Entsenderichtlinie
Die Entsenderichtlinie ist eine zentrale Richtlinie des europäischen Arbeitsrechts, die den Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern regelt, die von ihrem Arbeitgeber vorübergehend zur Erbringung von Dienstleistungen in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) entsandt werden. Sie bildet die rechtliche Grundlage für die Mindestarbeitsbedingungen, die entsandte Arbeitskräfte im jeweiligen Aufnahmestaat während der Dauer ihrer Entsendung genießen müssen. Die Entsenderichtlinie spielt eine bedeutende Rolle für die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Dienstleistungsfreiheit im Binnenmarkt der EU.
Rechtliche Grundlagen
Entwicklung und Zielsetzung
Die ursprüngliche Entsenderichtlinie, die Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, wurde eingeführt, um Wettbewerbsverzerrungen sowie das sogenannte Sozialdumping zu vermeiden und ein einheitliches Mindestschutzniveau für entsandte Beschäftigte sicherzustellen. Die Richtlinie legt fest, dass bestimmte arbeitsrechtliche Bestimmungen des Aufnahmestaates zwingend auch auf entsandte Beschäftigte Anwendung finden müssen.
Mit der Richtlinie (EU) 2018/957 wurde die ursprüngliche Entsenderichtlinie modernisiert und an neue Herausforderungen des Binnenmarkts angepasst, insbesondere im Hinblick auf die Gleichbehandlung und die Verbesserung der sozialen Rechte von entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
Anwendungsbereich
Die Entsenderichtlinie findet Anwendung, wenn Unternehmen ihren Beschäftigten die vorübergehende Erbringung von Dienstleistungen in einem anderen EU-Mitgliedstaat zuweisen. Dabei unterscheidet die Richtlinie zwischen folgenden Konstellationen:
- Entsendung im Rahmen von Dienstleistungsverträgen
- Entsendung in eine Niederlassung oder Unternehmen derselben Unternehmensgruppe
- Überlassung von Arbeitskräften durch Leiharbeitsunternehmen in einen anderen Mitgliedstaat
Die Richtlinie gilt nicht für Arbeitnehmer, die ausschließlich zur Stellensuche oder dauerhaften Arbeitsaufnahme in einen anderen EU-Mitgliedstaat reisen.
Wesentliche Bestimmungen der Entsenderichtlinie
Mindestarbeitsbedingungen
Die zentrale Vorschrift der Entsenderichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass entsandten Arbeitnehmenden während der Dauer ihrer Entsendung bestimmte nationale Schutzvorschriften des Aufnahmestaats gewährt werden. Zu diesen Mindestarbeitsbedingungen gehören insbesondere:
- Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten
- Mindestlohnsätze (seit 2018: „Entlohnung“)
- Arbeits- und Urlaubsbedingungen
- Gesundheit, Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz
- Bedingungen für die Überlassung von Arbeitskräften
- Gleichbehandlung von Männern und Frauen sowie andere Diskriminierungsverbote
Mit der sogenannten „Reformrichtlinie“ von 2018 wurde der Begriff „Mindestlohn“ durch „Entlohnung“ ersetzt. Dies bedeutet, dass alle gesetzlichen, tarifvertraglichen und durch Rechtsverordnung vorgeschriebenen Lohnbestandteile im Aufnahmestaat für entsandte Arbeitnehmer gelten.
Dauer der Entsendung
Die geänderte Richtlinie legt fest, dass die Pflicht zur Gleichbehandlung für die Dauer von bis zu 12 Monaten (mit möglicher Verlängerung auf 18 Monate) gilt. Nach Ablauf dieser Frist müssen nahezu sämtliche Arbeitsbedingungen des Aufnahmestaats, die gesetzlich, per Verordnung oder in allgemeinverbindlichen Tarifverträgen geregelt sind, auf die entsandten Arbeitskräfte angewendet werden (ausgenommen sind Regelungen über das Zustandekommen und die Beendigung des Arbeitsvertrags).
Arbeitsrechtsdurchsetzung und Verwaltungszusammenarbeit
Die Entsenderichtlinie verpflichtet die EU-Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit der nationalen Behörden, insbesondere durch den Austausch von Informationen. Zur Durchsetzung und Kontrolle der Vorschriften sind Meldepflichten und Dokumentationspflichten für entsendende Unternehmen vorgesehen. Nationale Kontrollinstanzen prüfen die Einhaltung der Mindestarbeitsbedingungen, zum Beispiel durch Baustellenkontrollen oder Überprüfung von Lohnunterlagen.
Mit der Durchsetzungsrichtlinie 2014/67/EU wurden spezifische Instrumente zur Verbesserung und Vereinfachung der Überwachung, Bekämpfung von Umgehungen und Durchsetzung geschaffen.
Besondere Regelungen im Bereich der Bauwirtschaft
Für das Baugewerbe sieht die Entsenderichtlinie aufgrund besonderer Missbrauchsrisiken und Strukturmerkmale erweiterte Vorgaben vor. Hier gelten beispielsweise umfassende Informationspflichten über die Mindestarbeitsbedingungen sowie regelmäßig verschärfte Kontrollmaßnahmen.
Verhältnis zur Freizügigkeit und zum Binnenmarkt
Die Entsenderichtlinie steht im Spannungsverhältnis zwischen Dienstleistungsfreiheit nach Artikel 56 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und dem Schutz der Arbeits- und Sozialrechte. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in mehreren relevanten Entscheidungen (etwa „Laval“, „Rüffert“ oder „Viking Line“) diverse Aspekte der Abgrenzung und Auslegung im Spannungsfeld von wirtschaftlicher Freiheit und sozialem Schutz präzisiert. Die Richtlinie sieht vor, dass sie nationale Maßnahmen nicht beeinträchtigt, die zugunsten des Arbeitnehmerschutzes über das in der Richtlinie vorgesehene Maß hinausgehen, soweit diese mit dem Unionsrecht vereinbar sind.
Umsetzung in Deutschland
Die rechtliche Umsetzung der Entsenderichtlinie in Deutschland erfolgte im Wesentlichen durch das Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG). Es verpflichtet Unternehmen, die im Ausland ansässige Arbeitnehmer nach Deutschland entsenden, zur Einhaltung der zwingenden deutschen Mindestarbeitsbedingungen, insbesondere aus allgemeinverbindlichen Tarifverträgen.
Sanktionen und Rechtsfolgen bei Verstößen
Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, bei Verstößen gegen die Entsenderichtlinie wirksame, abschreckende und verhältnismäßige Sanktionen festzulegen. Mögliche Sanktionen umfassen Bußgelder, Nachzahlungsforderungen oder sogar ein Tätigkeitsverbot für Unternehmen. Für entsandte Beschäftigte bestehen Ansprüche auf Differenzvergütung, sollten sie schlechter als einheimische Arbeitskräfte bezahlt oder behandelt werden.
Fazit und Ausblick
Die Entsenderichtlinie stellt ein zentrales Regelungsinstrument zum Schutz der Rechte entsandter Arbeitskräfte im Binnenmarkt dar. Sie gleicht wirtschaftliche Wettbewerbsinteressen und grenzüberschreitenden Arbeitnehmer- und Sozialschutz aus. Durch fortlaufende Änderungen, gerichtliche Auslegung und nationale Umsetzung bleibt die Entsenderichtlinie ein dynamisches Feld des europäischen Arbeitsrechts.
Literatur und weiterführende Links
- Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen
- Richtlinie (EU) 2018/957 zur Änderung der Entsenderichtlinie
- Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG)
- Durchsetzungsrichtlinie 2014/67/EU
Weiterführende Informationen sind auf den Webseiten der EU-Kommission sowie der jeweiligen nationalen Behörden abrufbar.
Häufig gestellte Fragen
Welche Arbeitsbedingungen müssen nach der Entsenderichtlinie mindestens eingehalten werden?
Gemäß der Entsenderichtlinie (Richtlinie (EU) 2018/957 zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen) müssen entsandten Arbeitnehmern während ihrer Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat bestimmte grundlegende Arbeitsbedingungen gewährleistet werden. Zu diesen Mindestbedingungen zählen insbesondere die höchstzulässige Arbeits- und Ruhezeit, die Mindestlohnsätze einschließlich Überstundensätze, der bezahlte Mindestjahresurlaub, die Bedingungen für die Überlassung von Leiharbeitnehmern (§ 8 AÜG), sowie Sicherheits-, Gesundheitsschutz- und Hygienestandards am Arbeitsplatz. Ebenfalls umfasst sind Gleichbehandlungsgrundsätze von Männern und Frauen sowie Bedingungen bezüglich Unterkünften, sofern diese vom Arbeitgeber gestellt werden, und Zulagen oder Erstattung von Reise-, Verpflegungs- und Unterkunftskosten bei dienstlich bedingten Abwesenheiten. Alle Bedingungen, die durch Gesetze, Verordnungen, Tarifverträge oder Schiedssprüche am Einsatzort für vergleichbare Arbeitnehmer zwingend vorgeschrieben sind, sind einzuhalten. Diese Vorschriften sollen sicherstellen, dass entsandte Arbeitnehmer während ihres Arbeitseinsatzes nicht schlechter gestellt werden als lokale Arbeitnehmer im Einsatzland.
Wie wird die Einhaltung der Entsenderichtlinie kontrolliert und sanktioniert?
Die Überwachung und Kontrolle der Einhaltung der Entsenderichtlinie obliegt in den EU-Mitgliedstaaten den jeweiligen nationalen Behörden, meist den Arbeitsinspektoraten oder Zollbehörden. Arbeitgeber, die Arbeitnehmer entsenden, müssen oft vor Beginn der Entsendung meldepflichtige Angaben einreichen, beispielsweise zur Identität des Arbeitnehmers, dem Beginn und Ende der Entsendung, sowie zur Art der Tätigkeit und dem Ort der Arbeitsausführung. Bei Verstößen gegen die Mindestanforderungen können je nach nationalem Recht Sanktionen wie Bußgelder, Nachzahlungen an Arbeitnehmer (etwa bei Unterschreitung des Mindestlohns), das Verbot von weiteren Entsendungen oder auch strafrechtliche Konsequenzen verhängt werden. Zudem sehen manche Mitgliedstaaten das sogenannte „Kettenhaftungsmodell“ vor, bei dem Auftraggeber unter bestimmten Umständen für Verstöße haftbar gemacht werden können. Die Durchsetzung erstreckt sich auch auf Unternehmen ohne Niederlassung in dem Aufnahmeland und kann mit Hilfe europäischer Amtshilfe erfolgt werden.
Welche besonderen Regelungen gelten für langfristige Entsendungen?
Für langfristige Entsendungen, also solche mit einer Dauer von mehr als zwölf Monaten (unter bestimmten Umständen bis zu 18 Monaten bei ordnungsgemäßer Begründung), sieht die Richtlinie eine Ausweitung der anzuwendenden Arbeitsbedingungen vor. Überschreitet die Entsendung diesen Zeitraum, haben die entsandten Arbeitnehmer Anspruch auf sämtliche im Aufnahmemitgliedstaat geltenden Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen – mit Ausnahme bestimmter betriebsverfassungsrechtlicher oder kollektivrechtlicher Bestimmungen wie etwa zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder zur betrieblichen Altersversorgung. Die verpflichtende Anwendung fast aller Vorschriften des Aufnahmestaates soll einer unangemessenen Benachteiligung gegenüber lokal Beschäftigten vorbeugen und für einen umfassenden Arbeitnehmerschutz sorgen.
Wie verhält sich die Entsenderichtlinie zum Sozialversicherungsrecht?
Die Entsenderichtlinie regelt primär arbeitsrechtliche Aspekte, das heißt die zu gewährleistenden Mindestarbeitsbedingungen. Das Sozialversicherungsrecht wird hingegen europaweit durch andere Vorschriften, insbesondere die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, geregelt. Demnach bleiben entsandte Arbeitnehmer in der Regel bis zu 24 Monate weiterhin im Sozialsystem ihres Herkunftsstaates versichert, vorausgesetzt, die Entsendung ist vorübergehend und die Person arbeitet nicht dauerhaft im Aufnahmestaat. Die Ausstellung einer sogenannten A1-Bescheinigung ist dafür Voraussetzung. Die parallele Anwendung der unterschiedlichen europäischen Regelwerke erfordert daher sowohl eine arbeitsrechtliche als auch sozialversicherungsrechtliche Überprüfung bei jeder Entsendung.
Welche Bestimmungen gelten für Subunternehmen oder Leiharbeitnehmer nach der Entsenderichtlinie?
Die Entsenderichtlinie erstreckt sich ausdrücklich auch auf Arbeitnehmer, die im Rahmen von Subunternehmen oder über einen Personaldienstleister beziehungsweise Leiharbeitsunternehmen im Ausland eingesetzt werden. Für diese Gruppen gelten die gleichen zwingenden Mindeststandards des jeweiligen Einsatzstaates. Außerdem gibt es Bestimmungen, die es Leiharbeitnehmern ermöglichen, gegenüber deren Arbeitgebern auf Gleichbehandlung im Vergleich zu direkt im Einsatzstaat angestellten Arbeitnehmern zu bestehen. Auftraggeber müssen daher bei der Auswahl sowie bei der Vertragsgestaltung mit Subunternehmen und Leiharbeitsfirmen sicherstellen, dass diese die gesetzlichen oder tariflichen Mindestarbeitsbedingungen tatsächlich einhalten, da sie in gewissen Konstellationen mit in die Haftung genommen werden können.
Welche länderspezifischen Unterschiede sind bei der Umsetzung der Entsenderichtlinie zu beachten?
Trotz der europaweit harmonisierten Vorgaben gewährt die Entsenderichtlinie den Mitgliedstaaten einen gewissen Umsetzungsspielraum, insbesondere hinsichtlich der Definition und Herkunft der Mindestarbeitsbedingungen. Während in einigen Staaten branchenspezifische, allgemeinverbindliche Tarifverträge eine zentrale Rolle spielen, basieren in anderen die Bedingungen primär auf gesetzlichen Regelungen. Auch Meldepflichten, Fristen und das zu verwendende Meldeverfahren können sich von Land zu Land unterscheiden. Des Weiteren gibt es Unterschiede in der Bußgeldhöhe, der praktischen Durchsetzung oder bei Anforderungen an die Dokumentation (z.B. in welcher Sprache Lohnunterlagen vorgehalten werden müssen). Unternehmen sind daher verpflichtet, sich für jede Entsendung individuell mit den jeweiligen nationalen Bestimmungen und ggf. Besonderheiten einzelner Branchen auseinanderzusetzen.
Welche Rechte haben entsandte Arbeitnehmer im Falle eines Verstoßes gegen die Entsenderichtlinie?
Wird gegen die Entsenderichtlinie und die darauf beruhenden nationalen Umsetzungsvorschriften verstoßen, stehen entsandten Arbeitnehmern verschiedene Rechtsbehelfe zur Verfügung. Sie können, oft auch mit Unterstützung von Gewerkschaften, die ihnen zustehenden Arbeitsbedingungen (wie etwa Nachzahlungen beim Lohn) sowohl im Einsatzland als auch im Herkunftsstaat des Unternehmens einklagen. Die nationalen Gerichte und Behörden sind verpflichtet, die einschlägigen Vorschriften zugunsten des Arbeitnehmers anzuwenden und durchzusetzen. Darüber hinaus schützen bestimmte Antidiskriminierungs- und Repressalienverbote die Arbeitnehmer davor, aufgrund der Geltendmachung ihrer Rechte benachteiligt oder gekündigt zu werden. Die EU-Mitgliedstaaten sind zudem verpflichtet, für transparente Beschwerde- und Durchsetzungsmechanismen zu sorgen.