Begriff und Einordnung
Bewusstsein der Rechtswidrigkeit bezeichnet die innere Einsicht einer handelnden Person, dass ihr Verhalten gegen geltendes Recht verstößt. Gemeint ist nicht die Kenntnis jeder Einzelheit einer Regel, sondern das Verständnis, dass das konkrete Verhalten rechtlich missbilligt ist. Das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ist in vielen Rechtsgebieten bedeutsam, besonders im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, aber auch im Zivil- und öffentlichen Recht.
Abzugrenzen ist das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit von der Kenntnis der tatsächlichen Umstände einer Handlung. Wer die Tatsachen nicht kennt, kann die rechtliche Bewertung kaum zutreffend erfassen. Umgekehrt kann jemand alle Tatsachen kennen und dennoch irren, ob das Verhalten erlaubt oder verboten ist.
Funktion im Strafrecht
Stellung im Aufbau der Verantwortung
Im Strafrecht wird die persönliche Verantwortung in mehreren Schritten geprüft. Nach der Feststellung der Handlung und ihrer äußeren Merkmale sowie der objektiven Rechtswidrigkeit geht es schließlich um die individuelle Vorwerfbarkeit. Hier kommt das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ins Spiel: Es geht darum, ob die handelnde Person das Unrecht ihrer Tat erkannt oder zumindest erkennen konnte. Diese Einsicht betrifft nicht den Vorsatz im engeren Sinne (Wissen und Wollen der Tatbestandsmerkmale), sondern die Einsicht, dass das Tun rechtlich verboten ist.
Verbotsirrtum
Ein Verbotsirrtum liegt vor, wenn jemand die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens verkennt. Dabei sind zwei Grundtypen zu unterscheiden:
Direkter Verbotsirrtum
Die Person weiß, was sie tut, geht aber davon aus, dass das Verhalten erlaubt ist. Beispielhaft sind Fehleinschätzungen über das Bestehen oder den Geltungsbereich eines Verbots.
Indirekter Verbotsirrtum
Die Person weiß grundsätzlich um das Verbot, nimmt aber irrig an, im konkreten Fall liege eine rechtliche Rechtfertigung vor (etwa Notwehr oder Einwilligung). Ein Irrtum über das Vorliegen tatsächlicher Voraussetzungen einer Rechtfertigung berührt vorrangig den Vorsatz in Bezug auf diese rechtfertigenden Umstände; ein Irrtum über die rechtliche Reichweite einer Rechtfertigung ist ein Verbotsirrtum.
Vermutung des Unrechtsbewusstseins
Im Alltag wird grundsätzlich erwartet, dass Personen wissen, dass zentrale Verbote gelten. Daher wird ein Bewusstsein der Rechtswidrigkeit in vielen Fällen vermutet. Diese Vermutung ist jedoch widerlegbar, insbesondere bei unübersichtlichen oder besonders komplexen Regelungen.
Konsequenzen für die Strafbarkeit
Ein unvermeidbarer Verbotsirrtum kann die persönliche Vorwerfbarkeit entfallen lassen. Ist der Irrtum vermeidbar, bleibt die Verantwortlichkeit dem Grunde nach bestehen; der Irrtum kann sich jedoch schuldmindernd auswirken. Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls, insbesondere Zugänglichkeit und Verständlichkeit der einschlägigen Regeln sowie die individuelle Situation der handelnden Person.
Rolle bei Ordnungswidrigkeiten
Auch bei Ordnungswidrigkeiten spielt das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit eine Rolle. Ein unvermeidbarer Irrtum über das Verbot kann die Ahndung ausschließen. Ein vermeidbarer Irrtum kann das Ausmaß der Sanktion beeinflussen. Maßgeblich ist, ob die handelnde Person die Rechtswidrigkeit bei pflichtgemäßer Sorgfalt erkennen konnte.
Bezüge im Zivilrecht
Bösgläubigkeit und Gutgläubigkeit
Im Zivilrecht ist weniger von Bewusstsein der Rechtswidrigkeit, sondern von Gut- und Bösgläubigkeit die Rede. Bösgläubig handelt, wer weiß oder wissen muss, dass ihm ein bestimmtes Recht nicht zusteht, etwa beim Erwerb von Sachen oder bei der Nutzung fremder Rechte. Dieses Wissen betrifft zwar nicht zwingend die gesamte Rechtsordnung, aber den Mangel der eigenen Berechtigung.
Bereicherungsrecht und Rückabwicklung
Bei Rückabwicklungen ungerechtfertigter Vermögensverschiebungen kann die Kenntnis der fehlenden rechtlichen Grundlage Einfluss auf Herausgabepflichten, Nutzungsherausgabe und Schutz des Empfängers haben. Wer weiß, dass ihm eine Leistung nicht zusteht, wird eher streng behandelt als jemand, der redlich von einem Rechtsgrund ausgeht.
Verjährung und Kenntnis
In einzelnen Bereichen hängt der Beginn oder die Dauer der Verjährung von der Kenntnis des Anspruchs und der anspruchsbegründenden Umstände ab. Dabei kann es eine Rolle spielen, ob die betroffene Person wusste oder wissen musste, dass sie rechtswidrig in fremde Rechte eingreift.
Öffentliches Recht und Amtspflichten
Im öffentlichen Recht wird das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit insbesondere im Kontext von Amtspflichten und Disziplinarsachverhalten relevant. Bedienstete, die die Rechtswidrigkeit eines Handelns erkennen oder bei pflichtgemäßer Prüfung hätten erkennen müssen, können verschärft zur Verantwortung gezogen werden. Umgekehrt kann ein unvermeidbarer Irrtum über komplexe rechtliche Vorgaben die persönliche Vorwerfbarkeit mindern.
Nachweis und Beweisfragen
Das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ist ein innerer Vorgang und wird regelmäßig mittelbar ermittelt. Herangezogen werden unter anderem:
- Äußerungen vor, während oder nach der Handlung,
- Vorwissen und Erfahrung der handelnden Person,
- Offenkundigkeit oder Komplexität der einschlägigen Regeln,
- Branchenübliche Standards und Hinweise,
- Umstände, die erkennen lassen, dass mit einem Verbot gerechnet wurde (z. B. Verschleierungshandlungen).
Fehleinschätzungen werden eher als unvermeidbar angesehen, wenn Normen besonders unklar, neu oder widersprüchlich sind. Bei weithin bekannten Grundverboten wird hingegen ein Unrechtsbewusstsein eher bejaht.
Abgrenzungen und verwandte Begriffe
Wichtig ist die Abgrenzung zum Irrtum über Tatsachen: Wer sich über den tatsächlichen Sachverhalt irrt, verkennt nicht zwingend das rechtliche Verbot, sondern die Realität, auf die das Verbot anzuwenden wäre. Nur der Irrtum über die rechtliche Bewertung des eigenen Tuns ist ein Verbotsirrtum. Daneben existieren spezifische Irrtumsformen über tatsächliche Voraussetzungen von Rechtfertigungen, die gesondert behandelt werden.
Praktische Bedeutung
Das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit entscheidet häufig über das Ausmaß persönlicher Verantwortlichkeit. Es prägt die Beurteilung von Schuld, Sanktion und zivilrechtlichen Konsequenzen. Seine Feststellung erfordert eine sorgfältige Betrachtung der individuellen Einsichtsmöglichkeiten, der Verständlichkeit der einschlägigen Regeln und der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls.
Häufig gestellte Fragen
Was bedeutet Bewusstsein der Rechtswidrigkeit konkret?
Es beschreibt die innere Einsicht, dass das eigene Verhalten rechtlich missbilligt ist. Entscheidend ist die Erkenntnis des Verbots, nicht die genaue Kenntnis aller rechtlichen Details.
Muss man die genaue Gesetzeslage kennen, um rechtswidrig zu handeln?
Nein. Es genügt, wenn erkennbar ist, dass das Verhalten verboten ist. Die Rechtsordnung erwartet eine grundlegende Einsicht in zentrale Verbote; Detailkenntnisse sind nicht erforderlich.
Worin liegt der Unterschied zwischen Verbotsirrtum und Tatbestandsirrtum?
Beim Verbotsirrtum wird die rechtliche Bewertung verkannt („Ich dachte, es sei erlaubt“). Beim Tatbestandsirrtum werden tatsächliche Umstände falsch eingeschätzt („Ich dachte, der Sachverhalt sei anders“). Die rechtlichen Folgen unterscheiden sich erheblich.
Welche Rolle spielt die Vermeidbarkeit eines Irrtums?
Ein unvermeidbarer Verbotsirrtum kann die persönliche Vorwerfbarkeit entfallen lassen. Ein vermeidbarer Irrtum kann sie mindern, ohne sie vollständig auszuschließen.
Wie wird Bewusstsein der Rechtswidrigkeit nachgewiesen?
Es wird aus äußeren Umständen geschlossen, etwa aus Äußerungen, Vorerfahrungen, der Offenkundigkeit des Verbots oder Verhaltensweisen, die auf ein Wissen um das Verbot hindeuten.
Welche Bedeutung hat das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit bei Ordnungswidrigkeiten?
Auch dort ist es relevant: Ein unvermeidbarer Irrtum kann die Ahndung ausschließen, ein vermeidbarer Irrtum kann die Sanktion beeinflussen.
Welche Relevanz hat der Begriff im Zivilrecht?
Er zeigt sich vor allem in der Unterscheidung von Gut- und Bösgläubigkeit sowie bei Rückabwicklungen ungerechtfertigter Leistungen. Kenntnis von fehlender Berechtigung führt zu strengeren Rechtsfolgen als redliches Verhalten.