Begriff und Bedeutung der Divergenzrevision
Die Divergenzrevision ist ein Begriff des deutschen Verfahrensrechts und bezeichnet eine besondere Form der Revision, deren Zulässigkeit sich speziell auf Abweichungen einer gerichtlichen Entscheidung von der Rechtsprechung anderer Gerichte oder eines übergeordneten Gerichts stützt. Die Divergenzrevision dient der Sicherung der Rechtseinheit und gewährleistet, dass die Gerichte in vergleichbaren Fällen zu übereinstimmenden Entscheidungen gelangen. Sie ist insbesondere im Kontext des Verwaltungsprozessrechts sowie des Sozialgerichtsbarkeit- und Finanzgerichtsverfahrens bedeutsam, teilweise auch im Zivilprozessrecht.
Rechtsgrundlagen und Anwendungsbereich der Divergenzrevision
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)
Die Divergenzrevision ist in § 132 Abs. 2 Nr. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) geregelt. Nach dieser Vorschrift wird die Revision zugelassen, wenn das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, eines Bundesgerichts oder des für das Bundesgebiet zuständigen obersten Landesgerichts in Anwendung derselben Rechtsvorschrift abweicht und auf dieser Abweichung beruht.
Sozialgerichtsgesetz (SGG)
Eine entsprechende Regelung existiert in § 160 Abs. 2 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), der ebenfalls die divergenzbedingte Zulassung der Revision ermöglicht.
Finanzgerichtsordnung (FGO)
In der Finanzgerichtsbarkeit regelt § 115 Abs. 2 Nr. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) die Divergenzrevision. Auch dort dient sie der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung.
Zivilprozessordnung (ZPO)
Im Zivilprozessrecht findet die Divergenzrevision keine explizite gesetzliche Normierung, sondern kann aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen und im Rahmen von Sprungrevisionen Bedeutung erlangen.
Zulassungsvoraussetzungen der Divergenzrevision
Begriff der Abweichung (Divergenz)
Eine Abweichung im Sinne der Divergenz liegt vor, wenn das Gericht des angefochtenen Urteils bei der Auslegung und Anwendung eines Rechtssatzes von der Auslegung und Anwendung dieses Rechtssatzes durch das Divergenzgericht (Bundesverfassungsgericht, Bundesobergericht oder gleichgestellte) abgewichen ist. Es reicht nicht aus, wenn das Gericht lediglich in der Entscheidung eines Einzelfalles zu einem anderen Ergebnis gelangt ist; erforderlich ist vielmehr die bewusste oder unbewusste Abweichung in der Rechtsansicht hinsichtlich eines grundsätzlich bedeutsamen Rechtssatzes.
Vergleichbarkeit der Rechtsvorschrift
Für die Divergenz muss die abweichende Entscheidung eine identische oder inhaltlich vergleichbare Rechtsvorschrift betreffen. Die Differenz in der Rechtsanwendung muss sich auf dieselbe Rechtsfrage beziehen.
Entscheidungserheblichkeit
Die abweichende Handhabung der Rechtsnorm muss entscheidungserheblich für das Urteil gewesen sein, d. h. das Urteil hätte ohne die Abweichung in der Rechtsauffassung voraussichtlich einen anderen Inhalt gehabt.
Beschwer
Regelmäßig muss der Revisionsführer durch das Urteil in seinen Rechten beschwert sein. Dies ist notwendige Voraussetzung für die Zulassung der Revision.
Verfahren und Ablauf der Divergenzrevision
Revisionszulassungsgrund
Die Divergenz ist ein spezifischer Zulassungsgrund für die Revision, sodass zunächst im Zulassungsverfahren vorgetragen werden muss, inwiefern tatsächliche oder rechtliche Abweichungen bestehen. Insbesondere muss exakt benannt werden, von welcher Entscheidung abgewichen wurde und welcher Rechtssatz betroffen ist.
Begründungserfordernis
Dem Antrag auf Zulassung der Divergenzrevision muss eine umfassende, substanziierte Begründung beigefügt werden. Die bloße Behauptung einer Abweichung genügt nicht, vielmehr ist eine Gegenüberstellung der Rechtssätze und deren unterschiedliche Anwendung erforderlich.
Prüfungsumfang im Revisionsverfahren
Im eigentlichen Revisionsverfahren prüft das Revisionsgericht, ob tatsächlich eine solche Divergenz und deren Entscheidungsrelevanz besteht. Kommt das Gericht zum Ergebnis, dass keine relevante Abweichung hinsichtlich eines Rechtssatzes bestand, wird die Revision als unbegründet verworfen.
Bedeutung der Divergenzrevision für die Rechtseinheit
Die Divergenzrevision ist von besonderer rechtsstaatlicher Bedeutung, da sie ein wesentliches Instrument zur Wahrung der Rechtseinheit in Deutschland darstellt. Sie ermöglicht es, auseinanderlaufende Rechtsauffassungen höchstrichterlich zu klären und damit für nachfolgende Verfahren eine einheitliche Spruchpraxis zu gewährleisten. Insbesondere bei fortschreitender Rechtsentwicklung oder neuer Gesetzesauslegung ist das Rechtsinstitut der Divergenzrevision für die Angleichung und Fortbildung des Rechts unerlässlich.
Abgrenzung zu anderen Revisionsgründen
Die Divergenzrevision ist von anderen Zulassungsgründen wie der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) oder Verfahrensfehlern (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zu unterscheiden. Während bei der grundsätzlichen Bedeutung das generelle Interesse an der Klärung einer Rechtsfrage im Vordergrund steht, zielt die Divergenzrevision ausschließlich auf die Korrektur von Rechtsanwendungsunterschieden zwischen Gerichten ab.
Praxisrelevanz und Beispiele
In der Praxis kommt der Divergenzrevision vor allem dann eine Bedeutung zu, wenn Untergerichte entgegen der ständigen Rechtsprechung eines Bundesgerichts oder dem Bundesverfassungsgericht entscheiden. Typische Konstellationen sind etwa Abweichungen von langjährig entwickelten Leitsätzen der Bundesgerichte oder auch Widersprüche zwischen verschiedenen Obergerichten.
Literatur und weiterführende Hinweise
Zur Vertiefung der Materie empfiehlt sich folgende Literatur:
- Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, jeweils aktuelle Auflage
- Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar
- Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar
Gesetzestexte und Materialien finden sich insbesondere in:
- § 132 Abs. 2 VwGO
- § 160 Abs. 2 SGG
- § 115 Abs. 2 FGO
Zusammenfassung
Die Divergenzrevision ist ein bedeutendes Rechtsinstitut des deutschen Prozessrechts, das der Sicherung der Rechtseinheit und einer konsistenten Rechtsprechung dient. Sie kommt immer dann zur Anwendung, wenn gerichtliche Entscheidungen hinsichtlich der Auslegung und Anwendung derselben Rechtsvorschrift voneinander abweichen. Das Verfahren ist an strenge formelle und materielle Anforderungen geknüpft und stellt ein zentrales Element zur Harmonisierung der bundesdeutschen Rechtsprechung dar.
Häufig gestellte Fragen
Wie ist der Ablauf eines Divergenzrevisionsverfahrens im rechtlichen Kontext?
Das Divergenzrevisionsverfahren beginnt typischerweise mit der Einlegung einer Revision durch einen Verfahrensbeteiligten, der geltend macht, das angefochtene Urteil oder Beschluss weiche von einer Entscheidung eines höher- oder gleichrangigen Gerichts in einer die Entscheidung tragenden Rechtsfrage ab. Nach Eingang der Revisionsbegründung überprüft das zuständige Revisionsgericht zunächst die Zulässigkeit, insbesondere das Vorliegen der Grundvoraussetzungen der Divergenz. Hierbei wird geprüft, ob tatsächlich eine entscheidungserhebliche Abweichung in der Rechtsanwendung vorliegt. Gegebenenfalls werden die Beteiligten zur Stellungnahme aufgefordert. Sodann analysiert das Revisionsgericht sowohl das angefochtene Urteil als auch die angeführte Vergleichsentscheidung. Falls das Gericht eine Divergenz feststellt und die Revision für begründet hält, kann es das angefochtene Urteil aufheben und die Sache entweder zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Ausgangsgericht zurückverweisen oder eine eigene Sachentscheidung treffen. Während des gesamten Ablaufs gelten die einschlägigen prozessualen Vorschriften, beispielsweise der jeweiligen Verfahrensordnung (z.B. ZPO, VwGO, SGG, FGO), wobei insbesondere die Fristen und Formvorschriften einzuhalten sind.
Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen für eine Divergenzrevision erfüllt sein?
Für eine Divergenzrevision müssen bestimmte, streng geregelte rechtliche Voraussetzungen vorliegen. Zunächst muss eine inhaltlich relevante und entscheidungserhebliche Abweichung des angegriffenen Urteils von einer Entscheidung eines übergeordneten oder gleichgeordneten Gerichts in derselben Rechtsfrage bestehen. Diese Divergenz muss konkret und substantiiert dargelegt werden – bloße Unzufriedenheit oder abweichende Tatsachenfeststellungen reichen hierfür nicht aus. Die rechtliche Abweichung muss tragend für die Entscheidung gewesen sein („Leitsatz” oder „obiter dictum” genügen i.d.R. nicht). Zudem muss die zitierte Vergleichsentscheidung tatsächlich im Tenor oder in der Begründung die abweichende Rechtsauffassung, auf der die Entscheidung des Gerichts beruht, enthalten. Die Revision ist weiterhin nur zulässig, wenn die betreffende Verfahrensordnung dies ausdrücklich vorsieht oder eröffnet, was insbesondere in der Verwaltungsgerichtsbarkeit und in der Sozialgerichtsbarkeit der Fall ist. Außerdem müssen i.d.R. die gesetzlichen Fristen zur Begründung und Anbringung der Revision gewahrt werden.
Welche Rolle spielt der Grundsatz der Rechtseinheit im Divergenzrevisionsverfahren?
Der Grundsatz der Rechtseinheit ist das tragende rechtspolitische Ziel des Divergenzrevisionsverfahrens. Er besagt, dass vergleichbare Fälle von Gerichten mit ähnlicher Zuständigkeit nach denselben rechtlichen Maßstäben zu entscheiden sind. Divergenzrevisionen dienen explizit dazu, abweichende Rechtsprechung zu korrigieren und einen widerspruchsfreien, einheitlichen Auslegungsstandard herzustellen. Die Divergenzrevision verhindert somit die Herausbildung einer uneinheitlichen Spruchpraxis und trägt zur Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen sowie zur Rechtsklarheit bei. Rechtsuchende können somit erwarten, dass ihre Rechtslage nicht von Zufälligkeiten der Gerichtsbesetzung oder Regionalität abhängt. Das Revisionsgericht sorgt dabei für die Einhaltung und Durchsetzung dieser Rechtseinheit.
Wie werden die Voraussetzungen und das Vorliegen einer Divergenz konkret überprüft?
Die Überprüfung des Vorliegens einer Divergenz geschieht anhand einer vergleichenden Analyse der streitentscheidenden Rechtsfragen zwischen dem angegriffenen Urteil und der Vergleichsentscheidung. Zunächst muss der Revisionsführer akribisch die Rechtsfrage herausarbeiten, in der die Abweichung bestehen soll, und diese mit der maßgeblichen Passage aus der Gegenentscheidung belegen. Das Gericht prüft sodann, ob die Abweichung tatsächlich existiert und ob es sich um eine tragende, für die Entscheidung maßgebliche Rechtsauffassung handelt. Es genügt nicht, wenn das Gericht eine überholte oder obiter dictum geäußerte Meinung referiert. Darüber hinaus prüft das Revisionsgericht, ob es sich um einen tauglichen Vergleichsentscheidungstyp handelt, also beispielsweise um eine Entscheidung eines Obersten Bundesgerichts oder des gleichen Gerichtsgrades. Sollte das Gericht bereits zuvor seine Rechtsprechung geändert haben, wird analysiert, ob die Divergenz dadurch gegenstandslos geworden ist.
Welche Folgen hat eine erfolgreiche Divergenzrevision für das Ausgangsverfahren und die betroffenen Parteien?
Wird einer Divergenzrevision stattgegeben, hebt das Revisionsgericht regelmäßig das angefochtene Urteil auf. In den meisten Fällen wird die Sache zu erneuter Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen, die dann unter Beachtung der bindenden Rechtsauffassung des Revisionsgerichts zu entscheiden hat. Dadurch erhalten die Parteien, insbesondere im Fall einer fehlerhaften Rechtsanwendung, erneut die Möglichkeit, ihr Anliegen unter veränderten rechtlichen Voraussetzungen vorzubringen. Liegt ein justiziabler Einzelfall vor, kann das Revisionsgericht auch selbst in der Sache entscheiden, sofern der Sachverhalt keiner weiteren Aufklärung bedarf (z.B. bei reiner Rechtsfrage). Zudem kann ein Erfolg in der Divergenzrevision der Partei eine entsprechende Kostenerstattung verschaffen – die unterlegene Partei oder der Staat trägt dann regelmäßig die Kosten des Verfahrens gemäß den jeweiligen Kostenvorschriften.
Wann ist eine Divergenzrevision unzulässig oder unbegründet?
Eine Divergenzrevision ist zum einen unzulässig, wenn die prozessualen Voraussetzungen – insbesondere die Revisionsbefugnis, die Einhaltung der Fristen sowie die ordnungsgemäße Ausformulierung der Divergenz – nicht erfüllt sind. Inhaltlich ist sie unbegründet, wenn zwar eine vermeintliche Abweichung behauptet wird, diese aber in der maßgeblichen Rechtsfrage tatsächlich nicht besteht oder nicht entscheidungserheblich war. Auch ist das Rechtsmittel unstatthaft, wenn die Gleich- bzw. Höherranigkeit der Vergleichsentscheidung fehlt, etwa weil die zitierte Entscheidung eines anderen Gerichtsstands oder einer niedrigeren Instanz stammt. Schließlich kann die Divergenzrevision unbegründet sein, wenn das Revisionsgericht feststellt, dass eine frühere Rechtsauffassung überholt ist oder zwischenzeitlich durch höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt wurde und der angegriffene Beschluss sich diesbezüglich korrekt verhält.
Welche Bedeutung haben Divergenzvorschriften in den einzelnen Gerichtsbarkeiten?
Die Divergenzvorschriften finden sich in verschiedenen Verfahrensordnungen wie der Verwaltungsgerichtsordnung (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO), dem Sozialgerichtsgesetz (§ 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG) und der Finanzgerichtsordnung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO). Sie sind Ausdruck eines spezifisch am Rechtseinheitlichkeitsgebot ausgerichteten Kontrollinstruments. In der Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit ist die Divergenzrevision ein zentraler Prüfungsmaßstab für die Nichtzulassungsbeschwerde bzw. für die Zulassung der Revision. In der ordentlichen Gerichtsbarkeit (insbesondere Zivil- und Strafrecht) ist hingegen grundsätzlich die grundsätzliche Bedeutung der Sache oder die Verletzung materiellen oder prozessualen Rechts ausschlaggebend; gleichwohl können besondere Divergenzgründe auch hier eine Rolle spielen. Die gesetzgeberische Ausgestaltung der Divergenzvorschriften verdeutlicht, wie das Bestreben nach einer einheitlichen Rechtsprechung systematisch abgesichert wird.
Ist eine Divergenzrevision auch bei einer abweichenden Tatsachenwürdigung möglich?
Nein, die Divergenzrevision kann ausschließlich auf Abweichungen in der Rechtsanwendung gestützt werden, nicht auf eine unterschiedliche Bewertung oder Würdigung von Tatsachen. Divergenz im Sinne der einschlägigen Verfahrensordnungen liegt nur vor, wenn das Gericht in einer entscheidungstragenden Rechtsfrage, das heißt in der Subsumtion oder Interpretation rechtlicher Normen, von einer anderen, vergleichbar zuständigen gerichtlichen Entscheidung abweicht. Tatsachenfeststellungen sind der Überprüfung in einer Divergenzrevision entzogen; sie sind grundsätzlich nur bei zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angreifbar. Dadurch wird sichergestellt, dass die Divergenzrevision ausschließlich der Sicherung der Rechtseinheit dient und nicht zu einer weiteren Tatsacheninstanz wird.