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Ermittlungsverfahren in Strafsachen


Ermittlungsverfahren in Strafsachen

Definition und Einordnung

Das Ermittlungsverfahren in Strafsachen ist die erste Verfahrensstufe im deutschen Strafprozess und dient der Aufklärung eines Anfangsverdachts einer Straftat. Es handelt sich um einen gesetzlich geregelten Teil des Strafverfahrens, der vor allem der Sammlung von Beweismitteln, der Identifizierung möglicher Tatverdächtiger sowie der Entscheidung dient, ob öffentliche Klage erhoben oder das Verfahren eingestellt wird.

Rechtsgrundlagen des Ermittlungsverfahrens finden sich vor allem in der Strafprozessordnung (StPO), beginnend mit deren §§ 152 ff.

Ablauf und Phasen des Ermittlungsverfahrens

Einleitung des Ermittlungsverfahrens

Das Ermittlungsverfahren beginnt, sobald die Strafverfolgungsbehörden, insbesondere die Staatsanwaltschaft, durch Anzeige, eigene Wahrnehmung oder auf anderem Wege Kenntnis von Tatsachen erlangen, die einen Anfangsverdacht einer verfolgbaren Straftat begründen (§ 152 Abs. 2, § 160 StPO). Nach der Legalitätsprinzip (§ 152 Abs. 2 StPO) ist die Staatsanwaltschaft zur Aufnahme der Ermittlungen verpflichtet, sofern kein Strafantrag erforderlich oder Offizialdelikt vorliegt.

Aufgabe und Rolle der Staatsanwaltschaft

Die Staatsanwaltschaft ist “Herrin des Ermittlungsverfahrens” (§ 160 StPO) und leitet die Ermittlungen, auch wenn diese tatsächlich in weiten Teilen durch die Polizei durchgeführt werden. Sie prüft, ob ein hinreichender Tatverdacht vorliegt. Die Polizei wird meist im Wege der ersten Maßnahmen tätig, handelt dabei jedoch entweder eigenständig (§ 163 StPO) oder auf Anweisung und unter Leitung der Staatsanwaltschaft.

Ermittlungsmaßnahmen

Zu den Ermittlungsmaßnahmen zählen insbesondere:

  • Vernehmung von Beschuldigten, Zeugen und Sachverständigen
  • Durchsuchungen von Wohnungen, Personen und Sachen (§§ 102 ff. StPO)
  • Beschlagnahmen von Gegenständen und Dokumenten (§§ 94 ff. StPO)
  • Observation und Überwachung der Telekommunikation (§§ 100a, 100b StPO)
  • Erhebung und Auswertung von Spuren
  • Untersuchung von Leichnamen (§ 87 StPO)

Für gravierende Eingriffe in Grundrechte wie Durchsuchung, Beschlagnahme oder Telekommunikationsüberwachung ist bis auf wenige Eilfälle eine gerichtliche Anordnung erforderlich (§ 105 StPO).

Beteiligte und ihre Rechte

Beschuldigter

Die als Beschuldigter geführte Person genießt umfassende Rechte:

  • Recht zu Schweigen (§ 136 StPO)
  • Recht auf einen Beistand (z. B. Wahlverteidiger; § 137 StPO)
  • Recht auf Akteneinsicht, in der Regel vermittelt durch den Verteidiger (§ 147 StPO)
  • Recht auf Belehrung bei Vernehmung über die eigenen Rechte
Opfer und Geschädigte

Opfer einer Straftat können als Nebenkläger, Zeugen oder Verletzte mit eigenen Verfahrensrechten am Ermittlungsverfahren beteiligt sein. Ihnen stehen Informations- und Beteiligungsrechte, beispielsweise bei bestimmten Delikten (Opferschutz), zu.

Abschluss des Ermittlungsverfahrens

Einstellung des Verfahrens

Die Staatsanwaltschaft entscheidet nach Abschluss der Ermittlungen über das weitere Vorgehen:

  1. Einstellung mangels Tatverdachts (§ 170 Abs. 2 StPO): Ergibt sich kein hinreichender Tatverdacht, wird das Verfahren eingestellt.
  2. Einstellung aus Opportunitätsgründen (§§ 153 ff. StPO): Bei Bagatelldelikten kann das Verfahren unter bestimmten Bedingungen ohne Hauptverhandlung eingestellt werden.
  3. Absehen von Verfolgung bei erwiesener Schuld (§ 154, 154a StPO): Bei mehreren Gesetzesverstößen kann die Verfolgung einzelner Taten zurückgestellt oder eingestellt werden.
Anklageerhebung oder Strafbefehl

Besteht nach Abschluss der Ermittlungen ein hinreichender Tatverdacht (§ 170 Abs. 1 StPO), erhebt die Staatsanwaltschaft öffentliche Klage durch Einreichung einer Anklageschrift beim zuständigen Gericht. Bei geringfügigen Straftaten kann sie alternativ den Erlass eines Strafbefehls (§§ 407 ff. StPO) beim Gericht beantragen.

Besondere Konstellationen des Ermittlungsverfahrens

Ermittlungsverfahren mit besonderem Fokus

  • Jugendstrafrecht: Besondere Verfahrensvorschriften bei Beschuldigten zwischen 14 und 21 Jahren (§§ 43 ff. JGG).
  • Delikte mit besonderem öffentlichen Interesse: Beispielsweise Staatsschutzdelikte, Wirtschaftsstrafsachen, Umweltstrafsachen; oft zentralisierte Ermittlungsbehörden.
  • Untersuchungshaft: Bei dringendem Tatverdacht und besonderen Haftgründen kann Untersuchungshaft angeordnet werden (§ 112 StPO).

Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren

Viele Ermittlungsmaßnahmen, die in Grundrechte eingreifen (z. B. Freiheitsentziehnung, Durchsuchung), unterliegen strengen Voraussetzungen und richterlicher Kontrolle.

Einstellungsvoraussetzungen

Das Ermittlungsverfahren kann aus mehreren Gründen eingestellt werden, u.a. wegen Geringfügigkeit (§ 153 StPO), von Schadenswiedergutmachung (§ 153a StPO) oder mangelndem öffentlichen Interesse.

Rechtsschutzmöglichkeiten im Ermittlungsverfahren

Gegen Maßnahmen der Staatsanwaltschaft oder Polizei können Betroffene verschiedene Rechtsbehelfe einlegen, insbesondere Beschwerde (§ 304 StPO), Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 23 EGGVG) oder Anträge auf Aufhebung von Zwangsmaßnahmen (z. B. Haftbefehl, Durchsuchung).

Opfer und Geschädigte haben zudem die Möglichkeit, Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens einzulegen (§ 172 StPO).

Rechtsfolgen des Ermittlungsverfahrens

Mit Abschluss des Ermittlungsverfahrens entscheidet sich, ob es zu einer öffentlichen Hauptverhandlung kommt. Ein zu Unrecht Beschuldigter kann bei Einstellung einen Antrag auf Löschung polizeilicher oder staatsanwaltschaftlicher Einträge stellen.

Abgrenzung zu anderen Verfahrensabschnitten

Das Ermittlungsverfahren ist zu unterscheiden vom Zwischenverfahren (gerichtliche Prüfung der Anklage nach § 199 StPO) und der Hauptverhandlung vor Gericht. Außerdem existiert als Vorstufe zum Ermittlungsverfahren das sogenannte Vorermittlungsverfahren, in dem die Staatsanwaltschaft prüft, ob ein Anfangsverdacht besteht.

Zusammenfassung

Das Ermittlungsverfahren in Strafsachen ist eine zentrale Stufe des Strafprozesses in Deutschland. Es dient dem Zweck, Straftaten umfassend aufzuklären, Verantwortliche zu identifizieren und verfahrensrechtlich korrekt zu behandeln. Die Verfahrensvorschriften gewährleisten Rechte und Schutz sowohl für Beschuldigte als auch für Opfer. Mit Abschluss des Ermittlungsverfahrens entscheidet die Staatsanwaltschaft über das weitere Vorgehen, das entweder in eine Anklage mündet, mit einem Strafbefehl endet oder in einer Verfahrenseinstellung resultiert. Das Ermittlungsverfahren stellt damit die Weichen für das weitere strafrechtliche Vorgehen und ist von grundlegender Bedeutung für das strafrechtliche Schutzsystem in Deutschland.

Häufig gestellte Fragen

Wann besteht ein Anfangsverdacht, der die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens rechtfertigt?

Ein Anfangsverdacht liegt vor, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer verfolgbaren Straftat bestehen (§ 152 Abs. 2 StPO). Es genügt bereits eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass eine Straftat begangen wurde, um die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu rechtfertigen – Beweisreife ist nicht erforderlich. Die Staatsanwaltschaft ist bei Anfangsverdacht verpflichtet, das sogenannte Legalitätsprinzip zu beachten und Ermittlungen aufzunehmen. Quellen eines Anfangsverdachts können beispielsweise Strafanzeigen, Strafanträge oder auch polizeiliche Wahrnehmungen sein. Der Verdacht muss sich auf konkrete Tatsachen und nicht bloß auf vage Vermutungen stützen. Im weiteren Verlauf des Verfahrens kann sich dieser zu einem hinreichenden oder dringenden Tatverdacht verdichten.

Welche Rechte hat der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren?

Der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren hat zahlreiche Rechte, die sich aus der Strafprozessordnung ergeben, um das Recht auf ein faires Verfahren zu gewährleisten. Zu den wichtigsten Rechten zählen insbesondere das Recht auf Belehrung (§ 136 StPO), das Aussageverweigerungsrecht, das Recht auf Hinzuziehung eines Verteidigers (§ 137 StPO) sowie das Recht auf Akteneinsicht durch den Verteidiger (§ 147 StPO). Zudem steht dem Beschuldigten das Recht zu, Beweisanträge zu stellen und zur Tatvorwürfen Stellung zu nehmen. Er kann sich zur Sache einlassen oder die Aussage verweigern, ohne dass ihm daraus ein Nachteil erwächst. Im Falle einer Festnahme bestehen darüber hinaus weitergehende Rechte, etwa die sofortige Unterrichtung eines Verteidigers oder Angehöriger.

Welche Ermittlungsmaßnahmen dürfen ohne richterlichen Beschluss durchgeführt werden?

Bestimmte Ermittlungsmaßnahmen dürfen von der Polizei oder Staatsanwaltschaft ohne richterlichen Beschluss vorgenommen werden, sofern Gefahr im Verzug besteht oder gesetzlich eine solche Ermächtigung vorgesehen ist. Hierzu zählen insbesondere die einfache Identitätsfeststellung (§ 163b StPO), erste Befragungen, Sicherstellungen und Beschlagnahmen beweglicher Sachen, sofern der Betroffene zustimmt (§ 94 Abs. 2 StPO), sowie körperliche Untersuchungen, wie etwa eine Blutentnahme bei Gefahr im Verzug (§ 81a Abs. 2 StPO). Hausdurchsuchungen und längerfristige Überwachungsmaßnahmen sind hingegen grundsätzlich an einen richterlichen Beschluss gebunden, es sei denn, eine richterliche Entscheidung kann wegen Gefahr im Verzug nicht rechtzeitig eingeholt werden (§ 105, § 81a StPO).

Was geschieht nach Abschluss der Ermittlungen?

Nach Abschluss der Ermittlungen prüft die Staatsanwaltschaft, ob die erhobenen Beweise ausreichen, um öffentliche Klage zu erheben oder das Verfahren einzustellen. Kommt sie zu der Überzeugung, dass ein hinreichender Tatverdacht (§ 170 Abs. 1 StPO) besteht, erhebt sie Anklage oder beantragt den Erlass eines Strafbefehls (§ 407 StPO). Genügt die Beweislage jedoch nicht, um eine Verurteilung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, so stellt sie das Ermittlungsverfahren ein (§ 170 Abs. 2 StPO). In bestimmten Fällen kann das Verfahren auch nach den Opportunitätsvorschriften (§§ 153 ff. StPO) eingestellt werden, etwa bei Geringfügigkeit der Schuld oder unter Auflagen und Weisungen.

Welche Rolle spielt die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren?

Die Staatsanwaltschaft gilt im Ermittlungsverfahren als „Herrin des Verfahrens” und ist gemäß dem Legalitätsprinzip dafür zuständig, Straftaten zu verfolgen und die Wahrheit zu erforschen (§ 160 StPO). Sie leitet und überwacht alle Ermittlungsmaßnahmen, entscheidet über deren Durchführung und koordiniert die beteiligten Behörden, insbesondere die Polizei. Sie kann eigene Ermittlungen anstellen, die Polizei beauftragen, Maßnahmen anzuordnen oder Zeugen und Sachverständige vernehmen lassen. Am Ende des Verfahrens trifft sie die Entscheidung, ob Anklage erhoben oder das Verfahren eingestellt wird. Die Staatsanwaltschaft agiert dabei objektiv, das heißt, sie ermittelt sowohl belastende als auch entlastende Umstände.

Kann ein Ermittlungsverfahren auch ohne Wissen des Beschuldigten geführt werden?

Ja, ein Ermittlungsverfahren kann eine Zeit lang „verdeckte” Ermittlungen beinhalten, das heißt ohne unmittelbare Kenntnis des Beschuldigten geführt werden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn durch eine frühzeitige Information des Beschuldigten der Ermittlungserfolg gefährdet wäre, beispielsweise bei verdeckten Observationen, Telekommunikationsüberwachung oder bei der Akquise weiterer Beweismittel. Grundsätzlich muss der Beschuldigte jedoch spätestens nach Durchführung einer ersten Beschuldigtenvernehmung oder nach einer Zwangsmaßnahme (wie Durchsuchung oder Festnahme) informiert und als Beschuldigter belehrt werden (§ 163a Abs. 4 StPO).

Welche Möglichkeiten bestehen gegen Maßnahmen im Ermittlungsverfahren vorzugehen?

Gegen bestimmte Ermittlungsmaßnahmen stehen dem Betroffenen verschiedene Rechtsbehelfe zur Verfügung. Am häufigsten genutzt werden das sogenannte Widerspruchsverfahren bei Durchsuchungen und Beschlagnahmen gemäß §§ 98 Abs. 2, 105 StPO sowie die Beschwerde nach § 304 StPO gegen gerichtliche oder staatsanwaltschaftliche Anordnungen. Auch die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit von körperlichen Untersuchungen (§ 81a StPO) oder der Telekommunikationsüberwachung (§ 101 Abs. 7 StPO) kann beantragt werden. Außerdem kann nach Einstellung des Verfahrens der Verletzte (z. B. das Opfer einer Straftat) in bestimmten Fällen eine gerichtliche Entscheidung im Klageerzwingungsverfahren (§ 172 ff. StPO) beantragen.