Legal Lexikon

Aussteuerung


Begriff und rechtliche Einordnung der Aussteuerung

Als Aussteuerung wird im deutschen Sozialversicherungsrecht der Vorgang bezeichnet, bei dem eine versicherte Person nach Ablauf des gesetzlichen Bezugszeitraums von Krankengeld ihren Anspruch auf diese Leistung verliert. Die Aussteuerung ist insbesondere im Zusammenhang mit dem Krankengeld nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) von Bedeutung. Sie markiert einen rechtlichen Übergangspunkt, an dem Betroffene gegebenenfalls auf andere soziale Sicherungssysteme ausweichen müssen, wenn weiterhin Arbeitsunfähigkeit besteht.

Die rechtlichen Regelungen zur Aussteuerung betreffen hauptsächlich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die infolge länger andauernder Krankheit ihre Erwerbstätigkeit nicht ausüben können. Die Aussteuerung hat weitreichende sozialversicherungsrechtliche und arbeitsrechtliche Konsequenzen und ist daher Gegenstand zahlreicher gerichtlicher Entscheidungen sowie in der Praxis von erheblicher Bedeutung.


Gesetzliche Grundlagen der Aussteuerung

Begrenzung des Krankengeldbezugs

Die maßgebliche gesetzliche Grundlage für die Aussteuerung bildet § 48 SGB V. Nach dieser Vorschrift endet der Anspruch auf Krankengeld grundsätzlich mit Ablauf von 78 Wochen (546 Kalendertagen) innerhalb von drei Jahren (Blockfrist) je Erkrankung. Der Aussteuerungszeitpunkt tritt ein, sobald die leistungsrechtliche Höchstdauer erschöpft ist – unabhängig davon, ob die Arbeitsunfähigkeit weiterhin besteht.

Blockfrist und mehrfache Erkrankungen

Bei mehreren hintereinander folgenden oder parallelen Erkrankungen ist für die Berechnung der Aussteuerung die Blockfrist maßgebend. Das bedeutet, dass verschiedene Krankheitsursachen zusammengerechnet werden, soweit sie zur gleichen Arbeitsunfähigkeit im Sinne des Gesetzes führen. Lediglich bei seit dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit geheilten und später erneut aufgetretenen, anderen Erkrankungen muss jeweils eine neue Blockfrist berechnet werden.

Relevanz der Arbeitsunfähigkeitsunterbrechung

Unterbrechungen der Arbeitsunfähigkeit von mehr als sechs Monaten sowie Zeiten dazwischenliegender Beschäftigungsfähigkeit mit anschließender erneuter Krankheit bewirken, dass die Blockfrist neu zu laufen beginnt. Hierdurch kann es zu verschiedenen Aussteuerungsszenarien kommen, die individuell zu prüfen sind.


Ablauf und Rechtsfolgen der Aussteuerung

Beendigungsmitteilung durch die Krankenkasse

Die Krankenkassen sind verpflichtet, rechtzeitig vor Eintritt der Aussteuerung auf das bevorstehende Ende des Krankengeldanspruchs hinzuweisen (§ 50 SGB V). In der Praxis erfolgt dies durch eine Beendigungsmitteilung an die versicherte Person. Damit soll die betroffene Person in die Lage versetzt werden, frühzeitig alternative Leistungsansprüche, beispielsweise nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) oder dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), geltend zu machen.

Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis

Der Eintritt der Aussteuerung im Krankengeld beeinflusst nicht automatisch den Bestand des Arbeitsverhältnisses. Dieses bleibt auch nach Ende der Entgeltfortzahlung und des Krankengeldes prinzipiell weiter bestehen. Für den Arbeitgeber entsteht jedoch nach Ablauf der Lohnfortzahlungspflicht kein Anspruch auf Erstattung oder Entgeltzahlung; dies hat mitunter Auswirkungen auf arbeitsrechtliche Maßnahmen wie Kündigung oder Aufhebungsvertrag.

Sozialversicherungsrechtlicher Status nach der Aussteuerung

Mit dem Zeitpunkt der Aussteuerung endet nicht nur der Anspruch auf Krankengeld, sondern vielfach auch die Pflichtversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung, sofern keine anderweitige Absicherung (etwa Familienversicherung oder Pflichtversicherung wegen Leistungsbezug, beispielsweise Arbeitslosengeld) eintritt. Versicherte müssen sich spätestens jetzt um den Erhalt ihres Krankenversicherungsschutzes kümmern, um versicherungslücken zu vermeiden.


Weiterführende soziale Absicherung nach Aussteuerung

Anspruch auf Arbeitslosengeld (ALG I)

Nach der Aussteuerung besteht häufig – trotz fortdauernder Arbeitsunfähigkeit – ein Anspruch auf Arbeitslosengeld nach § 145 SGB III. Diese sogenannte „Nahtlosigkeitsregelung“ setzt voraus, dass die/der Arbeitnehmer(in) den Arbeitsmarkt zumindest theoretisch zur Verfügung steht, aber aufgrund ärztlichen Attests arbeitsunfähig ist und die Erwerbsminderungsrente noch nicht bewilligt oder abgelehnt wurde. Voraussetzung ist die rechtzeitige Meldung bei der Agentur für Arbeit.

Rentenantrag wegen Erwerbsminderung

Mit Eintritt der Aussteuerung kann es geboten sein, einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI zu prüfen. Die Krankenkasse oder die Bundesagentur für Arbeit kann Betroffene auffordern, einen entsprechenden Rentenantrag zu stellen. Die weitere Leistung wird dann oftmals als „Übergangsgeld“ oder im Rahmen der Nahtlosigkeitsregelung gewährt, bis über den Rentenantrag entschieden wurde.

Leistungen zur Teilhabe und Rehabilitation

Parallel zum Ablauf des Krankengeldes prüfen Versicherungsträger regelmäßig, ob Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation) für eine Wiedereingliederung in das Erwerbsleben notwendig und möglich sind. In entsprechenden Fällen können Versicherte Anspruch auf ergänzende Leistungen haben.


Rechtsschutz bei Aussteuerung

Widerspruch und Klageverfahren

Mit dem Eintritt der Aussteuerung können Leistungsberechtigte gegen die Mitteilung der Krankenkasse ein Widerspruchsverfahren einleiten, wenn sie die Auffassung vertreten, die Voraussetzungen lägen nicht vor (etwa fehlerhafte Berechnung der Blockfrist oder Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit durch neue Erkrankung). Kommt es zu keiner Abhilfe, ist der Weg zum Sozialgericht für eine Klärung des Leistungsanspruchs eröffnet.

Bedeutung sozialgerichtlicher Rechtsprechung

Die sozialgerichtliche Rechtsprechung beschäftigt sich regelmäßig mit der Auslegung der Vorschriften zur Aussteuerung, insbesondere mit Fragen zur Berechnung der Blockfrist, zur Zusammenschau von Erkrankungen und zu unterbrochenen Arbeitsunfähigkeiten. Prägende Bedeutung haben Urteile des Bundessozialgerichts, die maßgebliche Leitlinien für Verwaltung und Versicherte vorgeben.


Praktische Hinweise und Zusammenfassung

Der Begriff der Aussteuerung im Sozialversicherungsrecht erfasst das Ende des Krankengeldbezugs aufgrund Erreichens der maximalen Bezugsdauer und betrifft eine Vielzahl rechtlicher Schnittstellen zu weiteren sozialen Sicherungssystemen. Die Übergänge sind rechtlich komplex und erfordern sorgfältige Überprüfung der individuellen Voraussetzungen. Zur Vermeidung sozialer und versicherungsrechtlicher Nachteile empfiehlt es sich, bereits vor Eintritt der Aussteuerung alternative Leistungsansprüche zu prüfen und gegebenenfalls rechtzeitig zu beantragen.


Literatur und weiterführende Quellen

  • SGB V – Gesetzliche Krankenversicherung, insb. §§ 44-50 SGB V
  • SGB III – Arbeitsförderung, insb. § 145 SGB III
  • SGB VI – Gesetzliche Rentenversicherung, insb. § 43 SGB VI
  • Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Aussteuerung
  • Richtlinien und Hinweise der gesetzlichen Krankenkassen

Hinweis: Die Aussteuerung ist ein zentrales Thema im deutschen Sozialversicherungsrecht und betrifft Versicherte, Leistungsträger und Arbeitgeber gleichermaßen. Genaue Kenntnis der gesetzlichen Vorschriften und der sozialrechtlichen Praxis ist unerlässlich, um die individuellen Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit dem Ende des Krankengeldanspruchs umfassend zu verstehen.

Häufig gestellte Fragen

Wann tritt die Aussteuerung ein und welche rechtlichen Folgen hat sie?

Die Aussteuerung tritt in der Regel nach Ablauf von 78 Wochen Bezug von Krankengeld wegen derselben Krankheit innerhalb von drei Jahren ein (§ 48 SGB V). Nach dieser Frist endet der Anspruch auf Krankengeld automatisch, auch wenn weiterhin eine Arbeitsunfähigkeit besteht. Rechtlich bedeutet dies, dass ab dem Tag nach der Aussteuerung die Zahlung der gesetzlichen Krankenkasse entfällt. Der Versicherte bleibt weiterhin Mitglied in der Krankenversicherung, muss aber nun eigenständig für seinen Lebensunterhalt sorgen oder anderweitige Leistungen wie Arbeitslosengeld (§ 145 SGB III), Sozialgeld oder Erwerbsminderungsrente beantragen. Ein rechtzeitiger Antrag wird dringend empfohlen, um nahtlose Übergänge zu gewährleisten und finanzielle Nachteile sowie eine Unterbrechung des Versicherungsschutzes zu vermeiden.

Welche Pflichten haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer vor und nach der Aussteuerung?

Arbeitnehmer sind verpflichtet, sich rechtzeitig über das Ende des Krankengeldbezugs zu informieren und spätestens mit Erhalt der sogenannten Aussteuerungsmitteilung aktiv zu werden, indem sie Kontakt mit der Agentur für Arbeit aufnehmen und gegebenenfalls Arbeitslosengeld beantragen. Arbeitgeber müssen den Arbeitsplatz weiterhin zur Verfügung stellen, solange das Arbeitsverhältnis fortbesteht und kein sonstiger Kündigungsgrund vorliegt. Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, das Arbeitsverhältnis nach der Aussteuerung beenden, darf dies aber tun, wenn beispielsweise eine negative Gesundheitsprognose vorliegt. Wichtig ist, dass der Arbeitnehmer ab dem Zeitpunkt der Aussteuerung zwar arbeitsunfähig, aber dennoch als arbeitslos und grundsätzlich verfügbar gilt, um Leistungen vom Arbeitsamt zu erhalten.

Welche Ansprüche auf Sozialleistungen bestehen nach der Aussteuerung?

Nach der Aussteuerung können verschiedene Sozialleistungen in Betracht kommen, abhängig vom Gesundheitszustand und den persönlichen Voraussetzungen. Ist der Arbeitnehmer nach wie vor arbeitsunfähig, aber vom Arbeitsamt als „vermittelbar“ eingestuft, besteht grundsätzlich ein Anspruch auf Arbeitslosengeld I nach § 145 SGB III. Bei dauerhafter Erwerbsunfähigkeit ist die Beantragung einer Erwerbsminderungsrente gesetzlich vorgesehen (§§ 43, 44 SGB VI). Sollte kein Anspruch auf Arbeitslosengeld I bestehen, etwa weil keine oder nur geringe Anwartschaftszeiten vorliegen, kann ein Antrag auf Leistungen zur Grundsicherung nach dem SGB II (Hartz IV) oder SGB XII (Sozialhilfe) gestellt werden. Die rechtzeitige Antragstellung ist entscheidend, da Leistungen wie Arbeitslosengeld nicht rückwirkend gezahlt werden.

Wie wirkt sich die Aussteuerung auf den Krankenversicherungsschutz aus?

Mit der Aussteuerung bleibt die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung kraft Gesetzes zunächst erhalten, solange Anspruch auf Arbeitslosengeld I, II oder Sozialgeld besteht (§ 5 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 2a SGB V). Im Fall eigener Beitragszahlung (freiwillige Mitgliedschaft) muss sich der Versicherte selbst um die Abführung der Beiträge kümmern. Besteht keine anderweitige Absicherung, greift meist die freiwillige Weiterversicherung (§ 9 SGB V). Ein nahtloser Übergang in den Versicherungsschutz ist besonders wichtig, da ansonsten Versorgungslücken entstehen können, die im Falle einer Krankheitsbehandlung zu erheblichen finanziellen Belastungen führen. Daher sollte rechtzeitig mit der Krankenkasse und außer bei Leistungsbezug auch mit dem Jobcenter Kontakt aufgenommen werden.

Können Ansprüche aus der betrieblichen oder privaten Zusatzversicherung nach der Aussteuerung geltend gemacht werden?

Etwaige Ansprüche gegenüber betrieblichen Krankenzusatz- oder privaten Krankentagegeldversicherungen können nach der Aussteuerung fortbestehen oder erstmals entstehen, sofern die Versicherungsbedingungen dies vorsehen. In vielen Policen ist geregelt, dass private Krankentagegeldversicherungen mit Ende des gesetzlichen Krankengeldanspruchs weiterwähren, sofern weiterhin Arbeitsunfähigkeit festgestellt wird und die sonstigen Versicherungsbedingungen erfüllt sind. Versicherungsnehmer sind verpflichtet, die Arbeitsunfähigkeit fortlaufend nachzuweisen und alle Meldefristen einzuhalten. Gegebenenfalls besteht zudem Anspruch auf Leistungen aus privaten Berufsunfähigkeitsversicherungen, was jeweils individuell zu prüfen ist. Auch hier ist die frühzeitige Antragstellung bedeutsam, da rückwirkende Zahlungen nur eingeschränkt oder gar nicht möglich sind.

Was passiert mit dem Arbeitsverhältnis und dem Kündigungsschutz nach der Aussteuerung?

Nach der Aussteuerung bleibt das Arbeitsverhältnis bestehen, es sei denn, es wurde zwischenzeitlich gekündigt oder ein Aufhebungsvertrag geschlossen. Der besondere Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen nach dem SGB IX bleibt bestehen; für alle anderen gilt das Kündigungsschutzgesetz weiterhin, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Die Aussteuerung allein ist kein Grund für eine Kündigung. Jedoch kann der Arbeitgeber nach einer langen Erkrankung und entsprechender negativer Prognose das Arbeitsverhältnis aus personenbedingten Gründen kündigen, nachdem ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) angeboten und durchgeführt wurde (§ 167 Abs. 2 SGB IX). Eine solche Kündigung unterliegt einer strengen gerichtlichen Kontrolle und erfordert die Abwägung der betrieblichen und persönlichen Interessen.

Gibt es besondere Fristen, die nach der Aussteuerung beachtet werden müssen?

Im Zusammenhang mit der Aussteuerung sind mehrere Fristen zu beachten, insbesondere die rechtzeitige Antragstellung auf Arbeitslosengeld bei der Agentur für Arbeit (§ 145 SGB III). Bereits acht Wochen vor Ablauf des Krankengeldbezugs sollte Kontakt zur Agentur aufgenommen werden. Der Antrag auf Arbeitslosengeld sollte spätestens innerhalb einer Woche nach Aussteuerung gestellt werden, um keine finanziellen Nachteile zu erleiden. Auch bezüglich Ansprüche gegenüber Zusatz- und Rentenversicherungen existieren je nach Vertrag Melde- und Antragsfristen. Werden diese Fristen versäumt, droht ein erheblicher Leistungs- und Versicherungsausfall. Daher ist eine frühzeitige Klärung mit allen beteiligten Institutionen ratsam.