie wirkt sich die Erststimme auf Sperrklauseln aus?

Die Erststimme kann die Mandatsverteilung beeinflussen, wenn Regelungen bestehen, nach denen gewonnene Direktmandate Auswirkungen auf die Teilnahme einer Partei an der proportionalen Sitzverteilung haben. Die konkrete Ausgestaltung unterliegt Reformen und kann sich ändern.

Ist die Erststimme bei der Briefwahl rechtlich gleichgestellt?

Ja. Die Erststimme hat bei der Briefwahl denselben rechtlichen Stellenwert wie im Wahllokal. Gültigkeit, Geheimheit und Freiheit der Stimmabgabe gelten gleichermaßen.

Was geschieht mit einem durch Erststimme errungenen Mandat, wenn die gewählte Person ausscheidet?

Bei Ausscheiden einer direkt gewählten Person wird der Sitz in der Regel über die Landesliste der zugehörigen Partei nachbesetzt. Bei parteiunabhängigen Direktmandaten oder fehlenden Listenbewerbungen bleibt der Sitz unbesetzt.