Begriff und Bedeutung der Besitzkehr
Die Besitzkehr ist ein Begriff aus dem deutschen Sachenrecht und bezeichnet das Recht eines Besitzers, eine gerade erfolgte oder noch andauernde Besitzstörung unmittelbar durch eine verhältnismäßige Selbsthilfehandlung zu beseitigen, um die ungestörte Ausübung des Besitzes wiederherzustellen. Das Recht zur Besitzkehr bildet einen Teilbereich der sogenannten possessorischen Selbsthilfe und ist im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) normiert.
Gesetzliche Grundlagen
§ 859 Abs. 2 BGB – Selbsthilfe des Besitzers
Die rechtliche Grundlage der Besitzkehr findet sich in § 859 Abs. 2 BGB. Die Vorschrift lautet:
„Wird dem Besitzer eine bewegliche Sache mittels verbotener Eigenmacht weggenommen, so ist er zur sofortigen Entziehung der Sache von dem Täter befugt.“
Diese Bestimmung gewährt dem Besitzer das Recht, eine durch verbotene Eigenmacht verursachte Besitzentziehung an einer beweglichen Sache unmittelbar zu unterbinden bzw. rückgängig zu machen.
Weitere Normen im Zusammenhang
Neben § 859 Abs. 2 BGB sind folgende Normen von Bedeutung:
- § 859 Abs. 1 BGB: Regelt die allgemeine Selbsthilfe zur Abwehr verbotener Eigenmacht.
- § 859 Abs. 3 BGB: Gilt speziell für den Besitz an Grundstücken.
- § 858 BGB: Definiert den Begriff der verbotenen Eigenmacht.
Voraussetzungen der Besitzkehr
Für die rechtmäßige Ausübung der Besitzkehr müssen folgende Voraussetzungen kumulativ vorliegen:
1. Besitz des Anspruchstellers
Es muss ein schützenswerter Besitz an der fraglichen Sache bestehen, unabhängig von den Eigentumsverhältnissen. Sowohl Eigen- als auch Fremdbesitzer können die Besitzkehr geltend machen. Auch der Besitzdiener ist in bestimmten Fällen geschützt.
2. Entziehung des Besitzes durch verbotene Eigenmacht
Die Besitzkehr setzt voraus, dass der Besitz durch verbotene Eigenmacht (§ 858 BGB) entzogen wurde. Verbotene Eigenmacht liegt vor, wenn jemand den Besitz ohne den Willen des Besitzers und ohne rechtlichen Grund entzieht oder stört.
3. Bewegliche Sache
Die Besitzkehr kann nur hinsichtlich beweglicher Sachen geltend gemacht werden. Bei Immobilien und Grundstücken gelten besondere Vorschriften (§ 859 Abs. 3 BGB; sog. Besitzwehr).
4. Zeitliche Begrenzung („Frischer Tat“)
Die Besitzkehr darf nur „sofort“ erfolgen, also solange die Besitzentziehung noch andauert oder unmittelbar nach der Entziehung (so genannte Frischetat). Mit Ablauf eines gewissen Zeitraums entfällt das Selbsthilferecht und der Besitzer wird auf den gerichtlichen Rechtsweg verwiesen.
5. Verhältnismäßigkeit
Die zur Besitzkehr eingesetzten Mittel müssen verhältnismäßig und geeignet sein, den Besitz zurückzuerlangen, ohne eine Gefährdung höherwertiger Interessen herbeizuführen. Insbesondere sind Gewalt oder Drohungen nur im Rahmen des unbedingt Erforderlichen zulässig.
Unterschied zur Besitzwehr
Die Besitzwehr (§ 859 Abs. 1 BGB) unterscheidet sich von der Besitzkehr darin, dass sie die Abwehr einer noch andauernden oder unmittelbar drohenden Besitzstörung betrifft. Während die Besitzkehr auf eine bereits vollzogene Besitzentziehung reagiert, dient die Besitzwehr der Abwehr im Moment der Störung. Auch die Besitzwehr ist auf das erforderliche Maß zu begrenzen.
Rechtsfolgen und Grenzen der Besitzkehr
Zulässigkeitsgrenzen
Die Besitzkehr ist nur zur Wiederherstellung des eigenen Besitzes zulässig. Eine weitergehende Anwendung, zum Beispiel auf andere Rechtsverletzungen oder zu Strafzwecken, ist unzulässig. Im Falle der Überschreitung der zulässigen Mittel kann unter Umständen eine Strafbarkeit nach §§ 223 ff. StGB (Körperverletzungsdelikte), §§ 240, 241 StGB (Nötigung, Bedrohung) oder eine zivilrechtliche Haftung auf Schadensersatz gegeben sein.
Verhältnis zu anderen Rechtsbehelfen
Mit Ablauf der Frischetat verliert der Besitzer das Selbsthilferecht der Besitzkehr. Danach ist die gerichtliche Geltendmachung des Herausgabeanspruchs nach § 861 BGB möglich (petitorischer Rechtsschutz).
Besitzkehr im Vergleich zu internationalen Regelungen
Das Recht zur unmittelbaren Besitzkehr ist in ähnlicher Form auch in anderen Rechtsordnungen anerkannt, etwa als „self-help“ im anglo-amerikanischen Rechtskreis. Die Ausgestaltung der zulässigen Selbsthilfemaßnahmen und deren Grenzen variiert jedoch teils erheblich und ist jeweils vor dem Hintergrund des nationalen Rechtsschutzsystems zu beurteilen.
Bedeutung und Funktion der Besitzkehr im Sachenrecht
Die Besitzkehr stellt ein wichtiges Instrument des privaten Gewaltverbots und effektiven Besitzschutzes dar. Sie erlaubt es dem bisherigen Besitzer, sich gegen eigenmächtige Besitzentziehungen zur Wehr zu setzen, ohne sofort den gerichtlichen Rechtsweg beschreiten zu müssen. Damit wird die Funktionsfähigkeit des Besitzsystems und die Wahrung des Rechtsfriedens gewährleistet.
Besitzkehr im Praxisalltag
Im alltäglichen Leben kommt der Besitzkehr vor allem beim plötzlichen Entwenden oder An sich nehmen beweglicher Gegenstände (wie Fahrzeuge, Tiere, Werkzeuge) Bedeutung zu. Die Voraussetzungen und Grenzen dieses Selbsthilferechts sollten jedoch im Einzelfall stets sorgfältig beachtet werden, um keine rechtlichen Nachteile zu riskieren.
Literatur und weiterführende Informationen
- Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, Kommentar zu § 859 BGB
- Münchener Kommentar zum BGB, § 859 BGB
- Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht
Hinweis: Die Darstellung dient der allgemeinen Information im Kontext eines Rechtslexikons und ersetzt keine rechtliche Beratung.
Häufig gestellte Fragen
Wann liegt eine Besitzkehr im rechtlichen Sinne vor?
Eine Besitzkehr liegt im rechtlichen Sinne vor, wenn der ursprüngliche Besitzer einer Sache, der durch verbotene Eigenmacht seinen Besitz verloren hat und bei dem der Besitz wieder auf eine Weise zurückkehrt, die ebenfalls als verbotene Eigenmacht zu beurteilen ist. Im deutschen Recht wird dies in § 859 Abs. 2 BGB geregelt. Der Tatbestand ist erfüllt, wenn jemand, der eine Sache ursprünglich besitzt, diese verliert – beispielsweise durch Diebstahl oder widerrechtliche Wegnahme – und sich danach unter Umgehung rechtmäßiger Mittel die tatsächliche Sachherrschaft erneut aneignet, etwa indem er sie dem neuen Besitzer ohne dessen Einwilligung entzieht. Die Besitzkehr ist damit von der sogenannten Besitzwehr (Abwehr gerade stattfindender Besitzentziehung) abzugrenzen, da hier der „Rückeroberungsakt“ nach der vollendeten Entziehung stattfindet. Rechtliche Voraussetzung für die Besitzkehr ist stets ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang zwischen Besitzverlust und Rücknahme sowie das Fehlen staatlicher Hilfe, sofern eine sofortige staatliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist. Dem früheren Besitzer steht in dieser Situation ein Selbsthilferecht zu – vorausgesetzt, er überschreitet dabei nicht das zur Wiedererlangung des Besitzes erforderliche Maß an Gewalt.
Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen für das Selbsthilferecht bei der Besitzkehr vorliegen?
Das Selbsthilferecht bei der Besitzkehr ist an strenge gesetzliche Anforderungen geknüpft, die im Einzelnen erfüllt sein müssen, damit ein Besitzer vom Gesetz gedeckt eigenmächtig handelt. Erstens muss der ursprüngliche Besitzer durch verbotene Eigenmacht seines Besitzes beraubt worden sein, also ohne rechtlichen Grund und gegen oder ohne seinen Willen den Besitz verloren haben. Zweitens muss die Rücknahme der Sache ebenfalls aus unmittelbarem Anlass erfolgen, das heißt, möglichst rasch nach dem Besitzentzug, sodass keine endgültige Besitzentfremdung eingetreten ist. Drittens muss die staatliche Hilfe zur Wiedererlangung des Besitzes im konkreten Fall entweder nicht erreichbar oder nicht rechtzeitig erreichbar sein, um den rechtlichen und tatsächlichen Besitz zu sichern. Viertens darf das Vorgehen des Besitzers zur Besitzrückkehr nicht unverhältnismäßig oder mit erheblicher Gewalt gegen Personen verbunden sein, sondern sich strikt auf das unbedingt Erforderliche zur Wiedererlangung des Besitzes beschränken. Die Einhaltung dieser Voraussetzungen ist für die spätere Rechtfertigung einer Besitzkehr vor Gericht von zentraler Bedeutung – andernfalls kann der Rücknehmende selbst zum Störer oder Täter einer verbotenen Eigenmacht werden.
Kann die Besitzkehr auch bei beweglichen und unbeweglichen Sachen angewendet werden?
Das Recht zur Besitzkehr gemäß § 859 BGB bezieht sich grundsätzlich auf bewegliche Sachen, also Gegenstände, die ihrer Art nach transportiert werden können, etwa Fahrzeuge, Schmuck oder Vorräte. Hier kann der Besitzer im Falle der Besitzentziehung die Sache „auf frischer Tat“ zurücknehmen. Bezüglich unbeweglicher Sachen, insbesondere Grundstücken oder Immobilien, sieht das Gesetz in § 859 Abs. 3 BGB ausdrücklich das Recht zur Besitzkehr vor, allerdings mit Einschränkungen. Der Besitzer eines Grundstücks ist berechtigt, einen widerrechtlich eingedrungenen oder verweilenden Störer mit angemessener Gewalt von dem Grundstück zu entfernen oder fernzuhalten, wenn eine Inanspruchnahme staatlicher Hilfe nicht rechtzeitig möglich ist. Die Grenzen der zulässigen Selbsthilfe sind jedoch bei unbeweglichen Sachen besonders eng gezogen, und die angewandte Gewalt muss stets verhältnismäßig bleiben. Bei beiden Fallgruppen ist stets zu beachten, dass die Maßnahmen nicht zu einer unerlaubten Selbstjustiz ausarten dürfen.
Welche Unterschiede bestehen zwischen Besitzkehr und Besitzwehr im deutschen Recht?
Besitzkehr und Besitzwehr stellen zwei unterschiedliche Formen der Selbsthilfe im Besitzschutzrecht des BGB dar und unterscheiden sich insbesondere im zeitlichen Verlauf und in der Art des Eingriffs. Die Besitzwehr (§ 859 Abs. 1 BGB) berechtigt den Besitzer dazu, eine gerade stattfindende oder unmittelbar bevorstehende Besitzentziehung mit Gewalt abzuwehren – der Schutz erfolgt also zeitgleich mit oder unmittelbar vor dem Verlust der tatsächlichen Sachherrschaft. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der Besitzkehr (§ 859 Abs. 2 BGB) um eine Rückgewinnung des Besitzes, nachdem dieser bereits durch verbotene Eigenmacht entzogen wurde; sie ist folglich ein „nacheilender“ Schutzmechanismus, der den ursprünglichen Besitzer unter engen Voraussetzungen zur eigenmächtigen Rücknahme berechtigt. Insbesondere die enge zeitliche Begrenzung und das Subsidiaritätsprinzip der Besitzkehr heben sie von der Besitzwehr ab.
Welche Rechtsfolgen ergeben sich, wenn bei der Besitzkehr über das zulässige Maß hinaus Gewalt angewendet wird?
Wendet ein Besitzer bei der Ausübung seines Rechts zur Besitzkehr mehr als das zulässige Maß an Gewalt an oder überschreitet er die erforderlichen Grenzen der Selbsthilfe, so verliert er seinen rechtlichen Schutz und kann sich selbst straf- oder zivilrechtlich haftbar machen. Eine Überschreitung liegt zum Beispiel vor, wenn der Rückerobernde ohne Notwendigkeit erhebliche Sachschäden oder gar Körperverletzungen verursacht. In solchen Fällen ist die eigentliche Besitzkehr dann als unrechtmäßig zu beurteilen, sodass der zuvor selbst geschützte Besitzer zum Täter einer verbotenen Eigenmacht oder eines anderen Delikts wird. Haftungsrechtlich kann dies Schadensersatzforderungen des neuen Besitzers oder Strafverfolgung nach sich ziehen. Im Extremfall kann auch die strafrechtliche Notwehrüberschreitung vorliegen (§ 33 StGB), wenn aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken die Gewalt zur Besitzkehr überspannt wird.
Welche Rolle spielen Fristen und der zeitliche Zusammenhang bei der Rechtmäßigkeit der Besitzkehr?
Der zeitliche Zusammenhang wird für die Legitimität der Besitzkehr als zentrales Kriterium betrachtet. Nach § 859 Abs. 2 BGB ist eine Besitzkehr nur dann erlaubt, wenn sie „auf frischer Tat“ erfolgt, das heißt unmittelbar im Anschluss an die Wegnahme und ohne dass zwischen Besitzentzug und Rücknahme eine große Zeitspanne liegt. Mit dem Fortschreiten der Zeit und dem Eintritt neuer Besitzverhältnisse oder Nutzungsabsichten des zwischenzeitlichen Besitzers erlöschen die Möglichkeiten zur eigenen Wiederinbesitznahme. Unmittelbarkeit ist daher ein entscheidender Prüfungsmaßstab: Bereits nach wenigen Stunden oder Tagen – je nach konkreter Sachlage und Möglichkeit zum Einschalten staatlicher Hilfe – kann die Rechtmäßigkeit der Besitzkehr zweifelhaft werden. Wer eine Sache nach Ablauf dieses engen Zeitkorridors eigenmächtig zurückholt, handelt nicht mehr vom Schutzbereich der Besitzkehr gedeckt, sondern nimmt eine unerlaubte Selbstjustiz vor.
Ist die Besitzkehr auch gegenüber dem rechtlichen Eigentümer zulässig?
Im Rahmen der Besitzkehr ist die rechtliche Eigentumslage zunächst unbeachtlich – maßgeblich ist allein, wem der Besitz zuletzt durch verbotene Eigenmacht entzogen wurde. Das heißt, auch der nichtrechtmäßige, aber tatsächliche Besitzer kann sich auf das Selbsthilferecht der Besitzkehr berufen, wenn seine Sachherrschaft ohne rechtlichen Grund durch Dritte gebrochen wurde. Im Verhältnis zwischen zwei selbst nichtberechtigten Besitzern (z. B. Dieb und Finder) findet das Recht der Besitzkehr genauso Anwendung. Der Eigentümer, der nicht im Besitz der Sache war, kann hingegen nicht im Wege der Besitzkehr eigenmächtig handeln, sondern ist auf die regulären zivilrechtlichen Möglichkeiten, wie die Eigentumsklage (§ 985 BGB), angewiesen. Nur in engen Ausnahmefällen, wenn Eigentümer und Besitzer identisch sind, kann der Schutzbereich der Besitzkehr in Anspruch genommen werden.