Begriff und Bedeutung der Divergenzbeschwerde
Die Divergenzbeschwerde ist ein Rechtsbehelf im deutschen Verfahrensrecht, der zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung dient. Sie spielt insbesondere im Zusammenhang mit Entscheidungen oberster Bundesgerichte sowie in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit eine Rolle. Die Divergenzbeschwerde hat das Ziel, abweichende und nicht abgestimmte Entscheidungen höchstrichterlicher Instanzen einer rechtlichen Nachprüfung und gegebenenfalls einer Angleichung (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) zugänglich zu machen. Diese Beschwerdeform stellt sicher, dass gleichgelagerte Sachverhalte vor deutschen Gerichten nach denselben rechtlichen Maßstäben entschieden werden.
Allgemeine Voraussetzungen der Divergenzbeschwerde
Rechtsgrundlagen
Die rechtlichen Grundlagen der Divergenzbeschwerde finden sich hauptsächlich in den Verfahrensordnungen für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Verwaltungsgerichtsordnung, VwGO) sowie in der Finanzgerichtsordnung (FGO):
- § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht
- § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO für das Verfahren vor dem Bundesfinanzhof
Entsprechende Vorschriften finden sich zudem in anderen Verfahrensordnungen mit Bezug auf grundsätzlich divergierende Entscheidungen.
Voraussetzungen
Zentrale Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Divergenzbeschwerde ist das Vorliegen einer sogenannten entscheidungserheblichen Divergenz. Das bedeutet, das angegriffene Urteil weicht in einem tragenden Obersatz, also einem entscheidungserheblichen Rechtssatz, von einer Entscheidung eines anderen obersten Bundesgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts ab. Die Abweichung muss sich auf dieselbe Rechtsfrage beziehen.
Voraussetzungen im Einzelnen:
- Das Beschwerdegericht ist an eine Entscheidung eines anderen Gerichtes oder Senats desselben Gerichtes gebunden.
- Die angefochtene Entscheidung enthält einen Rechtssatz, der in erheblichem Umfang von einem anderen, bereits aufgestellten Rechtssatz abweicht.
- Die Entscheidung wäre bei Anwendung des im Vergleichsfall verwendeten Rechtssatzes anders ausgefallen.
- Die Divergenz ist in der Beschwerdebegründung darzulegen und zu begründen.
Anwendungsbereich der Divergenzbeschwerde
Verwaltungsgerichtsbarkeit
In verwaltungsgerichtlichen Verfahren kann gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht eine Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt werden, zu deren Begründung unter anderem das Vorliegen einer Divergenz gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO geltend gemacht werden kann.
Finanzgerichtsbarkeit
Auch in der Finanzgerichtsbarkeit stellt die Divergenz nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO einen Zulassungsgrund für die Revision gegen Urteile der Finanzgerichte dar. Eine einheitliche Rechtsanwendung in steuerrechtlichen und abgabenrechtlichen Angelegenheiten wird so gesichert.
Sozialgerichtsbarkeit
Eine entsprechende Regelung für die Sozialgerichtsbarkeit findet sich in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG.
Arbeitsgerichtsbarkeit und Zivilgerichtsbarkeit
Im arbeitsrechtlichen und zivilrechtlichen Verfahren gibt es keine Divergenzbeschwerde im eigentlichen Sinne. Allerdings kann im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde gegen Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte beziehungsweise Oberlandesgerichte das Vorliegen einer absichernden Abweichung in rechtlichen Fragestellungen Relevanz entfalten.
Form, Frist und Verfahren
Form und Inhalt der Beschwerde
Die Divergenzbeschwerde ist fristgebunden und bedarf der schriftlichen Begründung (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO, § 116 Abs. 3 FGO). In der Beschwerdebegründung sind sowohl die entscheidungserheblichen Rechtssätze als auch die konkrete Abweichung substantiiert darzulegen. Zudem ist zu erläutern, warum die abweichende Rechtsauffassung für den konkreten Einzelfall entscheidend war.
Frist
Die Beschwerdefristen variieren je nach Verfahrensordnung, betragen aber in der Regel einen Monat nach Zustellung des Urteils beziehungsweise der Nichtzulassungsentscheidung.
Entscheidung über die Divergenzbeschwerde
Über die Zulässigkeit und Begründetheit der Divergenzbeschwerde entscheidet das jeweils zuständige Revisionsgericht, in der Verwaltungsgerichtsbarkeit der zuständige Senat des Bundesverwaltungsgerichts, in der Finanzgerichtsbarkeit der Bundesfinanzhof. Wird die Divergenzbeschwerde für zulässig und begründet erachtet, kann das Revisionsgericht die Revision zulassen und muss den Fall grundsätzlich auch in der Sache entscheiden.
Funktion und Bedeutung in der Rechtsfortbildung
Einheitlichkeit der Rechtsprechung
Die Divergenzbeschwerde erfüllt eine zentrale Funktion zur Wahrung der Einheitlichkeit der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Differierende Auslegungen und Anwendungen von Bundesrecht in gleichgelagerten Fällen werden so korrigiert und für die Zukunft ausgeräumt.
Rechtsfortbildung
Neben ihrem Harmonisierungseffekt trägt die Divergenzbeschwerde zur Rechtsfortbildung bei. Durch die höchstrichterliche Überprüfung divergierender Rechtssätze entsteht die Möglichkeit, strittige Rechtsfragen zu klären und die Entwicklung des Rechts im nationalen Kontext zu steuern.
Abgrenzung zu weiteren Rechtsbehelfen
Die Divergenzbeschwerde ist von anderen Rechtsmitteln wie der klassischen Revision oder der Berufung zu unterscheiden. Sie dient spezifisch dazu, die Abweichung von bisherigen höchstrichterlichen Rechtssätzen zu überprüfen; ihr Fokus liegt nicht auf der inhaltlichen Bewertung des Einzelfalls, sondern auf der gleichen Anwendung des geltenden Rechts.
Beschwerdegründe
Neben der Divergenz können auch andere, in den jeweiligen Prozessordnungen normierte Gründe (wie grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache oder Verfahrensfehler) zur Zulassung der Revision führen. Insoweit stellt die Divergenz einen von mehreren eigenständigen Beschwerdegründen dar.
Literatur und weiterführende Hinweise
Für die weitergehende Beschäftigung mit der Divergenzbeschwerde bieten folgende Quellen eine vertiefende Lektüre:
- Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, § 132 VwGO (Kommentierung)
- Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 115 FGO (Kommentierung)
- Hartmann, Einführung in die Praxis der Divergenzbeschwerde; Neue Justiz
Hinweis: Der Artikel bietet eine umfassende Übersicht zur Divergenzbeschwerde im deutschen Recht und berücksichtigt deren rechtliche Grundlagen, praktische Anwendung und Funktion im Gerichtswesen.
Häufig gestellte Fragen
Welche Fristen müssen bei der Divergenzbeschwerde beachtet werden?
Die Divergenzbeschwerde unterliegt in der Regel spezifischen Fristen, die sich je nach Gerichtsbarkeit und Rechtsgebiet unterscheiden können. Grundsätzlich orientiert sich die Frist zur Einlegung der Divergenzbeschwerde an den allgemeinen Beschwerdefristen, die im jeweiligen Fachgesetz, etwa in § 133 Abs. 3 VwGO für die verwaltungsgerichtliche Divergenzbeschwerde, geregelt sind. So muss die Divergenzbeschwerde (Nichtzulassungsbeschwerde) binnen eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich beim zuständigen Gericht eingelegt werden. Entscheidend ist dabei regelmäßig das Datum des Zugangs der formellen Gerichtsentscheidung. Wird die Frist versäumt, ist eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand nur unter engen Voraussetzungen möglich, etwa bei unverschuldeter Fristversäumnis. Es empfiehlt sich, die einschlägigen Bestimmungen des jeweiligen Prozessrechts zu prüfen, da es beispielsweise im Sozialrecht, Zivilrecht oder Steuerrecht abweichende oder ergänzende Fristregelungen geben kann.
Wer ist zur Einlegung einer Divergenzbeschwerde berechtigt?
Zur Einlegung einer Divergenzbeschwerde sind grundsätzlich nur die am Ausgangsverfahren beteiligten Parteien legitimiert, das heißt Kläger, Beklagte oder sonstige Beteiligte, die durch das Urteil beschwert sind. In der Regel bedarf die Beschwerde einer Vertretung durch einen Rechtsanwalt oder eine zugelassene Prozessvertretung, insbesondere bei obersten Bundesgerichten, etwa gemäß § 67 VwGO oder § 78 ZPO. Die jeweilige Beteiligtenstellung muss nachgewiesen werden, und in einzelnen Verfahrensarten können auch juristische Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden beschwerdeberechtigt sein, sofern sie durch die angefochtene Gerichtsentscheidung unmittelbar betroffen sind. Daneben besteht das Recht zur Einlegung in Ausnahmefällen für Dritte, etwa bei Verbandsklagen oder bei spezialgesetzlichen Ermächtigungen, etwa im Umweltrecht.
Welche formalen Anforderungen muss eine Divergenzbeschwerde erfüllen?
Die Divergenzbeschwerde ist schriftlich einzureichen und muss bestimmte Mindestanforderungen erfüllen. Neben der Einhaltung der Frist ist vor allem eine präzise Bezeichnung des angegriffenen Urteils erforderlich. Die Beschwerde muss die divergenzbegründende Entscheidung des anderen Gerichts substantiiert benennen und einen Vergleich der tragenden Rechtssätze aus beiden Entscheidungen vornehmen. Der Beschwerdeführer muss konkret darlegen, inwiefern zwischen der angefochtenen Entscheidung und einer anderen höchstrichterlichen Entscheidung eine grundlegende Abweichung besteht. Allgemeine Unzufriedenheit mit der Entscheidung oder bloße Wiederholung der Berufungsbegründung reichen nicht aus. Regelmäßig ist die Beschwerde auch zu begründen; die Frist zur Begründung kann von der Einlegungsfrist abweichen, muss aber ebenfalls strikt gewahrt werden. Unvollständige, nicht substantiiert begründete oder bloß formelhafte Beschwerden gelten als unzulässig.
In welchen Fällen ist eine Divergenzbeschwerde überhaupt möglich?
Eine Divergenzbeschwerde ist stets dann statthaft, wenn das Urteil eines Instanzgerichts von der Entscheidung eines höherrangigen Gerichts, insbesondere eines Bundesgerichts, in einem entscheidungserheblichen Rechtssatz abweicht. Die Divergenz muss sich auf die Rechtsanwendung, nicht auf den konkreten Sachverhalt beziehen. Geregelt ist die Divergenzbeschwerde typischerweise bei Nichtzulassungsbeschwerden (§ 133 VwGO, § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG, § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO), wenn das Berufungsgericht oder das Oberverwaltungsgericht von einer anderen Entscheidung eines obersten Gerichts abweicht und somit die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Überprüfung durch das Revisionsgericht gebietet. Eine bloße Meinungsverschiedenheit in der Literatur oder die Nichtberücksichtigung von höchstrichterlicher Rechtsprechung begründet keine Divergenzbeschwerde. Entscheidend ist vielmehr das Vorliegen eines entscheidungstragenden, widersprüchlichen Rechtssatzes.
Welche Erfolgsaussichten hat eine Divergenzbeschwerde?
Die Erfolgsaussichten einer Divergenzbeschwerde sind im Allgemeinen als eher gering zu beurteilen, da die Anforderungen an die Substantiierung und Nachweisbarkeit einer erheblichen Divergenz zwischen höchstrichterlichen Entscheidungen hoch sind. Ein Erfolg tritt nur dann ein, wenn eine grundlegende Abweichung in einem tragenden Rechtssatz zweifelsfrei dargelegt und bewiesen werden kann. Deshalb ist insbesondere eine umfangreiche und sorgfältige Begründung notwendig, in der der Unterschied der Rechtssätze detailliert herausgearbeitet wird. Ferner muss deutlich werden, dass die Entscheidungserheblichkeit der Abweichung besteht, das heißt, dass ohne die abweichende Rechtsauffassung eine andere Entscheidung im Einzelfall möglich gewesen wäre. Viele Beschwerden scheitern bereits an formellen Anforderungen oder an der fehlenden Entscheidungserheblichkeit der geltend gemachten Divergenz.
Welche Kosten entstehen durch eine Divergenzbeschwerde?
Für die Einlegung einer Divergenzbeschwerde fallen regelmäßig Gerichtskosten an. Diese richten sich nach den einschlägigen Gebührentabellen, etwa dem Gerichtskostengesetz (GKG) im Zivil- und Verwaltungsverfahren oder dem Gesetz über Gerichtskosten in Familiensachen (FamGKG). Die Höhe variiert je nach Streitwert, Verfahrensart und Einzelfall. Zusätzlich entstehen Kosten für die anwaltliche Vertretung, da eine Vertretung durch einen Anwalt in den meisten Fällen zwingend vorgesehen ist (z. B. vor dem Bundesverwaltungsgericht oder Bundesgerichtshof). Sollten verfahrensrechtliche Voraussetzungen nicht erfüllt sein und die Divergenzbeschwerde als unzulässig verworfen werden, bleibt der Beschwerdeführer regelmäßig auf den Kosten sitzen. In Sozialrechtsverfahren gibt es Sonderregelungen zur Kostenfreiheit oder Kostenerstattung. Es empfiehlt sich, die jeweiligen Bestimmungen des Kostenrechts sowie die Möglichkeit der Prozesskostenhilfe im Einzelfall zu prüfen.