Begriff und Rechtsstatus des Deutschen Reiches
Das Deutsche Reich ist ein historisch und rechtlich besonders komplexer Begriff im deutschen Staatsrecht. Er taucht in verschiedenen Epochen, Verfassungen und staatlichen Ordnungen auf und hat insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine besondere rechtliche Relevanz gewonnen. Die rechtliche Einordnung des Deutschen Reiches betrifft Fragen der Staatsidentität, Staatensukzession und der Fortdauer von Staatsrechtssubjektivität.
Definition und historische Entwicklung
Das Deutsche Reich wurde am 18. Januar 1871 mit der Proklamation im Spiegelsaal von Versailles als Nationalstaat gegründet. Es umfasste zunächst die Zeit des Kaiserreichs (1871-1918), dann die Weimarer Republik (1919-1933) und schließlich die Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945). Die Entwicklungen nach 1945 führten zu einem besonderen rechtlichen Status, der durch die Teilung Deutschlands und Gründung der Bundesrepublik Deutschland sowie der Deutschen Demokratischen Republik geprägt wurde.
Zeitliche Phasen des Deutschen Reiches
- Kaiserreich (1871-1918): Konstitutionelle Monarchie; erste Verfassung am 16. April 1871.
- Weimarer Republik (1919-1933): Parlamentarische Demokratie; Weimarer Reichsverfassung trat 1919 in Kraft.
- Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945): Autoritäre Diktatur; Abschaffung der Gewaltenteilung durch das Ermächtigungsgesetz 1933.
- Nach 1945: Besatzungszeit unter Kontrolle der Alliierten; Aufteilung in Besatzungszonen.
Der Fortbestand des Deutschen Reiches nach 1945
Aus rechtswissenschaftlicher Sicht ist die Existenz und Fortdauer des Deutschen Reiches nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein zentraler Aspekt der Diskussion um den deutschen Staatsbegriff.
Beschlüsse und Rechtsauffassungen der Alliierten
Mit der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 übernahmen die Alliierten die „oberste Regierungsgewalt“ in Deutschland. Die staatlichen Strukturen des Deutschen Reiches wurden jedoch nicht formell für beendet erklärt. Die Alliierten betonten vielmehr, dass die Übernahme der Staatsgewalt nicht mit einer Annexion gleichzusetzen sei.
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Die wohl bedeutendste Stellungnahme zur Rechtslage enthält das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR (BVerfGE 36, 1). Dort heißt es:
Das Deutsche Reich existiert fort, ist aber als Gesamtstaat mangels Organisation und aufgrund der Teilung Deutschlands nicht handlungsfähig. Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht der Rechtsnachfolger, sondern als Staat identisch mit dem Deutschen Reich, beschränkt auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes.
Damit vertritt das Bundesverfassungsgericht die Auffassung einer fortbestehenden (latenten) Völkerrechtssubjektivität des Deutschen Reiches, die nicht zwingend eine territoriale, institutionelle oder personelle Fortsetzung verlangt.
Völkerrechtliche Einordnung
Der Souveränitätsbegriff
Im Völkerrecht unterscheidet man zwischen dem Subjekt der Völkerrechtsfähigkeit und der effektiven Ausübung staatlicher Gewalt. Das Deutsche Reich war als Staat weiterhin völkerrechtliches Subjekt, auch wenn es über keinen eigenen, handlungsfähigen Staatsapparat mehr verfügte. Die Bundesrepublik Deutschland beanspruchte seit 1949 die „identitätswahrende Teilrechtsfähigkeit“ des Deutschen Reiches innerhalb ihrer Grenzen.
Grenzfragen und Staatsgebiet
Die völkerrechtlichen Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 wurden im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 Grundgesetz als Referenz herangezogen, insbesondere hinsichtlich der deutschen Staatsbürgerschaft. Die Souveränitätsfrage und der Gebietsstatus wurden in späteren Verträgen, insbesondere im Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990, abschließend geregelt.
Deutsches Reich und die Bundesrepublik Deutschland
Verhältnis von Rechtsnachfolge und Identität
Die Frage, ob die Bundesrepublik Rechtsnachfolger oder identisch mit dem Deutschen Reich ist, ist zentraler Bestandteil des verfassungsrechtlichen Diskurses. Nach ständiger Rechtsprechung und herrschender Meinung:
- Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht der Rechtsnachfolger, sondern identisch (Rechtsidentität) mit dem Deutschen Reich, allerdings beschränkt auf ihren jeweiligen Geltungsbereich und ihre Organisation.
- Die früheren Organe des Deutschen Reiches waren nach 1945 mangels legitimer Vertreter nicht mehr handlungsfähig.
Staatsangehörigkeit
Die deutsche Staatsangehörigkeit (auch „Reichs- und Staatsangehörigkeit“ genannt) wurde über verschiedene Staatsangehörigkeitsgesetze geregelt. Nach 1945 übernahm die Bundesrepublik Regelungen zur Staatsangehörigkeit gemäß Artikel 116 GG, der sich auf das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz bezieht.
Auflösung des Deutschen Reiches und die Rolle internationaler Verträge
Der Zwei-plus-Vier-Vertrag
Mit dem am 12. September 1990 unterzeichneten „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ (Zwei-plus-Vier-Vertrag) erklärte Deutschland verbindlich den endgültigen Gebietsstatus und bestätigte die Grenzen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg festgelegt worden waren. Damit galt der Status des Deutschen Reiches als staatsrechtliche Handlungsform als endgültig beendet und die staatliche Einheit in der Bundesrepublik wiederhergestellt.
Völkerrechtliche Bestätigung
Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 auf Grundlage des Einigungsvertrags wurde die staatliche Einheit Deutschlands in den Grenzen von 1990 hergestellt. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag schuf die völkerrechtlichen Voraussetzungen für volle Souveränität und die Beendigung der alliierten Vorbehaltsrechte.
Rechtswirkung und heutige Bedeutung
Gegenwärtige Rechtslage
Das Deutsche Reich besteht nach rechtlicher Wertung fort, hat jedoch keine staatlichen Organe, kein Staatsgebiet außerhalb der Bundesrepublik und keine eigenständige Staatsgewalt mehr. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Identität und völkerrechtliche Kontinuität des Deutschen Reiches als staatliches Subjekt übernommen.
Bedeutung in der Rechtsanwendung
Der Begriff „Deutsches Reich“ spielt heute noch eine Rolle in bestimmten Gesetzesauslegungen (insbesondere bei der Staatsangehörigkeit) sowie in der historischen Aufarbeitung und staatsrechtlichen Literatur. Im aktuellen Rechtsverkehr wird der Begriff jedoch im Wesentlichen nur noch in historischen und rechtspolitischen Bezügen verwendet.
Zusammenfassung
Das Deutsche Reich ist ein vielschichtiger und enorm bedeutender Begriff der deutschen Rechtsgeschichte. Sein rechtlicher Fortbestand als Völkerrechtssubjekt trotz fehlender tatsächlicher staatlicher Organisation und seine Überführung in die Struktur und Rechtsidentität der Bundesrepublik Deutschland stellen einen Sonderfall der Staatskontinuität im Völkerrecht dar. Die heute maßgeblichen völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Regelungen sind im Zuge der deutschen Wiedervereinigung und mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag abschließend geklärt worden. Das Deutsche Reich existiert nur noch als historisch-rechtlicher, nicht jedoch als eigenständig handlungsfähiger Staat. Die Bundesrepublik Deutschland ist sein fortbestehendes, alle völkerrechtlichen Rechte und Pflichten übernehmendes Staatswesen.
Häufig gestellte Fragen
Ist das Deutsche Reich nach aktuellem deutschen Recht noch existent?
Das Deutsche Reich besteht nach überwiegender Ansicht in der deutschen Rechtswissenschaft fort, jedoch ausschließlich als Völkerrechtssubjekt ohne eigene Staatsgewalt oder Organe. Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Urteilen, insbesondere im sogenannten „Deutschland-Urteil“ von 1973 (BVerfGE 36, 1), festgestellt, dass das Deutsche Reich zwar nicht untergegangen ist, aber seit 1945 rechtlich handlungsunfähig ist. Das Bundesverfassungsgericht betont, dass die Bundesrepublik Deutschland „nicht Rechtsnachfolger, sondern mit dem Deutschen Reich als Staat identisch“ sei, soweit dies die Staatsgebiete betrifft, innerhalb derer sie ihre Hoheitsgewalt ausübt. Das bedeutet, dass die Bundesrepublik als moderner Staat in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches steht, sodass völkerrechtliche Verträge sowie Rechte und Pflichten übernommen wurden, soweit sie auf das heutige deutsche Staatsgebiet Anwendung finden können. Das ehemalige Staatsgebiet des Deutschen Reiches hingegen wurde durch völkerrechtliche Verträge, insbesondere den Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990, endgültig bestimmt.
Welche Rolle spielt das Grundgesetz im Verhältnis zum Deutschen Reich?
Das Grundgesetz, das 1949 als provisorische Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland geschaffen wurde, steht im Kontext der Fortexistenz des Deutschen Reiches als geltende und alleinige Verfassungsordnung auf heutigem deutschen Boden. Das Grundgesetz wurde vom Parlamentarischen Rat ausdrücklich als Übergangslösung konzipiert, solange eine gesamtdeutsche Verfassung nicht möglich war. Nach dem Einigungsvertrag von 1990 dient das Grundgesetz jedoch als die verfassungsmäßige Ordnung für das gesamte deutsche Volk und somit de facto und de jure als Verfassung für das vereinigte Deutschland. Es vollzieht damit einen Bruch gegenüber den alten Reichsverfassungen und bildet die ausschließliche Rechtsgrundlage für deutsches staatliches Handeln.
Hat das Deutsche Reich noch Ansprüche auf ehemalige Ostgebiete?
Mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 und der darauf basierenden Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als endgültige Ostgrenze Deutschlands sind alle etwaigen Gebietsansprüche des Deutschen Reiches oder der Bundesrepublik Deutschland auf ehemaligen sogenannten „deutschen Ostgebiete“ völkerrechtlich erloschen. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag erklärt ausdrücklich, dass das vereinigte Deutschland keine Gebietsansprüche an Gebiete außerhalb seiner Grenzen erhebt (Art. 1 Abs. 2), womit keine Rechtsgrundlage zugunsten des Deutschen Reiches mehr besteht. Die Staatengemeinschaft, insbesondere die Nachbarstaaten Polen und Russland, sehen diese Gebietsfragen als endgültig geregelt an.
Können sich Privatpersonen im Rechtsverkehr auf das Deutsche Reich berufen?
Im deutschen Recht gibt es für Privatpersonen keinerlei Möglichkeit, sich im Rechtsverkehr auf das Deutsche Reich zu berufen. Behörden und Gerichte erkennen ausschließlich die Bundesrepublik Deutschland als rechtsfähigen und souveränen Staat an. Versuche, sich durch Bezugnahme auf das Deutsche Reich rechtlichen Verpflichtungen oder Gesetzen der Bundesrepublik zu entziehen, sind nach geltender Rechtsprechung unbegründet und können strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen, insbesondere im Falle von Urkundenfälschung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte oder Volksverhetzung, falls dies mit verfassungsfeindlicher Ideologie verbunden ist.
Welche rechtliche Bedeutung haben Reichsausweise, Reichsregierungen oder Scheinbehörden, die sich auf das Deutsche Reich berufen?
Verwendung von sogenannten „Reichsausweisen“ oder die Berufung auf selbsternannte „Reichsregierungen“ und ähnliche Scheinbehörden wird rechtlich nicht anerkannt, sondern kann als strafbare Handlung gelten. Nach § 132a StGB („Missbrauch von Titeln, Berufsbezeichnungen und Abzeichen“) und anderen einschlägigen Vorschriften ist sowohl die Ausstellung als auch die Verwendung solcher Dokumente unzulässig. Gerichte und Behörden sehen derartige Vereinigungen in aller Regel als staatsleugnerisch und somit als extremistisch, was Maßnahmen nach dem Vereinsgesetz und weitere straf- oder ordnungsrechtliche Folgen nach sich ziehen kann.
Gibt es noch gültige Gesetze aus der Zeit des Deutschen Reiches?
Einige Gesetze, die zur Zeit des Deutschen Reiches in Kraft gesetzt wurden, gelten in Deutschland zum Teil heute noch weiter, sofern sie nicht ausdrücklich aufgehoben oder geändert wurden. Beispiele hierfür sind das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), das Strafgesetzbuch (StGB) oder die Zivilprozessordnung (ZPO), die – wenn auch vielfach modernisiert – weiterhin als zentrale Gesetzbücher im deutschen Rechtssystem dienen. Nach Art. 123 Abs. 1 GG bleiben Gesetze des früheren Reichsgebietes grundsätzlich in Kraft, soweit sie nicht dem Grundgesetz widersprechen oder durch neues Recht ersetzt worden sind.
Kann das Deutsche Reich heute noch internationale Verträge abschließen?
Da das Deutsche Reich als solches seit 1945 keine handlungsfähigen Organe mehr besitzt, kann es auch keine Verträge abschließen oder völkerrechtlich wirksam auftreten. Die alleinige Völkerrechtssubjektivität kommt heutzutage der Bundesrepublik Deutschland zu, die als identisch mit dem Deutschen Reich betrachtet wird, soweit es das heutige Staatsgebiet betrifft. Alle internationalen Verpflichtungen, Rechte und Pflichten werden völkerrechtlich durch die Bundesrepublik Deutschland wahrgenommen und nicht durch ein eigenständiges Deutsches Reich.