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Erststimme


Begriff und Bedeutung der Erststimme

Die Erststimme ist ein wesentlicher Bestandteil des deutschen Wahlrechts bei Bundestagswahlen sowie bei vielen Landtagswahlen. Im Kontext des personalisierten Verhältniswahlrechts stellt die Erststimme das individuelle Stimmrecht der Wählerinnen und Wähler für die Direktwahl eines Wahlkreisabgeordneten dar. Sie ist im Gegensatz zur Zweitstimme, mit der die Landeslisten einer Partei gewählt werden, unmittelbar an eine konkrete Person gebunden. Die Erststimme hat maßgeblichen Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des jeweiligen Parlaments und erfüllt dabei das Prinzip der personalisierten Repräsentation.

Gesetzliche Grundlagen der Erststimme

Rechtsquellen

Die rechtlichen Grundlagen für die Abgabe und das Verfahren der Erststimme finden sich im:

  • Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG)
  • Art. 38 GG: Grundsatz der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl des Bundestages.
  • Bundeswahlgesetz (BWG)
  • §§ 1, 4-9a BWG: Vorschriften zum Wahlsystem, Wahlkreiseinteilung, Kandidatur und Wahlverfahren.
  • Bundeswahlordnung (BWO)
  • Detailregelungen zur Durchführung der Wahlen und zur Stimmenauszählung.

Funktion und Bedeutung nach dem Bundeswahlgesetz

Nach § 1 BWG erfolgt die Wahl zum Deutschen Bundestag nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl. Mit der Erststimme entscheidet der Wahlberechtigte, welcher Wahlkreisbewerber oder welche Wahlkreisbewerberin ihn im Bundestag vertreten soll. Der mit der höchsten Stimmenzahl versehene Wahlkreisbewerber gilt gemäß § 5 Abs. 1 BWG als gewählt (Mehrheitswahlrecht).

Mechanik der Erststimme im Wahlsystem

Wahlkreiseinteilung und Kandidaturen

Deutschland ist für Bundestagswahlen in 299 Wahlkreise eingeteilt. In jedem Wahlkreis tritt eine festgelegte Zahl von Einzelbewerbern – nominiert durch Parteien oder als unabhängige Einzelbewerber – gegeneinander an. Jeder Wahlberechtigte hat pro Wahl eine Erststimme, mit welcher eine Person gewählt wird. Eine Mehrfachvergabe von Stimmen oder das Ankreuzen mehrerer Bewerber führt zur Ungültigkeit der Erststimme.

Mehrheitswahlverhältnis (Personenwahl)

Die Erststimme wird nach dem Prinzip des relativen Mehrheitswahlrechts vergeben: Der Bewerber mit den meisten Erststimmen in einem Wahlkreis erhält ein Direktmandat im Bundestag – unabhängig davon, ob er die absolute Stimmenmehrheit erhält. Dies wird auch als „Winner-takes-it-all” bezeichnet. Entsprechend der Gesamtzahl von Wahlkreisen bestimmen die Erststimmen somit mindestens 299 Abgeordnete des Bundestages.

Verbindung mit der Zweitstimme

Das deutsche Wahlsystem kombiniert die Personenwahl (Erststimme) mit der Listenwahl (Zweitstimme). Während die Erststimme für die unmittelbare Vertretung des Wahlkreises steht, ist für die Sitzverteilung im Bundestag maßgeblich das Verhältnis der Zweitstimmen. Die über die Erststimme erlangten Direktmandate werden von den Parteien auf ihre Gesamtsitzzahl angerechnet.

Rechtsfolgen und Besonderheiten der Erststimme

Überhangmandate und Ausgleichsmandate

Entlang des § 6 BWG kann es dazu kommen, dass eine Partei mehr Direktmandate (über die Erststimmen) gewinnt, als ihr aufgrund des Zweitstimmenergebnisses Sitze zustünden. Dies führt zu sogenannten Überhangmandaten. Zur Wahrung der Verhältniswahl werden durch Ausgleichsmandate weiteren Parteien zusätzliche Sitze zugeteilt, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Die daraus entstehende Vergrößerung des Bundestages ist eine direkte Folge der Mehrheitsentscheidung der Bürger im Rahmen der Erststimme.

Auswirkungen auf die Parlamentszusammensetzung

Die Erststimme eröffnet sowohl parteilosen als auch parteigebundenen Direktkandidaten die Chance auf Einzug ins Parlament. Sie hat damit einen bedeutenden Einfluss auf die Vielfalt, regionale Repräsentation und potentielle Unabhängigkeit einzelner Abgeordneter.

Stimmabgabe und Gültigkeit

Die Stimmabgabe für die Erststimme erfolgt auf dem amtlichen Stimmzettel, wobei für jeden Wahlkreis nur jeweils eine Stimme für einen Bewerber abgegeben werden darf. Ungültig ist die Erststimme, wenn mehr als ein Bewerber markiert oder der Wille des Wählers nicht erkennbar ist. Die Gültigkeit der Zweitstimme bleibt unabhängig von der Erststimme bestehen.

Verfassungsrechtliche Analyse

Grundsatz der Gleichheit und Unmittelbarkeit

Die Ausgestaltung der Erststimme berücksichtigt die Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien. Da das Mehrheitswahlprinzip für die Erststimme gilt, kann es faktisch zu einer gewissen Verzerrung des Gleichheitsgrundsatzes kommen. Über das Konstrukt der Ausgleichsmandate und die Sitzzuteilung nach Zweitstimmen wird jedoch ein ausgeglichener Parlamentsproporz angestrebt.

Rechtsschutz und Wahlprüfung

Bei Streitigkeiten über die Gültigkeit der mit der Erststimme abgegebenen Stimme, fehlerhafte Auszählungen oder Unregelmäßigkeiten im Wahlverfahren ist der Rechtsweg im Rahmen des Wahlprüfungsverfahrens nach Art. 41 GG eröffnet. Hierbei kann beim Bundestag eine Beschwerde gegen das Wahlergebnis eingereicht werden, im weiteren Verlauf ist eine Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht möglich.

Vergleich und Sonderregeln bei Landtagswahlen

Erststimme in Landtagswahlgesetzen

Viele Länderordnungen – wie etwa in Bayern, Hessen und Brandenburg – kennen ein Wahlsystem, das der Bundestagswahl ähnelt. Die Erststimme spielt dabei eine vergleichbare Rolle für die Wahl von Direktbewerbern in Wahlkreisen. Unterschiede bestehen im Zuschnitt der Wahlkreise, der Anzahl der vergebenen Direktmandate und in spezifischen Regelungen zur Zuteilung von Ausgleichsmandaten.

Kommunale Ebenen

Auf kommunaler Ebene wird die Erststimme in der Regel nicht verwendet. Hier dominieren entweder reine Listenwahlen oder Kumulier- und Panaschierverfahren.

Historische Entwicklung und Reformdiskussionen

Einführung des Zwei-Stimmen-Systems

Das Zweistimmensystem wurde im Rahmen des Bundeswahlgesetzes von 1956 eingeführt, um sowohl eine direkte personelle Repräsentation als auch eine proportionale Parteiverteilung im Bundestag sicherzustellen. Die Erststimme war von Anfang an darauf ausgelegt, die Verbindung zwischen Wähler und Abgeordnetem auf Wahlkreisebene zu stärken.

Aktuelle Reformbestrebungen

Debatten um die Verkleinerung des Bundestags und die Begrenzung von Überhang- und Ausgleichsmandaten betreffen mittelbar die Funktion der Erststimme. Reformen zielen darauf ab, die Funktionsweise der Erststimme effizienter und die Parlamentsgröße planbarer zu machen.

Literaturhinweise und Quellen

  • Bundeswahlgesetz (BWG), aktuelle Fassung
  • Bundeswahlordnung (BWO), aktuelle Fassung
  • Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG)
  • Bundeszentrale für politische Bildung: Wahlsystem des Deutschen Bundestages
  • Bundeswahlleiter: Informationen zur Bundestagswahl und Erststimme

Die rechtliche Betrachtung der Erststimme verdeutlicht, dass sie ein zentraler Bestandteil des demokratisch-repräsentativen Wahlsystems in Deutschland ist. Ihre genaue rechtliche Ausgestaltung zielt darauf ab, das Verhältnis zwischen individueller Repräsentation und Verhältniswahl zu wahren und somit die demokratische Legitimation des Parlaments optimal zu sichern.

Häufig gestellte Fragen

Wie wird das Recht zur Abgabe der Erststimme gesetzlich geregelt?

Das Recht zur Abgabe der Erststimme ist im Bundeswahlgesetz (BWahlG) und in der Bundeswahlordnung (BWO) festgelegt. Wählbar sind grundsätzlich alle Deutschen im Sinne des Artikels 116 Absatz 1 des Grundgesetzes, die am Wahltag mindestens 18 Jahre alt sind und seit mindestens drei Monaten in Deutschland wohnen. Die Erststimme darf nur persönlich und nur einmal abgegeben werden. In § 14 BWahlG ist ausdrücklich geregelt, dass das Wahlrecht höchstpersönlich auszuüben ist, womit die Übertragung auf andere ausgeschlossen ist. Zudem legt § 34 BWahlG fest, dass die Wahl geheim zu erfolgen hat. Verstöße, wie Mehrfachabgabe oder erzwungene Stimmabgabe, sind strafbar und können nach § 107a StGB als Wahlfälschung oder Wahlbehinderung geahndet werden.

Gibt es rechtliche Vorgaben für die Gestaltung des Stimmzettels bei der Erststimme?

Ja, die rechtliche Grundlage dafür findet sich in § 30 BWahlG und in § 49 BWO. Die Stimmzettel müssen so gestaltet sein, dass die Wahlberechtigten ihre Erststimme klar und eindeutig einem der aufgelisteten Direktkandidaten zuordnen können. Die Anordnung der Namen auf dem Stimmzettel erfolgt grundsätzlich nach den Wahlkreisen und innerhalb eines Wahlkreises alphabetisch nach den Namen der Parteien, gefolgt von den Namen der Einzelbewerber. Der Zweck ist, die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Wahl zu gewährleisten. Manipulationen oder missverständliche Darstellungen auf dem Stimmzettel sind verboten und können die Gültigkeit einer Wahl anfechtbar machen.

Unter welchen rechtlichen Bedingungen ist eine abgegebene Erststimme ungültig?

Die rechtlichen Grundlagen für eine Ungültigkeit der Erststimme ergeben sich aus § 39 BWahlG. Eine Erststimme ist insbesondere dann ungültig, wenn auf dem Stimmzettel mehr als ein Wahlkreisbewerber angekreuzt wurde, wenn der Wille des Wählers nicht eindeutig erkennbar ist, oder wenn der Stimmzettel einen Zusatz oder Vorbehalt enthält. Darüber hinaus werden Stimmzettel, die offensichtlich nicht vom Wahlleiter amtlich hergestellt wurden oder in einer das Wahlgeheimnis gefährdenden Weise gekennzeichnet sind, für ungültig erklärt. Die Feststellung der Ungültigkeit obliegt dem Wahlvorstand.

Welche rechtlichen Möglichkeiten gibt es, gegen das Ergebnis der Erststimmen-Auszählung Einspruch einzulegen?

Nach § 49 und § 50 BWahlG besteht das Recht, gegen das Ergebnis der Wahl – und damit auch direkt gegen die Auszählung der Erststimmen – Einspruch einzulegen. Einspruchsberechtigt sind wahlberechtigte Bürger, Wahlberechtigte mit Wohnsitz im Ausland, Parteien sowie die Landeswahlleiter und der Bundeswahlleiter. Der Einspruch ist innerhalb von zwei Monaten nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses beim Deutschen Bundestag einzureichen. Der Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages prüft den Einspruch auf Verletzungen wahlrechtlicher Vorschriften, wobei schwerwiegende Fehler oder systematische Rechtsverstöße im Umgang mit Erststimmen das Wahlergebnis beeinflussen könnten und in Extremfällen zu einer Nachwahl führen können.

Welche rechtlichen Konsequenzen hat die vorsätzliche Fälschung einer Erststimme?

Die vorsätzliche Fälschung einer Erststimme stellt eine Straftat dar, die nach § 107a StGB (Wahlfälschung) geahndet wird. Unter Wahlfälschung versteht das Gesetz insbesondere das vorsätzliche Fälschen oder Manipulieren von Stimmzetteln oder die Täuschung über die Identität bei der persönlichen Abgabe der Stimme. Strafrechtlich können Geldstrafen oder Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren verhängt werden. Zusätzliche Konsequenzen können der Entzug aktiver und passiver Wahlrechte nach sich ziehen (§ 45 Abs. 5 StGB).

Welche gesetzlichen Regelungen gibt es zur Barrierefreiheit bei der Ausübung der Erststimme?

Gemäß § 50 Abs. 3 BWahlG und § 16 BWO ist sicherzustellen, dass Wahllokale und Wahlverfahren barrierefrei sind. Dies beinhaltet die Bereitstellung barrierefreier Informationen zu Kandidaten, taktile Stimmzettelschablonen für Sehbehinderte und barrierefreie Wahllokale. Bei Vorliegen einer körperlichen Beeinträchtigung darf ein Wahlhelfer des Vertrauens zur Unterstützung hinzugezogen werden, wobei die Hilfeleistung auf das unbedingt Notwendige beschränkt bleiben muss, um das Wahlgeheimnis zu wahren. Ein Verstoß gegen diese Bestimmungen kann die Wahl anfechtbar machen.