Begriff und rechtliche Grundlagen der Entflechtung
Die Entflechtung ist ein zentraler Begriff im deutschen und europäischen Wirtschaftsrecht. Er beschreibt Maßnahmen, die auf die Trennung enger wirtschaftlicher oder organisatorischer Verflechtungen zwischen Unternehmen oder Unternehmensbereichen abzielen, um die Entstehung oder Festigung marktbeherrschender Stellungen zu verhindern beziehungsweise bestehende Wettbewerbsbeschränkungen aufzulösen. Entflechtungsvorschriften und -maßnahmen dienen insbesondere dem Schutz des Wettbewerbs und der Sicherstellung effizienter Marktstrukturen.
Historische Entwicklung und Bedeutung
Die Entflechtung wurde erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der Entflechtung der deutschen Großindustrie angewandt, vor allem gegen große Unternehmen in der Montanindustrie. In der heutigen Rechtsordnung hat die Entflechtung – vor allem infolge der Liberalisierung vormals monopolistischer Sektoren wie Energie, Telekommunikation und Schienenverkehr – erneut erheblich an Bedeutung gewonnen.
Entflechtung im Kartellrecht
Gesetzliche Grundlagen
Die wesentlichen gesetzlichen Regelungen zur Entflechtung finden sich im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), insbesondere in den Vorschriften zur Fusionskontrolle (§§ 35 ff. GWB) sowie in den Bestimmungen zur Missbrauchsaufsicht (§§ 19 ff. GWB). Darüber hinaus enthält das Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) mit Art. 101 und 102 zentrale Vorschriften für das europäische Wettbewerbsrecht, die Entflechtungsmaßnahmen ermöglichen oder voraussetzen können.
Formen der Entflechtung
Strukturelle Entflechtung
Die strukturelle Entflechtung umfasst insbesondere die vollständige oder teilweise Aufspaltung von Unternehmen oder Konzernstrukturen. Ziel ist es dabei, wirtschaftliche Machtkonzentrationen aufzulösen oder deren Entstehung zu verhindern. Beispiele sind die Anordnung von Veräußerungen (Desinvestitionen) bestimmter Betriebsbereiche durch die Kartellbehörden nach einer Fusion.
Funktionale und organisatorische Entflechtung
Die funktionale Entflechtung bezieht sich auf die Trennung bestimmter Tätigkeiten oder Funktionsbereiche eines Unternehmens, etwa Vertrieb und Produktion. Die organisatorische Entflechtung sieht vor, dass Unternehmen bestimmte Bereiche separat führen, beispielsweise durch eigene Leitungsgremien, räumliche Trennung oder separate Buchführung.
Reziproke Entflechtung
Reziproke Entflechtung liegt vor, wenn Unternehmen gegenseitige Beteiligungen auflösen oder Verträge beenden müssen, um wettbewerbsrechtliche Bedenken zu beseitigen. Dies geschieht insbesondere bei Beteiligungen, die eine zu starke Verflechtung verschiedener Marktakteure bewirken.
Legalfolgen und Anordnungsbefugnisse
Im Rahmen der Fusionskontrolle können Kartellbehörden zur Abwendung unzulässiger Zusammenschlüsse oder Missbrauchsfälle Entflechtungsmaßnahmen anordnen, darunter auch die Verpflichtung zur Veräußerung von Unternehmensteilen (sog. Divestitures). Neben der präventiven Entflechtung im Zuge der Untersagung von Zusammenschlüssen können auch nachträgliche Maßnahmen (z. B. Rückabwicklung) angeordnet werden, wenn eine genehmigte Fusion entgegen Auflagen umgesetzt wurde.
Entflechtung im Energierecht
Rechtliche Anknüpfungspunkte
Im Bereich der Netzindustrien, insbesondere des Energierechts, ist die Entflechtung ein wesentlicher Regelungsgegenstand. Das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) sieht ausführliche Entflechtungsvorgaben für Energieversorgungsunternehmen vor, die sowohl den Bereich Elektrizität als auch Gas betreffen.
Entflechtungsvorgaben des EnWG
Ziel der Entflechtungsvorschriften (§§ 6 ff. EnWG) ist es, den diskriminierungsfreien Zugang Dritter zu Netzen sicherzustellen und Wettbewerbsverzerrungen – insbesondere vor dem Hintergrund integrierter Energieversorgungsunternehmen – zu verhindern. Das Gesetz kennt verschiedene Stufen der Entflechtung:
Buchhalterische Entflechtung
Buchhalterische Entflechtung erfordert separate Buchführungen für die einzelnen Tätigkeitsbereiche (etwa Netzbetrieb vs. Energievertrieb).
Gesellschaftsrechtliche Entflechtung
Bei Unternehmen einer bestimmten Größe und Bedeutung ist eine vollständige gesellschaftsrechtliche Entflechtung vorgeschrieben, d. h. der Netzbetrieb ist in rechtlich eigenständige Gesellschaften auszugliedern.
Informationelle Entflechtung
Informationelle Entflechtung verpflichtet dazu, sensible, wettbewerbsrelevante Informationen von Netzbetrieb und übrigen Tätigkeiten streng zu trennen, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden.
Management-Entflechtung
Die Management-Entflechtung umfasst die Trennung zwischen Leitungspersonal des Netzbereichs und jenem anderer Geschäftsbereiche.
Europarechtliche Vorgaben
Die Vorgaben des EnWG basieren maßgeblich auf den europäischen Entflechtungsvorgaben (insbesondere der im sogenannten Dritten Binnenmarktpaket festgelegten Richtlinien; RL 2009/72/EG und RL 2009/73/EG), die eine vertiefte Entflechtung insbesondere in Form des sogenannten Unbundlings verlangen.
Entflechtung im Telekommunikationsrecht
Auch das Telekommunikationsgesetz (TKG) enthält Entflechtungsvorschriften mit vergleichbarer Zielsetzung wie im Energierecht. Auch hier geht es um den diskriminierungsfreien Netzzugang und die Förderung des Wettbewerbs. Die Bundesnetzagentur übt in diesem Kontext die zentrale Aufsichtsfunktion über die Einhaltung der Entflechtungsauflagen aus.
Entflechtung im Vergaberecht und öffentlichen Sektor
Im Rahmen des Vergaberechts kann Entflechtung eine Rolle spielen, wenn öffentliche Unternehmen eigenständig am Markt tätig werden oder bestimmte wettbewerbsverzerrende Strukturen aufgelöst werden sollen, um den Zugang Dritter zu Märkten oder Infrastrukturen zu gewährleisten.
Verfahren und Rechtsfolgen
Anordnung und Durchsetzung
Entflechtungsmaßnahmen werden von den jeweils zuständigen Aufsichts- oder Regulierungsbehörden (wie Bundeskartellamt oder Bundesnetzagentur) angeordnet. Die von der Entflechtung betroffenen Unternehmen sind dabei regelmäßig verpflichtet, innerhalb gesetzter Fristen Umsetzungsmaßnahmen zu ergreifen und Nachweise zu führen.
Rechtsmittel
Gegen Entflechtungsanordnungen bestehen regelmäßig Rechtsbehelfe, insbesondere die Möglichkeit der Anfechtung vor den Verwaltungsgerichten bzw. der europäischen Gerichte. Die Erfolgsaussichten hängen vom konkreten Einzelfall und der Einhaltung materiell-rechtlicher und verfahrensrechtlicher Anforderungen ab.
Literaturhinweise und weiterführende Quellen
- Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)
- Energiewirtschaftsgesetz (EnWG)
- Telekommunikationsgesetz (TKG)
- Richtlinien 2009/72/EG und 2009/73/EG des Europäischen Parlaments
- BeckOK GWB, Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.)
- Säcker, Energierecht
Zusammenfassend ist die Entflechtung ein bedeutendes Instrument des Wettbewerbs-, Energie- und Wirtschaftsrechts zur Aufrechterhaltung funktionsfähiger Märkte und zur Verhinderung von Diskriminierung und Missbrauch von Marktmacht. Sie verfolgt das Ziel, Marktstrukturen zu schaffen und zu erhalten, welche den Wettbewerb fördern und die Interessen der Marktteilnehmer sowie der Allgemeinheit wahren.
Häufig gestellte Fragen
Wann ist eine Entflechtung aus rechtlicher Sicht zwingend erforderlich?
Eine Entflechtung ist rechtlich zwingend erforderlich, wenn durch die bestehende Unternehmensstruktur eine erhebliche Beeinträchtigung des Wettbewerbs auf relevanten Märkten entsteht oder droht. Dies ist insbesondere im Kartellrecht der Fall, etwa nach den Regelungen des § 32 Abs. 2 GWB (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen) in Deutschland bzw. Art. 7 der EU-Kartellverordnung (VO 1/2003). Eine Anordnung zur Entflechtung kommt typischerweise dann in Betracht, wenn marktbeherrschende Unternehmen ihre Stellung missbrauchen, zum Beispiel durch Preisgestaltung, Behinderung des Marktzugangs von Wettbewerbern oder durch marktabschottende Strukturen, die aus der vertikalen oder horizontalen Integration resultieren. Die Entflechtung kann als letztes Mittel (ultima ratio) angeordnet werden, wenn mildere Maßnahmen, wie Verhaltensauflagen, den Wettbewerb nicht nachhaltig sichern können. Dabei sind die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Schutzes berechtigter Unternehmensinteressen zu berücksichtigen.
Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen für eine Entflechtungsanordnung erfüllt sein?
Für eine rechtliche Anordnung der Entflechtung ist erforderlich, dass eine eingehende Prüfung und Feststellung einer unzulässigen Wettbewerbsbeschränkung oder eines Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung erfolgt. Die Behörde – in Deutschland meist das Bundeskartellamt – muss substantiiert darlegen, dass die bestehende Unternehmensstruktur erhebliche nachteilige Auswirkungen auf den Wettbewerb hat oder haben kann und dass keine weniger einschneidenden Maßnahmen dieses Ziel erreichen. Ferner fordert das Gesetz eine umfassende Interessenabwägung zwischen dem Wettbewerbsinteresse und den betroffenen Unternehmensinteressen, insbesondere dem Eigentumsrecht. Die Entflechtung darf nicht über das zur Wiederherstellung des Wettbewerbs erforderliche Maß hinausgehen. Im Kontext von Sektorenregulierung (z. B. Energie, Telekommunikation) sind spezifische sektorspezifische Regelungen, wie das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG), ergänzend zu berücksichtigen.
Welche Akteure sind befugt, eine Entflechtung anzuordnen?
Im Bereich des deutschen und europäischen Wettbewerbsrechts obliegt die Befugnis zur Anordnung einer Entflechtung primär den Wettbewerbsbehörden. In Deutschland agiert hier das Bundeskartellamt als zentral zuständige Behörde, während auf europäischer Ebene die Europäische Kommission diese Kompetenz nach Art. 7 VO 1/2003 besitzt. Darüber hinaus können in bestimmten regulierten Sektoren (z. B. Energiesektor) sektorspezifische Regulierungsbehörden (wie die Bundesnetzagentur) über Maßnahmen zur strukturellen Trennung entscheiden, sofern dies zur Verhinderung von Diskriminierungen oder zur Förderung des Wettbewerbs erforderlich ist. Den Gerichten kommt eine Kontrollfunktion zu, etwa im Rahmen von Rechtsbehelfen gegen behördliche Entflechtungsanordnungen.
Welche rechtlichen Instrumente stehen im Rahmen der Entflechtung zur Verfügung?
Das zentrale rechtliche Instrument ist die Verfügung oder Anordnung zur Entflechtung im Sinne des § 32 GWB bzw. Art. 7 VO 1/2003. Inhaltlich kann die Entflechtung unterschiedliche Maßnahmen beinhalten, darunter die Veräußerung von Unternehmensteilen, die Ausgliederung bestimmter Geschäftsbereiche oder die Aufhebung von gesellschaftsrechtlichen Verflechtungen. Je nach sektorspezifischer Rechtslage können zudem organisatorische Entflechtungen (z. B. existierende Vorschriften zur buchhalterischen, informatorischen oder juristischen Trennung nach dem EnWG oder TKG) angeordnet werden. Neben der eigentlichen Entflechtung besteht auch die Möglichkeit der Anordnung flankierender Maßnahmen, wie Verhaltensauflagen oder Berichtspflichten, um den Entflechtungsprozess wirksam zu gestalten und zu kontrollieren.
Welche rechtlichen Risiken und Haftungsfragen ergeben sich bei einer Entflechtung?
Bei einer angeordneten Entflechtung bestehen für die betroffenen Unternehmen zahlreiche rechtliche Risiken, insbesondere im Hinblick auf Schadensersatzansprüche von Vertragspartnern, Mitarbeitern oder Gesellschaftern im Zuge der Umstrukturierung. Ferner können Wettbewerber oder Dritte im Falle einer rechtswidrigen Entflechtungsmaßnahme Schadensersatzansprüche gegen die Behörde geltend machen. Aus unternehmensrechtlicher Sicht sind die komplizierten arbeits-, gesellschafts-, und steuerrechtlichen Implikationen sowie eventuelle Transaktionskosten zu beachten. Zudem sind Fristen und Formerfordernisse der Anfechtung einer Entflechtungsanordnung zu wahren, da andernfalls die gerichtliche Überprüfung und die Möglichkeit einer aufschiebenden Wirkung verloren gehen können.
Inwieweit sind Eigentumsgarantien nach Grundgesetz oder EU-Recht bei Entflechtungsmaßnahmen zu berücksichtigen?
Die Entflechtung von Unternehmen stellt stets einen Eingriff in das grundrechtlich geschützte Eigentum dar (Art. 14 GG, Art. 17 EU-Grundrechtecharta). Aus diesem Grund müssen Entflechtungsmaßnahmen verhältnismäßig sein und dürfen nicht weiter gehen, als es zur Herstellung oder Sicherung des Wettbewerbs erforderlich ist (Verhältnismäßigkeitsprinzip). Der Eingriff muss auf einer ausreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage beruhen, und es sind neben den Interessen des Wettbewerbs auch die unternehmerischen Belange sowie der Vertrauensschutz und das Recht auf wirtschaftliche Betätigung zu berücksichtigen. Im Falle einer entschädigungspflichtigen Maßnahme ist unter Umständen ein Ausgleich zu leisten, was insbesondere bei vollständiger Enteignung oder zwangsweiser Veräußerung von Unternehmensteilen diskutiert wird.
Welche Bedeutung haben verfahrensrechtliche Regeln und Rechtsschutzmöglichkeiten im Zusammenhang mit Entflechtungsentscheidungen?
Im Kontext der Entflechtung kommt verfahrensrechtlichen Vorgaben erhebliche Bedeutung zu. Unternehmen sind im Rahmen des Verwaltungsverfahrens grundsätzlich anzuhören und haben Anspruch auf rechtliches Gehör sowie Akteneinsicht nach Maßgabe der Verwaltungsverfahrensgesetze und des Kartellrechts. Die Betroffenen können gegen eine Entflechtungsanordnung innerhalb bestimmter Fristen Rechtsmittel einlegen (z. B. Widerspruch, Klage vor den Verwaltungsgerichten, im Wettbewerbsrecht auch Beschwerden vor den Kartellgerichten). Die Rechtmäßigkeit einer Entflechtungsmaßnahme kann dabei gerichtlich umfassend überprüft werden, einschließlich der Vereinbarkeit mit höherrangigem europäischen Recht und nationalen verfassungsrechtlichen Vorgaben. Aufschiebende Wirkung und einstweiliger Rechtsschutz sind unter bestimmten Voraussetzungen möglich.