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Drittwirkung der Grundrechte


Begriff und Grundlagen der Drittwirkung der Grundrechte

Die Drittwirkung der Grundrechte bezeichnet das rechtliche Phänomen, dass die in der Verfassung verankerten Grundrechte nicht nur im Verhältnis zwischen Staat und Bürger (sogenannte vertikale Wirkung), sondern auch im Verhältnis der Bürger untereinander (sogenannte horizontale Wirkung) Bedeutung erlangen. Während Grundrechte ursprünglich als Abwehrrechte des Einzelnen gegen staatliche Eingriffe konzipiert wurden, wird durch die Drittwirkung, auch genannt Drittbindungswirkung, ihre Schutzwirkung im Privatrecht (Zivilrecht) thematisiert. In der deutschen Rechtswissenschaft hat sich die Diskussion um die Ausweitung der Grundrechtsgeltung auf das Privatrecht seit Jahrzehnten etabliert und beeinflusst maßgeblich die Auslegung einfachrechtlicher Normen sowie die Rechtsprechung.

Entwicklung und Dogmatik der Drittwirkung

Ursprüngliche Dogmatik: Grundrechte als Schutz gegen den Staat

Das klassische Grundrechtsverständnis sah die Grundrechte ausschließlich als Einschränkung staatlicher Macht. Sie sollten den Einzelnen vor Übergriffen des Staates schützen (vertikale Wirkung). So ist beispielsweise nach dem deutschen Grundgesetz (GG) der Staat verpflichtet, Eingriffe in Grundrechte wie die allgemeine Handlungsfreiheit oder die Meinungsfreiheit zu unterlassen.

Wandel durch praktische Notwendigkeit

Mit zunehmender gesellschaftlicher Komplexität entstand die Notwendigkeit, Grundrechte auch auf privatrechtliche Sachverhalte anzuwenden. Private Akteure wie Unternehmen, Vereine oder Privatpersonen können in vergleichbarer Weise in die Rechtspositionen Dritter eingreifen wie der Staat. Zu dieser Entwicklung trugen maßgeblich die fortschreitende Rechtsnatur privater Ordnungen und tatsächliche Machtkonzentrationen bei.

Unterscheidung: Mittelbare und unmittelbare Drittwirkung

Mittelbare Drittwirkung

Die in Deutschland vorherrschende Auffassung ist die der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte. Hiernach sind Grundrechte bei der Auslegung und Anwendung privat- und arbeitsrechtlicher Vorschriften „mittelbar” zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass Gerichte und andere rechtsanwendende Stellen das einfache Recht im Lichte der Wertentscheidungen der Grundrechte auszulegen haben. Die Mittelbarkeit führt dazu, dass ein Grundrechtsschutz auch im Privatrecht besteht, jedoch nur im Wege der Interpretation bestehender Normen.

Ein klassisches Beispiel ist die Anwendbarkeit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bei privatrechtlichen Ansprüchen auf Unterlassung.

Unmittelbare Drittwirkung

Die unmittelbare Drittwirkung bedeutet, dass Grundrechte direkt zwischen Privaten gelten, also unmittelbar einklagbar sind. In Deutschland findet die unmittelbare Drittwirkung keine allgemeine Anerkennung, sondern ist auf wenige Einzelfälle beschränkt, etwa im Kinder- und Namensrecht, seltener im Arbeitsrecht. International gibt es jedoch Staaten, in denen Verfassungsrechte eine unmittelbare Drittwirkung entfalten (z. B. Südafrika).

Betonung der Drittwirkung im Grundgesetz

Das Grundgesetz sieht in Art. 1 Abs. 3 GG vor, dass die Grundrechte sowohl Gesetzgebung, vollziehende Gewalt als auch die Rechtsprechung binden. Daraus folgt nach herrschender Auffassung auch eine Bindung für Gerichte bei der Auslegung privat- oder arbeitsrechtlicher Gesetze. Die Zurechnung der Grundrechte im Privatrecht erfolgt also durch staatliche Tätigkeit bei der Durchsetzung privater Rechte.

Drittwirkung ausgewählter Grundrechte

Allgemeines Persönlichkeitsrecht

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht kennt eine starke Drittwirkung, insbesondere im Bereich Persönlichkeitsverletzung durch Medien, Nachbarn oder Arbeitgeber (hervorgehoben durch das „Lüth-Urteil” des Bundesverfassungsgerichts von 1958).

Meinungsfreiheit und Gleichbehandlungsgrundsatz

Auch die Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) und das Gleichbehandlungsgebot (Art. 3 GG) entfalten im Privatrecht eine mittelbare Wirkung. Zum Beispiel sind Belange der Meinungsfreiheit im Rahmen von Hausordnungen, Arbeitsverhältnissen und Vereinsmitgliedschaften zu beachten.

Religionsfreiheit und weitere Grundrechte

Auch die Religionsfreiheit (Art. 4 GG) sowie das Diskriminierungsverbot (z. B. Ethik, Geschlecht, Behinderung) können mittelbare Drittwirkung entfalten, besonders durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG).

Drittwirkung in der Rechtsprechung

Leitentscheidungen

Die maßgebliche Entscheidung zur Drittwirkung der Grundrechte in Deutschland bildet das Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198). Das Bundesverfassungsgericht stellte klar, dass die Grundrechte „objektive Wertordnung” darstellen, die auch im zivilrechtlichen Bereich zu beachten ist. Dies führte zur Etablierung der mittelbaren Drittwirkung in der Rechtsprechung.

Weitere Leitsätze entwickelte das Bundesverfassungsgericht in Entscheidungen zum postmortalen Persönlichkeitsrecht, zur Meinungsäußerung und im Arbeitsrecht, etwa zur fristlosen Kündigung aus Gründen der politischen Betätigung.

Bedeutung im Privatrecht und Arbeitsrecht

Die Grundrechte wirken auf das Privatrecht und Arbeitsrecht insbesondere durch die Auslegung von Generalklauseln wie § 138 BGB (Sittenwidrigkeit) und § 242 BGB (Treu und Glauben). Gerichtliche Entscheidungspraxis hat gezeigt, dass insbesondere formell gleichberechtigte Vertragsparteien in der tatsächlichen Umsetzung grundrechtlich geschützt werden müssen, etwa bei Diskriminierung oder Persönlichkeitsverletzungen.

Kritik und Probleme der Drittwirkung

Abgrenzungsschwierigkeiten

Die Umsetzung der Drittwirkung ist nicht unumstritten. Kritisiert wird, dass Grundrechte als Schutzmechanismen gegen den Staat konzipiert sind und deren Übertragung auf private Rechtsbeziehungen dem Grundsatz der Privatautonomie widersprechen könnte. Zudem werden Abgrenzungsschwierigkeiten thematisiert, etwa wann eine mittelbare oder eine unmittelbare Drittwirkung vorliegt.

Gefahr der Rechtsunsicherheit

Eine zu extensive Anwendung der Drittwirkung kann dazu führen, dass die Grenzziehung zwischen staatlicher Regelung und privater Selbstbestimmung unscharf wird. Es besteht das Risiko einer Überdehnung der Grundrechte, wodurch die Gestaltungsspielräume privater Akteure unangemessen eingeschränkt werden könnten.

Internationale Perspektiven und Europarecht

Drittwirkung der Grundrechte auf europäischer Ebene

Auch die europäische Rechtsprechung, insbesondere der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und der Europäische Gerichtshof (EuGH), kennt das Institut der Drittwirkung. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die EU-Grundrechtecharta entfalten eine Schutzwirkung auch im Privatrecht, etwa durch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, für wirksamen Grundrechtsschutz auch im Zivilrecht zu sorgen.

Besonderheiten in anderen Rechtssystemen

Während Deutschland und Österreich vorwiegend die mittelbare Drittwirkung anwenden, kennen Länder wie Südafrika, Indien oder Irland eine stärkere unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte. Die Debatte um die Reichweite der Drittwirkung ist damit ein internationales Thema des Verfassungsrechts.

Zusammenfassung und Bedeutung

Die Drittwirkung der Grundrechte stellt einen wesentlichen Bestandteil der modernen Grundrechtsdogmatik dar und beeinflusst das Verhältnis von Individuen untereinander maßgeblich. Sie dient dazu, die grundrechtlichen Werte nicht nur staatsbezogen, sondern auch im Privatrecht zur Geltung zu bringen. Im deutschen Recht ist sie als mittelbare Drittwirkung etabliert und prägt besonders die Auslegung und Anwendung von Zivilrecht und Arbeitsrecht. Die Diskussion um Umfang, Reichweite und Modifikation der Drittwirkung bleibt dabei ein zentrales Thema der verfassungsrechtlichen Wissenschaft und Praxis.


Siehe auch

  • Grundrechte im deutschen Recht
  • Lüth-Urteil
  • Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
  • Persönlichkeitsrecht
  • Verfassungsbeschwerde

Häufig gestellte Fragen

Welche Rolle spielt die Drittwirkung der Grundrechte im Verhältnis zwischen Privatpersonen?

Die Drittwirkung der Grundrechte beschreibt die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf Rechtsverhältnisse zwischen Privatpersonen (sog. „Drittverhältnisse”), obwohl Grundrechte primär als Abwehrrechte gegenüber dem Staat konzipiert sind. In der Praxis bedeutet dies, dass Grundrechte im Privatrecht nicht unmittelbar, sondern mittelbar Geltung entfalten (mittelbare Drittwirkung). Die Gerichte müssen bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts – wie etwa des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) – die betroffenen Grundrechte der Parteien berücksichtigen und eine interessengerechte Abwägung vornehmen. Dadurch wirken die Grundrechte nicht direkt zwischen den Privaten, beeinflussen aber die Entscheidung maßgeblich und stellen sicher, dass grundrechtliche Wertungen in das Zivilrecht integriert werden.

Inwieweit sind juristische Personen von der Drittwirkung der Grundrechte betroffen?

Juristische Personen können grundrechtsfähig sein, soweit die betreffenden Grundrechte ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind (Art. 19 Abs. 3 GG). Im Rahmen der Drittwirkung profitieren auch sie von der mittelbaren Wirkung der Grundrechte in ihren Rechtsbeziehungen zu anderen Privaten, insbesondere, wenn beispielsweise in Vertragsverhältnissen Meinungsfreiheit, Gleichbehandlungsgrundsätze oder Eigentumsrechte betroffen sind. Die Gerichte sind verpflichtet, die grundrechtlichen Positionen juristischer Personen in privatrechtlichen Streitigkeiten ebenso zu berücksichtigen wie diejenigen natürlicher Personen, indem sie die grundrechtlichen Wertentscheidungen in die Auslegung des jeweiligen Rechtsrahmens übernehmen.

Wie wird die mittelbare Drittwirkung im Zivilrecht konkret umgesetzt?

Die mittelbare Drittwirkung im Zivilrecht erfolgt über die Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe, wie sie etwa in § 138 BGB (Sittenwidrigkeit), § 242 BGB (Treu und Glauben) oder § 823 BGB (Schadensersatzpflicht bei Rechtsgutsverletzungen) enthalten sind. Diese bieten Anknüpfungspunkte, um grundrechtliche Wertungen in privatrechtliche Entscheidungen einfließen zu lassen. Gerichte müssen dabei eine grundrechtsorientierte Auslegung und Anwendung des Zivilrechts vornehmen, sodass im Rahmen von Interessenabwägungen – etwa zwischen Persönlichkeitsrecht und Meinungsfreiheit – die grundgesetzlich geschützten Positionen beider Parteien sorgfältig berücksichtigt werden.

Welche Bedeutung hat die Drittwirkung der Grundrechte für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts?

Das Bundesverfassungsgericht hat die Grundsätze der mittelbaren Drittwirkung in ständiger Rechtsprechung entwickelt und immer weiter konkretisiert (zum Beispiel im berühmten Lüth-Urteil). Das Gericht hebt hervor, dass Grundrechte als objektive Wertordnung zu verstehen sind, die auch für das gesamte Rechtsleben Geltung beanspruchen und damit über die unmittelbare Bindung der staatlichen Gewalt hinauswirken. Die Urteilsbegründungen des Bundesverfassungsgerichts fordern von den Fachgerichten, die Grundrechte bei der Rechtsauslegung in privatrechtlichen Streitigkeiten stets mitzudenken.

Gilt die Drittwirkung der Grundrechte auch im Arbeitsrecht?

Auch im Arbeitsrecht entfaltet die mittelbare Drittwirkung erhebliche Bedeutung, denn das Arbeitsverhältnis ist geprägt von der Beziehung zwischen zwei Privaten: Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Hier finden regelmäßig Grundrechtskollisionen statt, etwa zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers und dem unternehmerischen Interesse des Arbeitgebers sowie dessen Eigentums- und Berufsfreiheit. Arbeitsgerichte sind verpflichtet, diese Konflikte in ihren Entscheidungen unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Wertungen zu lösen. Dadurch entsteht eine „grundrechtskonforme” Auslegung und Anwendung des Arbeitsrechts, die die Interessen beider Seiten angemessen berücksichtigt.

Welche Unterschiede bestehen zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung der Grundrechte?

Die unmittelbare Drittwirkung würde bedeuten, dass sich Privatpersonen direkt auf Grundrechte berufen und diese gegenseitig einklagen könnten. In Deutschland gilt im Regelfall jedoch nur die mittelbare Drittwirkung, bei der die Grundrechte als objektive Wertmaßstäbe über das einfache Recht auf die Privatrechtsordnung einwirken. Ausnahmen, in denen eine unmittelbare Drittwirkung angenommen wird, sind selten und hauptsächlich im Antidiskriminierungsrecht oder bei spezifischen europäischen Vorschriften bekannt, wie etwa im Bereich des Unionsrechts oder bei drittverpflichtenden Menschenrechten nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Gibt es Unterschiede in der Drittwirkung von Grundrechten im öffentlichen Recht und im Privatrecht?

Während im Privatrecht die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte Anwendung findet, insbesondere über Generalklauseln, zeigt sich im öffentlichen Recht vor allem die unmittelbare Bindung der staatlichen Gewalt an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG). Gleichwohl können im öffentlichen Recht, etwa im Rahmen von Verwaltungshandeln zwischen „privaten” Beteiligten, ebenfalls grundrechtliche Wertungen berücksichtigt werden, aber stets im Rahmen der staatlichen Bindung. Die Besonderheit der Drittwirkung liegt darin, dass sie explizit auf außergesetzliche Privatrechtsverhältnisse Einfluss nimmt. Im öffentlichen Recht dominiert hingegen die unmittelbare Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt.