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Einigungsmangel


Einigungsmangel im rechtlichen Kontext

Der Begriff Einigungsmangel bezeichnet im deutschen Zivilrecht einen grundlegenden Fehler im Zustandekommen von Verträgen. Gemeint ist, dass zwischen den Vertragsparteien kein vollständiges Einvernehmen über die erforderlichen Vertragsbestandteile erzielt wurde. Ein Einigungsmangel kann dazu führen, dass ein Vertrag nicht oder nicht mit dem beabsichtigten Inhalt zustande kommt. Die nachfolgende Ausarbeitung erläutert die Systematik, die Arten und die Rechtsfolgen eines Einigungsmangels und stellt die maßgeblichen Rechtsgrundlagen sowie Besonderheiten dar.


Begriff und Systematik des Einigungsmangels

Definition von Einigungsmangel

Ein Einigungsmangel liegt vor, wenn die Willenserklärungen der Parteien, die zum Abschluss eines Vertrages ausgetauscht werden, nicht vollständig oder nicht inhaltlich übereinstimmen. In der Regel entsteht ein Vertrag nach §§ 145 ff. BGB durch Angebot und Annahme. Fehlt es hierbei an einem Konsens über die wesentlichen Vertragsbestandteile, spricht man von einem Einigungsmangel.

Abgrenzung: Konsens, Dissens und Einigungsmangel

Konsens: Ein Vertrag ist zustande gekommen, wenn die Willenserklärungen inhaltlich übereinstimmen (Vollkonsens) oder wenn nach den Regelungen der §§ 154, 155 BGB von einem sogenannten „Minus-Konsens“ auszugehen ist.
Dissens: Der ausdrückliche oder versteckte (latenter) Dissens stellt das Gegenstück zum Konsens dar. Im Falle des Dissens fehlt es an einer Einigung über die Vertragsbestandteile.
Einigungsmangel: Ein Einigungsmangel kann als Oberbegriff die Erscheinungsformen des offenen oder des versteckten Dissenses umfassen.


Arten des Einigungsmangels

Offener Dissens

Ein offener Dissens liegt nach § 154 BGB („Offener Einigungsmangel“) vor, wenn die Parteien erkennen, dass sie sich über einen Punkt (noch) nicht geeinigt haben. Häufig werden Verträge „unter Vorbehalt“ oder vorbehaltlich einer weiteren Einigung abgeschlossen. § 154 Abs. 1 BGB regelt dies ausdrücklich.

Versteckter Dissens (latenter Einigungsmangel)

Beim versteckten oder latenten Dissens wissen die Parteien nicht, dass sie sich in einem Punkt tatsächlich nicht geeinigt haben. Dies ist in § 155 BGB geregelt, der Fälle betrifft, in denen ein Vertrag über bestimmte Punkte lückenhaft bleibt, ohne dass dies den Parteien bewusst ist.


Voraussetzung der Einigung: Angebot und Annahme

Ein Einigungsmangel macht sich insbesondere im Rahmen der Willenserklärungen bemerkbar. Das deutsche Zivilrecht fordert – als Grundvoraussetzung eines Vertrages – ein inhaltlich übereinstimmendes Angebot und eine ebenso lautende Annahme. Mangelt es an dieser Deckungsgleichheit, spricht man von einem Einigungsmangel. Dies kann sich beispielhaft wie folgt äußern:

Die Parteien sind sich über den Kaufgegenstand nicht einig.
Die Höhe des Kaufpreises bleibt ungeklärt.
Es besteht Unklarheit über vertragswesentliche Nebenabreden.


Rechtsfolgen eines Einigungsmangels

Vertrag kommt nicht zustande

In aller Regel führt ein Einigungsmangel dazu, dass kein wirksamer Vertrag zustande kommt. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn ein offener oder versteckter Dissens die „essentialia negotii“, also die wesentlichen Vertragsbestandteile (z.B. Kaufgegenstand, Kaufpreis), betrifft.

Teilnichtigkeit

In einzelnen Fällen kann es – wenn sich der Einigungsmangel nur auf Nebenpunkte bezieht – dazu kommen, dass der Vertrag im verbleibenden Umfang wirksam ist. Ob dies der Fall ist, richtet sich nach der Auslegungsregel des § 155 BGB. Auch eine ergänzende Vertragsauslegung ist möglich, sofern die Parteien den Vertrag auch ohne Einigung über den strittigen Punkt geschlossen hätten.

Vorvertragliche Bindung

§ 154 BGB regelt, dass bis zur Einigung über alle Punkte noch keine Bindung besteht, sofern dies die Parteien im Zweifel wollen. Ausnahmen können sich aus der Verkehrssitte oder aus dem Willen der Vertragsparteien ergeben.


Praktische Erscheinungsformen des Einigungsmangels

Formulierung offener Fragen

Oftmals ist in Vertragsverhandlungen erkennbar, dass es einen Einigungsmangel gibt, weil einzelne Punkte offen bleiben oder ausdrücklich ausgeklammert werden.

Missverständnisse und Auslegungsfragen

Latente Einigungsmängel ergeben sich häufig aus Auslegungsunterschieden über Begriffe oder Vertragsklauseln. Maßstab bei der Ermittlung eines latenten Einigungsmangels ist die Auslegung nach §§ 133, 157 BGB (Auslegung von Willenserklärungen und Verträgen).


Einigungsmangel in Sonderfällen

Einigungsmangel und Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB)

Bei der Verwendung von AGB können Einigungsmängel auftreten, etwa wenn wesentliche Vertragsbestandteile in Allgemeinen Geschäftsbedingungen unterschiedlich geregelt werden. Die Unwirksamkeit einer Klausel nach § 305 ff. BGB führt dabei nur ausnahmsweise zu einem Einigungsmangel, häufig tritt eine gesetzliche Ersatzregelung ein.

Einigungsmangel im Arbeitsrecht und Gesellschaftsrecht

Auch bei arbeitsrechtlichen oder gesellschaftsrechtlichen Verträgen können Einigungsmängel gravierende Folgen haben. Bleiben Vertragsinhalte unklar oder kommt es zu Missverständnissen, entstehen Rechtsunsicherheiten hinsichtlich des Zustandekommens und der Reichweite der Verträge.


Gesetzliche Grundlagen des Einigungsmangels

§ 154 BGB: Offener Einigungsmangel (offener Dissens)
§ 155 BGB: Versteckter Einigungsmangel (latenter Dissens)
§§ 133, 157 BGB: Auslegung von Willenserklärungen und Verträgen

Daneben enthalten zahlreiche Spezialgesetze (etwa im Kaufrecht, Mietrecht, Baurecht) Regelungen zur Behebung oder Rechtsfolge von Einigungsmängeln.


Literatur und weiterführende Informationen

Palandt, BGB-Kommentar, zu §§ 154, 155 BGB
MüKo-BGB, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch
Brox/Walker, Allgemeiner Teil des BGB


Fazit

Der Einigungsmangel ist ein zentrales Problemfeld im deutschen Vertragsrecht. Er betrifft das Zustandekommen und die Wirksamkeit privatrechtlicher Verträge in allen Lebensbereichen. Die genaue rechtliche Bewertung hängt von der Unterscheidung zwischen offenem und verstecktem Dissens sowie von den Umständen des Einzelfalls ab. Die §§ 154 und 155 BGB bilden das Fundament der gesetzlichen Regelung zu Konsens und Dissens und sichern damit den Grundsatz der Privatautonomie und Rechtsklarheit im Zivilrecht.

Häufig gestellte Fragen

Welche Rechtsfolgen hat ein Einigungsmangel im deutschen Zivilrecht?

Ein Einigungsmangel führt im deutschen Zivilrecht grundsätzlich dazu, dass kein wirksamer Vertrag zustande kommt. Da bei privatrechtlichen Verträgen gemäß §§ 145 ff. BGB die Einigung (also Konsens über die wesentlichen Vertragsbestandteile) das zentrale Zustandekommenskriterium ist, bewirkt das Fehlen einer Einigung Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts. Dies bedeutet etwa, dass Verpflichtungen und Rechte, die aus dem Vertrag resultieren würden, nicht entstehen. Bereits ausgetauschte Leistungen können ggf. nach Bereicherungsrecht (§§ 812 ff. BGB) zurückgefordert werden. Es gibt jedoch auch Fallkonstellationen, in denen das Gesetz trotz Einigungsmangels eine Ersatzzuregelung trifft, etwa durch ergänzende Vertragsauslegung oder Anwendung dispositiven Rechts; dies setzt allerdings voraus, dass die vertraglichen Lücken nicht den gesamten Rechtsgrund des Geschäfts betreffen.

Welche Arten von Einigungsmangel werden unterschieden und wie wirken sie sich aus?

Im deutschen Recht sind insbesondere der offene und der versteckte Einigungsmangel zu unterscheiden. Beim offenen Einigungsmangel, auch Dissens (§ 154 BGB), ist den Parteien bei Vertragsschluss bewusst, dass über bestimmte Punkte noch keine Einigung erzielt wurde. Der Vertrag gilt in diesem Fall im Zweifel als nicht geschlossen, sofern nicht aus den Umständen etwas anderes hervorgeht. Beim versteckten Einigungsmangel (falsa demonstratio), § 155 BGB, gehen die Parteien davon aus, sich geeinigt zu haben, tatsächlich besteht aber eine Divergenz. Die Folgen unterscheiden sich je nach Ausmaß: Fehlt Einigung nur hinsichtlich einer Nebenabrede, so kann der Hauptvertrag grundsätzlich wirksam bleiben, sofern er auch ohne die geregelte Nebenabrede seinem wirtschaftlichen Zweck entsprechen kann und die Hauptpunkte eindeutig bestimmt sind.

Kann ein Vertrag trotz Einigungsmangel wirksam werden?

In Ausnahmefällen kann ein Vertrag trotz Einigungsmangel wirksam werden, insbesondere wenn die nicht geregelten Punkte nach dem Willen der Parteien nicht entscheidungserheblich sind oder wenn das dispositive Gesetzesrecht die Lücke schließen kann. Nach § 155 BGB kann ein Vertrag auch bei Uneinigkeit über Nebenpunkte zustande kommen, wenn feststeht, dass die Parteien den Vertrag auch ohne diese Regelungen geschlossen hätten. Die Auslegung der Parteierklärungen ist hier entscheidend (§§ 133, 157 BGB). Oft greifen dann ergänzende Vertragsauslegung oder die gesetzliche Regelung, um die Vertragslücke zu füllen.

Welche Rolle spielt die Vertragsauslegung bei Vorliegen eines Einigungsmangels?

Die Vertragsauslegung ist bei Vorliegen eines Einigungsmangels von zentraler Bedeutung, da sie klären soll, ob und wie der Vertrag dennoch zustande gekommen ist oder wie er im Sinne des tatsächlichen Parteiwillens fortbestehen kann. Gemäß §§ 133, 157 BGB sind dabei sowohl der wirkliche Wille der Parteien als auch Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte maßgeblich. Die Gerichte prüfen insbesondere, ob die Parteien einen Mindestkonsens über die Essentialia negotii (Vertragskerne) erzielt haben und welche Regelungen nach dem Gesamtwillen der Parteien gelten sollten. Die ergänzende Vertragsauslegung kommt dann zum Tragen, wenn eine Lücke besteht und zu vermuten ist, wie die Parteien diese gefüllt hätten, hätten sie die Lücke erkannt.

Welche Bedeutung haben Essentialia negotii beim Einigungsmangel?

Essentialia negotii bezeichnen die wesentlichen Vertragsbestandteile, die für das Zustandekommen eines Vertrags unabdingbar sind, wie etwa beim Kaufvertrag der Kaufgegenstand und der Kaufpreis. Fehlt die Einigung hinsichtlich zumindest eines dieser Punkte, liegt ein sogenannter Totaldissens vor, der regelmäßig dazu führt, dass der Vertrag insgesamt nicht zustande kommt. Fehlt hingegen Einigung nur über nicht wesentliche Nebenpunkte (sog. partieller Einigungsmangel), so bleibt die Einigung über die Essentialia negotii maßgeblich, und der Vertrag besteht zumindest bezüglich des Kerngeschäfts, sofern die Parteien diesen Willen deutlich gemacht haben oder der Zweck des Vertrags nicht verfehlt wird.

Welche Beweislast trifft die Parteien bei Streit über einen Einigungsmangel?

Besteht Streit über das Vorliegen eines Einigungsmangels, trägt grundsätzlich diejenige Partei die Beweislast, die sich auf das Nichtzustandekommen des Vertrags beruft. In Fällen des Dissens (§ 154 BGB) ergibt sich aus dem Gesetz eine Vermutung gegen das Zustandekommen des Vertrags, wenn nicht aus den Umständen ein abweichender Parteiwille zu entnehmen ist. Beim versteckten Dissens ist durch die Vertragsauslegung und gegebenenfalls durch Zeugen- oder Urkundsbeweis zu ermitteln, ob tatsächlich Einigkeit über die Vertragspunkte bestand. Umgekehrt kann die Partei, die sich auf das Zustandekommen des Vertrags beruft, durch Vorlage von Vertragsentwürfen, Korrespondenz und Verhandlungsprotokollen versuchen, den Konsens nachzuweisen.