Begriffserklärung und rechtliche Grundlagen der Betrieblichen Übung
Die Betriebliche Übung ist ein Begriff des deutschen Arbeitsrechts. Sie bezeichnet die regelmäßige, wiederholte Gewährung bestimmter Leistungen oder Verhaltensweisen eines Arbeitgebers, aus denen Arbeitnehmer schließen dürfen, dass ihnen diese Leistungen oder Vorteile auch zukünftig zustehen. Sie hat einen eigenen rechtlichen Charakter und führt dazu, dass aus der bloßen Handhabung heraus individualvertragliche Ansprüche entstehen können. Die rechtliche Grundlage der betrieblichen Übung ist nicht explizit im Gesetz geregelt, sondern von der Rechtsprechung, insbesondere des Bundesarbeitsgerichts (BAG), entwickelt worden.
Entstehung der Betrieblichen Übung
Voraussetzungen
Für das Entstehen einer betrieblichen Übung müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
- Wiederholte Verhaltensweise: Der Arbeitgeber muss eine bestimmte Leistung oder Vergünstigung (zum Beispiel Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld, Sonderzahlungen, zusätzliche Urlaubstage) über einen längeren Zeitraum hinweg wiederholt und vorbehaltlos gewähren.
- Verlässliche Erwartung: Die regelmäßige Gewährung muss bei den Arbeitnehmern die berechtigte Erwartung begründen, dass die Praxis auch künftig so fortgesetzt wird.
- Kein entgegenstehender Vorbehalt: Ein wirksam erklärter Vorbehalt des Arbeitgebers, wonach die jeweilige Leistung freiwillig und ohne Rechtsanspruch gewährt wird, kann das Entstehen einer betrieblichen Übung verhindern.
Typische Beispiele
Am häufigsten entsteht eine betriebliche Übung bei der Zahlung von Gratifikationen (Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld), bei der Überlassung bestimmter Arbeitsmittel oder bei Sondervereinbarungen zu Arbeitszeiten.
Rechtsfolge der Betrieblichen Übung
Anspruchsbegründung
Durch die betriebliche Übung wird ein vertraglicher Anspruch der Arbeitnehmer auf die jeweilige Leistung begründet. Der Anspruch erwächst allen Arbeitnehmern, die unter die betriebliche Übung fallen, unabhängig davon, ob sie individuelle Arbeitsverträge mit abweichenden Regelungen haben, sofern keine entgegenstehenden Vereinbarungen existieren.
Kollektive und individuelle Wirkung
Die betriebliche Übung wirkt grundsätzlich für alle betroffenen Arbeitnehmer eines Betriebs oder einer bestimmten Arbeitnehmergruppe. Sie kann jedoch auch individuell entstehen, etwa wenn nur einzelne Beschäftigte Leistungen regelmäßig erhalten.
Beendigung und Änderung einer Betrieblichen Übung
Widerruf und Änderung
Eine einmal entstandene betriebliche Übung kann nicht einseitig vom Arbeitgeber widerrufen werden. Es bedarf grundsätzlich einer Änderungskündigung oder, bei Einvernehmen beider Parteien, einer einvernehmlichen Änderung der Arbeitsbedingungen. Alternativ kann die betriebliche Übung auch dadurch beendet werden, dass der Arbeitgeber die Praxis über einen längeren Zeitraum hinweg eindeutig und transparent ändert und dies den Arbeitnehmern kommuniziert (sog. „gegenläufige betriebliche Übung“).
Ausschluss durch Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalte
Der Arbeitgeber hat die Möglichkeit, durch die verbindliche Vereinbarung von Vorbehalten (Freiwilligkeitsvorbehalt, Widerrufsvorbehalt) das Entstehen einer betrieblichen Übung zu verhindern. Hierbei sind jedoch strenge Anforderungen an die Transparenz und Verständlichkeit der Vorbehalte zu stellen. Insbesondere muss deutlich werden, worauf sich der Vorbehalt bezieht und unter welchen Bedingungen eine Gewährung ausgeschlossen bleibt.
Abgrenzung: Betriebliche Übung, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung und Einzelarbeitsvertrag
Verhältnis zu anderen Rechtsquellen
Die betriebliche Übung steht im Rang unter Tarifverträgen, Betriebsvereinbarungen und dem Gesetz. Sie kann daher durch höherrangige Rechtsquellen verdrängt oder eingeschränkt werden. Individualrechtliche Vereinbarungen, die nachstehend abgeschlossen werden, können die betriebliche Übung ebenfalls modifizieren oder aufheben.
Kollisionsregelungen
Existiert für eine Leistung eine explizite kollektivrechtliche Regelung (Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung), so geht diese der betrieblichen Übung regelmäßig vor, solange sie nicht zuungunsten der Beschäftigten abweicht.
Unterschiede zu verwandten Rechtsfiguren
Betriebliche Übung vs. Gewohnheitsrecht
Während das Gewohnheitsrecht eine länger anhaltende, allgemeine Übung innerhalb des gesamten Rechtskreises und eine allgemein anerkannte Rechtsüberzeugung voraussetzt, knüpft die betriebliche Übung an die individuelle Beziehung im Betrieb an und ist an weniger strenge Voraussetzungen gebunden.
Betriebliche Übung vs. betriebliche Gepflogenheit
Unter dem Begriff „betriebliche Gepflogenheit“ versteht man allgemeine Praktiken ohne rechtsverbindlichen Charakter, während die betriebliche Übung gerade dazu führt, dass ein rechtlicher Anspruch entsteht.
Rechtsprechung zur Betrieblichen Übung
Das Bundesarbeitsgericht hat in zahlreichen Urteilen die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der betrieblichen Übung konkretisiert. Wichtige Entscheidungen befassten sich mit der Frage, wie viele Wiederholungen erforderlich sind (meist drei Jahre bei jährlicher Zahlung) und wie klar und eindeutig ein Vorbehalt sein muss.
Betriebliche Übung im Homeoffice und in agilen Arbeitswelten
Auch außerhalb traditioneller Arbeitsorganisationen kann eine betriebliche Übung entstehen, etwa durch regelmäßige Genehmigung von Homeoffice-Tagen oder flexiblen Arbeitszeitmodellen, sofern die Voraussetzungen der wiederholten vorbehaltlosen Gewährung erfüllt sind.
Zusammenfassung
Die betriebliche Übung ist ein zentrales Instrument der Flexibilität und Entwicklung im deutschen Arbeitsrecht, das es Arbeitnehmern ermöglicht, aus regelmäßigen und vorbehaltslosen Leistungen rechtlich durchsetzbare Ansprüche zu erwerben. Arbeitgeber sollten darauf achten, bei der Gewährung von Zusatzleistungen klare Regelungen und Vorbehalte zu formulieren, um das ungewollte Entstehen vertraglicher Ansprüche zu vermeiden.
Häufig gestellte Fragen
Unter welchen Voraussetzungen entsteht eine betriebliche Übung rechtlich verbindlich?
Eine betriebliche Übung entsteht, wenn ein Arbeitgeber bestimmte Verhaltensweisen oder Leistungen (z. B. Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld, Sonderzahlungen, zusätzliche Urlaubstage) wiederholt und regelmäßig über einen längeren Zeitraum, üblicherweise mindestens drei Jahre, ohne Vorbehalt gewährt. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass die Beschäftigten – mangels einer anderslautenden Erklärung des Arbeitgebers – davon ausgehen dürfen, es bestehe für die Zukunft ein Anspruch auf die begünstigende Leistung. Entscheidend ist, dass die Leistung mit einer solchen Regelmäßigkeit und Gleichförmigkeit gewährt wird, dass sich beim Arbeitnehmer ein schutzwürdiges Vertrauen auf die künftige Gewährung bildet. Eine betriebliche Übung kann jedoch nicht entstehen, wenn der Arbeitgeber die Leistungen ausdrücklich als freiwillig und ohne Rechtsanspruch ankündigt, sofern dies eindeutig, transparent und für die Beschäftigten nachvollziehbar kommuniziert wurde.
Kann eine betriebliche Übung einseitig vom Arbeitgeber beendet oder geändert werden?
Eine einmal entstandene betriebliche Übung stellt eine arbeitsvertragliche Anspruchsgrundlage dar und ist damit grundsätzlich nicht einseitig durch den Arbeitgeber widerrufbar oder abänderbar. Änderungen oder eine Beendigung sind arbeitsrechtlich nur im Wege einer Änderungskündigung möglich, welche insbesondere an die Anforderungen des Kündigungsschutzgesetzes gebunden ist. Alternativ kann eine betriebliche Übung durch eine klare, rechtzeitig offengelegte Freiwilligkeits- oder Widerrufsklausel begrenzt werden, jedoch nur, wenn diese von Anfang an Bestandteil der Leistungsgewährung ist. Nachträglich eingefügte Einschränkungen können die bereits entstandene betriebliche Übung nicht wirksam beseitigen.
Was ist der Unterschied zwischen betrieblicher Übung und individueller Vereinbarung?
Während individuelle Vereinbarungen auf einer ausdrücklichen Absprache zwischen Arbeitgeber und einem einzelnen Arbeitnehmer basieren und im Arbeitsvertrag festgehalten werden, entsteht die betriebliche Übung aufgrund eines gleichförmigen, freiwilligen Verhaltens des Arbeitgebers gegenüber einer Vielzahl von Arbeitnehmern, ohne ausdrückliche vertragliche Vereinbarung. Die betriebliche Übung wirkt kollektiv und begründet arbeitsvertragliche Ansprüche für alle betroffenen Beschäftigten; eine individuelle Vereinbarung wirkt dagegen ausschließlich zwischen den jeweiligen Vertragspartnern. Für die Wirksamkeit einer betrieblichen Übung kommt es nicht auf den Willen, sondern auf das tatsächliche Auftreten des Arbeitgebers an.
Welche rechtlichen Folgen kann eine betriebliche Übung für neu eingestellte Arbeitnehmer haben?
Wird eine betriebliche Übung für einen bestimmten Arbeitnehmerkreis geschaffen, gilt grundsätzlich der Gleichbehandlungsgrundsatz. Werden neue Mitarbeiter eingestellt, können diese – je nach Gestaltung der betrieblichen Übung und ihrer Kenntnisnahme – an den bestehenden Anspruch angebunden sein, sofern die Gewährung im Unternehmen vergleichbaren Arbeitnehmergruppen regelmäßig und ohne Einschränkung erfolgt. Eine Ausnahme besteht dann, wenn neue Arbeitnehmer ausdrücklich bei Vertragsschluss darauf hingewiesen werden, dass die betriebliche Übung für sie nicht gelten soll oder die Übung eingestellt wurde. Dennoch besteht auch hier das Risiko, dass im Einzelfall Gerichte einen Vertrauenstatbestand auch für neue Arbeitnehmer annehmen.
Welche Ausnahmen verhindern die Entstehung einer betrieblichen Übung?
Nicht jede regelmäßig wiederholte Leistung führt zur Entstehung einer betrieblichen Übung. Ausnahmen bestehen vor allem dann, wenn der Arbeitgeber die Leistung unter einem klaren Freiwilligkeitsvorbehalt oder mit ausdrücklichem Widerrufsvorbehalt gewährt und diese Vorbehalte transparent und unmissverständlich kommuniziert werden. Auch bei gesetzlichen oder tariflichen Leistungen sowie solchen, die bereits im Arbeitsvertrag vereinbart sind, kann keine eigenständige betriebliche Übung entstehen. Zudem kann der Anspruch ausgeschlossen sein, wenn betriebliche Regelungen, etwa durch Betriebsvereinbarungen, vorrangig sind oder Kollektivverträge abweichende Regelungen enthalten.
Inwieweit ist der Betriebsrat bei der Entstehung oder Beendigung einer betrieblichen Übung zu beteiligen?
Die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats richten sich nach Art und Inhalt der betrieblichen Übung. Handelt es sich um Leistungen, die das kollektive Entgelt- und Sozialgefüge berühren (z. B. freiwillige Sozialleistungen, zusätzliche Urlaubstage), kann gemäß § 87 Abs. 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ein Mitbestimmungsrecht bestehen. Die Entstehung einer betrieblichen Übung selbst kann ohne Mitwirkung des Betriebsrats erfolgen. Will der Arbeitgeber jedoch eine betriebliche Übung beenden oder einschränken, bedarf es bei mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten der Zustimmung des Betriebsrats oder – bei Uneinigkeit – der Einigungsstelle.
Können durch betriebliche Übung entstandene Ansprüche zeitlich begrenzt oder rückwirkend entzogen werden?
Ansprüche, die aus einer betrieblichen Übung resultieren, können grundsätzlich nicht rückwirkend entzogen werden. Eine Begrenzung auf bestimmte Zeiträume ist ebenfalls nicht nachträglich möglich. Die einmal entstandenen Ansprüche gelten solange fort, bis sie wirksam – in der Regel durch Änderungskündigung oder einvernehmliche Änderung des Arbeitsvertrags – beendet oder geändert werden. Eine einmalige Unterbrechung oder temporäre Aussetzung der Leistung berührt die entstandenen Ansprüche nicht, solange nicht klar und einvernehmlich geregelt wird, dass die betriebliche Übung beendet wird. Lediglich durch eine rechtzeitige und klare Kommunikation an die Arbeitnehmer kann der Arbeitgeber verhindern, dass in Zukunft erneut Ansprüche entstehen.