Begriffsbestimmung: Die Dassonville-Formel
Die Dassonville-Formel ist eine grundlegende und prägende Rechtsfigur im Bereich des europäischen Binnenmarktrechts. Sie wurde 1974 vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (heute: Gerichtshof der Europäischen Union, abgekürzt EuGH) im Urteil „Procureur du Roi gegen Benoît und Gustave Dassonville“ (Rs. 8/74) entwickelt. Die Formel legt den Maßstab für die Bestimmung sogenannter Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen im Warenverkehr zwischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union fest. Sie stellt damit eine der tragenden Säulen der Umsetzung und Sicherung des freien Warenverkehrs im Binnenmarkt gemäß Art. 34 und Art. 35 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) dar.
Historischer Hintergrund und Entwicklung
Entstehung im Dassonville-Urteil
Im Fall Dassonville ging es um die Einfuhr von schottischem Whisky aus Frankreich nach Belgien, wobei eine belgische Vorschrift den Nachweis einer Ursprungsbescheinigung forderte. Die Vorlage ohne die entsprechende Bescheinigung wurde als Verstoß gegen die mengenmäßigen Beschränkungen im Sinne des damaligen Art. 30 EWG (heute Art. 34 AEUV) beanstandet. Der EuGH entschied, dass jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, als Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen ist.
Wichtige Meilensteine nach Dassonville
Die breite Definition im Dassonville-Urteil hat die weitere Rechtsprechung geprägt und wurde später durch die „Keck-Formel“ (EuGH Rs. C-267/91 und C-268/91) modifiziert, um die Reichweite zu konkretisieren. Dennoch bleibt die Dassonville-Formel für das Verständnis von Handelshemmnissen und für die Anwendung der Art. 34 und 35 AEUV zentral.
Wortlaut der Dassonville-Formel
Die Kernaussage der Dassonville-Formel lautet im Original:
„Alle Handelsregelungen der Mitgliedstaaten, die geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sind als Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen anzusehen.“ (EuGH, Rs. 8/74)
Rechtlicher Kontext: Art. 34 und 35 AEUV
Bedeutung der Dassonville-Formel für den Binnenmarkt
Die Regelungen der Art. 34 und 35 AEUV verbieten mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten. Die Dassonville-Formel wirkt hierbei als Auslegungshilfe, um zu bestimmen, welche nationalen Vorschriften als unzulässige Handelshemmnisse einzuordnen sind. Insbesondere ermöglicht die Formel es, auch mittelbare, indirekte oder potenzielle Handelshemmnisse zu erfassen, selbst wenn sie nicht ausdrücklich den grenzüberschreitenden Warenverkehr betreffen.
Anwendungsbereich
Die Dassonville-Formel findet Anwendung auf jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, unabhängig davon, ob diese direkt auf den grenzüberschreitenden Warenhandel abzielt, sofern sie geeignet ist, den Handel zu behindern. Das betrifft sowohl Maßnahmen mit Bindungswirkung (z. B. Gesetze, Verordnungen, Erlasse) als auch bestimmte Verhaltensweisen und Vorgehensweisen von staatlichen Stellen.
Systematik und Voraussetzungen der Dassonville-Formel
1. Handelsregelung eines Mitgliedstaates
Eine Maßnahme muss ihren Ursprung in einer „Handelsregelung“ eines Mitgliedsstaates haben. Unter Handelsregelung versteht sich nicht allein das klassische Gesetz, sondern auch Verwaltungsvorschriften und sonstige rechtliche Vorgaben, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten betreffen.
2. Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten
Für die Annahme einer Maßnahme gleicher Wirkung reicht es nach der Dassonville-Formel aus, dass die Regelung geeignet ist, die Warenströme zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Eine tatsächliche Beeinträchtigung muss nicht bewiesen werden; vielmehr genügt das Potential zur Behinderung.
3. Unmittelbare oder mittelbare, tatsächliche oder potentielle Wirkung
Die Formel umfasst sowohl Maßnahmen, die den Handel direkt betreffen, als auch solche, deren Wirkung nur mittelbar oder potenziell den Warenverkehr einschränkt. Hierdurch weist die Dassonville-Formel eine außerordentlich weite Anwendbarkeit auf.
Typische Anwendungsbeispiele
Ursprungsnachweise und Zertifikate
Wie im Dassonville-Urteil befasst, fallen Anforderungen an den Nachweis von Ursprungszeugnissen oder Zertifikaten regelmäßig unter die Dassonville-Formel, wenn sie den innergemeinschaftlichen Handel behindern oder potenziell behindern können.
Verpackungs- und Kennzeichnungsvorschriften
Vorschriften, die für inländische und ausländische Waren unterschiedliche Standards vorsehen, können als Maßnahmen gleicher Wirkung qualifiziert werden, sofern sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten erschweren.
Import- oder Exportbeschränkungen, Quoten
Auch mengenmäßige Begrenzungen, die nicht ausdrücklich auf die Herkunft der Waren abstellen, fallen unter die Definition der Dassonville-Formel, wenn sie eine Behinderung des Binnenmarktes zur Folge haben.
Grenzen der Dassonville-Formel
Keck-Formel und Differenzierung
Wegen der Weite der Dassonville-Formel sah sich der EuGH in späterer Rechtsprechung veranlasst, insbesondere mit dem Keck-Urteil (EuGH, Rs. C-267/91 und C-268/91), den Begriff der Maßnahme gleicher Wirkung einzuschränken. Seither wird zwischen produktbezogenen Regelungen (produktbezogene Anforderungen) und verkaufsbezogenen Regelungen (Verkaufsmodalitäten) unterschieden. Reine Verkaufsmodalitäten unterliegen nicht der Dassonville-Formel, sofern sie für alle Marktteilnehmer gleichermaßen gelten.
Zulässigkeit nach Art. 36 AEUV
Selbst Maßnahmen, die nach der Dassonville-Formel als solche gleicher Wirkung qualifizieren, können ausnahmsweise unter bestimmten, in Art. 36 AEUV genannten Umständen (z. B. Schutz von Gesundheit und Leben von Menschen, Tieren oder Pflanzen; Schutz des nationalen Kulturguts) gerechtfertigt sein.
Auswirkungen und Bedeutung der Dassonville-Formel
Die Dassonville-Formel hat den Grundstein für ein umfassendes und effektives System gelegt, das Marktbarrieren im europäischen Binnenmarkt erkennt und beseitigt. Sie gewährleistet ein hohes Schutz- und Liberalisierungsniveau im Warenverkehr, indem sie auch weniger offensichtliche oder mittelbar wirkende Handelshemmnisse erfasst. Die Formel genießt bis heute in Rechtsanwendung und Wissenschaft fundamentale Bedeutung für die Auslegung der Warenverkehrsfreiheit.
Zusammenfassung
Die Dassonville-Formel prägt maßgeblich das Bild des europäischen Binnenmarktrechts. Ihre weite Definition zur Erfassung von Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen sorgt für einen weitreichenden Schutz vor Handelshemmnissen innerhalb der EU. Die Formel bleibt von zentraler Bedeutung für die Prüfung von nationalen Vorschriften nach den Grundfreiheiten des AEUV, auch wenn spätere Rechtsprechungen durch die Keck-Formel zur Differenzierung beitrugen. Die Handhabung der Dassonville-Formel ist weiterhin ein zentrales Element zur Förderung und Sicherung des freien Warenverkehrs in der Europäischen Union.
Häufig gestellte Fragen
Wann findet die Dassonville-Formel im Rahmen des europäischen Binnenmarktrechts Anwendung?
Die Dassonville-Formel findet Anwendung vor allem im Zusammenhang mit Art. 34 AEUV (ehemals Art. 28 EGV), der die mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten der EU verbietet. Sie dient der Bestimmung, welche nationalen Regelungen oder Praktiken der Mitgliedstaaten als Maßnahmen gleicher Wirkung (Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen) zu qualifizieren sind. Die Formel kommt stets dann zum Tragen, wenn überprüft werden soll, ob eine staatliche Maßnahme den freien Warenverkehr behindert, auch wenn sie nicht ausdrücklich auf eine Beschränkung der Einfuhr abzielt. Dabei ist es unerheblich, ob die Maßnahme direkt oder indirekt, tatsächlich oder potenziell den Handel zwischen den Mitgliedstaaten behindert.
Welche Bedeutung kommt der Dassonville-Formel für die Prüfung mittelbarer Handelshemmnisse zu?
Die Dassonville-Formel ist von großer Bedeutung für die Prüfung mittelbarer Handelshemmnisse, da sie einen sehr weiten Maßstab für das Vorliegen einer unzulässigen Beschränkung des freien Warenverkehrs vorgibt. Sie beschreibt, dass alle Regelungen der Mitgliedstaaten, die geeignet sind, den Handel innerhalb der EU unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, als Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen einzustufen sind. Dadurch fallen selbst solche staatlichen Akteure und Regelungen unter den Anwendungsbereich, die lediglich einen mittelbaren oder potenziellen Einfluss auf den Warenhandel zwischen den EU-Staaten ausüben. Die Formel sorgt somit für einen umfassenden Schutz des freien Warenverkehrs vor sämtlichen denkbaren Handelshemmnissen.
Wie grenzt sich die Dassonville-Formel von anderen unionsrechtlichen Prüfungsmaßstäben ab?
Im europäischen Binnenmarktrecht wird neben der Dassonville-Formel insbesondere noch die Keck-Rechtsprechung unterschieden. Während die Dassonville-Formel die sehr weite Auslegung des Begriffs der Maßnahme gleicher Wirkung wiedergibt und damit grundsätzlich jegliche nationale Handelsregelung erfassen kann, beschränkt die Keck-Rechtsprechung diesen weiten Anwendungsbereich durch die Einführung einer Unterscheidung zwischen produktbezogenen Regelungen (produktbezogene Vorschriften) und vertriebsbezogenen Regelungen (Verkaufsmodalitäten). Nach Keck fallen nicht diskriminierende Verkaufsmodalitäten grundsätzlich nicht unter Art. 34 AEUV. Die Dassonville-Formel beschreibt demnach den Ausgangspunkt der Prüfung; die Abgrenzung zu Keck erfolgt erst in einem weiteren Schritt der Prüfung, wenn festgestellt werden muss, ob eine Maßnahme tatsächlich unter das strenge Verbot des Art. 34 AEUV fällt.
Welche Bedeutung hat die Dassonville-Formel für den Rechtsschutz vor nationalen Gerichten?
Für den Zugang zu effektiven Rechtsschutz vor nationalen Gerichten spielt die Dassonville-Formel eine zentrale Rolle, da sie Klägern einen niedrigschwelligen Ansatzpunkt bietet, staatliche Maßnahmen auf ihre Europarechtskonformität zu überprüfen. Da nahezu jede nationale Regelung, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel zu behindern – selbst mittelbar oder potenziell -, unter die Dassonville-Formel fällt, können Private und Unternehmen die nationalen Gerichte anrufen und sich auf eine Verletzung des Art. 34 AEUV berufen. Dadurch wird ein weitreichender Rechtsschutz gegen nationale Handelshemmnisse gewährleistet, unabhängig davon, ob konkrete diskriminierende Absichten oder tatsächliche Handelsbehinderungen vorliegen.
Welche Rolle spielt die Dassonville-Formel im Verhältnis zur Rechtfertigung nationaler Maßnahmen?
Nach der Anwendung der Dassonville-Formel und Feststellung einer Beschränkung stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung der betroffenen nationalen Maßnahme. Hierzu erlaubt das Unionsrecht gemäß Art. 36 AEUV bestimmte ausdrücklich genannte Ausnahmen (z.B. Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und des Lebens von Menschen), sowie ungeschriebene zwingende Gründe des Allgemeininteresses (z.B. Umweltschutz, Verbraucherschutz) laut der Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung. Die Dassonville-Formel erfasst zunächst alle Maßnahmen gleicher Wirkung, während die Prüfung der Rechtfertigung anhand dieser Regeln im Anschluss erfolgt. Bei der Rechtfertigung ist stets das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten, d. h. die nationale Maßnahme darf das unionsrechtlich geschützte Ziel nicht über das erforderliche Maß hinaus beschränken.
Wie wird die Dassonville-Formel im Zusammenhang mit privaten Maßnahmen angewandt?
Im Allgemeinen wird die Dassonville-Formel auf staatliche Maßnahmen angewandt, nicht jedoch auf Handlungen Privater. Allerdings kann es im Einzelfall zu einer mittelbaren Erfassung privater Maßnahmen kommen, beispielsweise wenn der Staat private Handelspraktiken toleriert oder unterstützt, sodass ihnen eine staatliche Wirkung zukommt. So kann eine staatliche Untätigkeit gegenüber privaten Handelshemmnissen unter bestimmten Umständen als Verstoß gegen Art. 34 AEUV gewertet werden, wenn dies den unionsrechtswidrigen Zustand perpetuiert. Die Dassonville-Formel bleibt somit primär auf öffentliche Akteure beschränkt, besitzt aber auch Relevanz in sog. „mittelbar privatrechtlichen“ Sachverhalten.
Welche Kritikpunkte werden an der Anwendung der Dassonville-Formel geäußert?
Die außerordentlich weite Auslegung der Dassonville-Formel wurde sowohl in der Literatur als auch von der Rechtsprechung kritisiert. Es wurde moniert, dass praktisch jede Maßnahme, die sich auf den Warenverkehr auswirkt, als Beschränkung deklariert werden könne. Dadurch steige die Unsicherheit und Planungsunsicherheit für die Mitgliedstaaten, da jede Regelung, auch regulären Interessen des Allgemeinwohls dienend, potentiell als Handelshemmnis qualifiziert werden kann und Rechtfertigungszwänge auslöst. Diese Überdehnung des Anwendungsbereichs führte letztlich zur „Korrektur“ durch die Keck-Entscheidung, um den Prozess des Binnenmarkts und den Grundsatz der Subsidiarität besser auszubalancieren.