Begriff und Bedeutung der Aussetzung im Strafrecht
Die Aussetzung im Strafrecht beschreibt im deutschen Recht die bewusste Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit einer Person durch das „Im-Stich-Lassen“ einer schutzlosen Person in einer hilflosen Lage. Der Begriff ist insbesondere im Strafgesetzbuch (StGB) unter § 221 StGB geregelt und stellt eine eigenständige Straftat dar. Die Aussetzung wird von anderen Delikten wie der Körperverletzung oder der unterlassenen Hilfeleistung abgegrenzt und zielt darauf ab, schutzwürdige Personen vor konkreten Lebens- und Gesundheitsgefahren durch andere zu bewahren.
Historische Entwicklung und gesetzliche Verankerung
Die Norm des § 221 StGB wurde erstmals 1871 in das Strafgesetzbuch aufgenommen und seither mehrfach reformiert. Ziel des Gesetzgebers war es stets, den Schutz hilfloser Personen vor gefährdendem Verhalten Dritter zu stärken. Die aktuelle Fassung differenziert zwischen mehreren Begehungsformen und Rechtsfolgen.
Gesetzliche Regelung und Tatbestand
Der Straftatbestand der Aussetzung ist in § 221 StGB geregelt:
„(1) Wer einen Menschen,
1. der sich in seiner Obhut befindet oder dem er zur Betreuung verpflichtet ist, oder
2. der infolge Gebrechens oder Krankheit hilflos ist,
in eine hilflose Lage bringt oder in einer hilflosen Lage im Stich lässt und dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt, wird mit Freiheitsstrafe bestraft.“
Tatbestandsmerkmale
Objektiver Tatbestand
- Tathandlung: Dies kann entweder das aktive „In-eine-hilflose-Lage-Bringen“ oder das „Im-Stich-Lassen“ einer bereits hilflosen Person sein.
- Täterkreis: Erfasst werden insbesondere Personen, die eine Obhuts- oder Betreuungspflicht innehaben.
- Tatobjekt: Geschützt sind Menschen, die infolge Gebrechens, Krankheit oder Alter hilflos sind.
- Gefährliche Folge: Es muss eine konkrete Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung drohen.
Subjektiver Tatbestand
Die Aussetzung setzt zumindest bedingten Vorsatz hinsichtlich der hilflosen Lage und der drohenden Gefahr voraus. Absichtliches Handeln ist nicht erforderlich, doch muss der Täter die Möglichkeit der schwerwiegenden Gefahr erkennen und billigend in Kauf nehmen.
Rechtswidrigkeit und Schuld
Ist der Tatbestand erfüllt und liegt keine rechtfertigende Handlung wie etwa ein Notstand vor, gilt die Tat als rechtswidrig. Die Strafbarkeit entfällt bei fehlender Schuldfähigkeit, wie sie etwa bei schweren psychischen Erkrankungen gegeben sein kann.
Qualifikationen und Strafmaß
Grunddelikt und qualifizierte Tatbestände
Die Strafandrohung steigert sich, wenn durch die Aussetzung tatsächlich eine schwere Gesundheitsschädigung oder sogar der Tod eintritt (§ 221 Abs. 2 StGB). Hier greifen qualifizierte Tatbestände, die zu erhöhten Strafrahmen führen.
Strafrahmen
- Grunddelikt: Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.
- Schwere Folge: Bei Eintritt schwerer Gesundheitsschädigung oder Todes droht eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.
Versuch und Fahrlässigkeit
Ein Versuch der Aussetzung ist strafbar, sofern der Täter nachweislich zur Tat angesetzt hat, ohne dass die Gefahr bereits realisiert wurde (§ 23 StGB). Fahrlässige Aussetzung, etwa durch unbeabsichtigtes Zurücklassen einer hilflosen Person, ist hingegen nicht erfasst.
Abgrenzung zu anderen Straftatbeständen
Unterschied zur unterlassenen Hilfeleistung
Im Unterschied zur Aussetzung ist die unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB) ein sogenanntes echtes Unterlassungsdelikt, das auch Dritten gegenüber besteht, wenn Hilfeleistung erforderlich und zumutbar ist. Die Aussetzung verlangt eine besondere Pflichtenstellung des Täters gegenüber dem Tatopfer sowie das Hinzutreten einer konkreten Gefahr.
Körperverletzungsdelikte und Tötungsdelikte
Die Aussetzung kann in Konkurrenz zu anderen Delikten wie Körperverletzung (§ 223 StGB) oder Tötungsdelikten (§§ 211 ff. StGB) stehen. So kann eine Aussetzung auch in Tateinheit mit diesen Tatbeständen verwirklicht werden, sofern unabhängig von der eigentlichen Gefährdungshandlung weitere Rechtsgutsverletzungen erfolgen.
Besondere Pflichtenstellungen bei Aussetzung
Ein zentraler Aspekt der Aussetzung im Strafrecht ist die sogenannte Obhuts- und Garantenstellung. Darunter fällt beispielsweise das Eltern-Kind-Verhältnis, die Verantwortung für pflegebedürftige Menschen oder ähnliche Konstellationen, in denen eine besondere Schutzpflicht besteht.
Täterkreis und Garantenpflichten
Nicht jeder kann Täter einer Aussetzung sein. In Betracht kommen vor allem:
- Eltern
- Pflegepersonen
- Betreuungspersonen
- Lehrer oder Aufsichtspersonen in Institutionen
Ohne eine solche besondere Pflicht entfällt grundsätzlich die Strafbarkeit wegen Aussetzung.
Bedeutung im Strafverfahren und in der Praxis
Relevanz vor Gerichten
Die Aussetzung spielt besonders in Strafverfahren gegen Angehörige oder Pflegepersonen eine Rolle, wenn diesen vorgeworfen wird, ihrer Obhuts- oder Betreuungspflicht nicht nachgekommen zu sein. Die Rechtsprechung stellt hohe Anforderungen an den Nachweis der Pflichtverletzung und der konkreten Gefährdungssituation.
Häufigkeit und Erscheinungsformen
Die Deliktsform der Aussetzung ist vergleichsweise selten, wird jedoch in der Praxis immer wieder im Zusammenhang mit Vernachlässigungsvorfällen, etwa in Pflegeheimen, diskutiert. Häufig überschneidet sich die Aussetzung mit Tatbeständen der Kindeswohlgefährdung.
Strafprozessuale Folgen und Nebenfolgen
Ermittlungsverfahren und Beweissicherung
Im Ermittlungsverfahren müssen Polizei und Staatsanwaltschaft insbesondere die hilflose Lage, die Obhutspflicht und den Zusammenhang zwischen Pflichtverletzung und konkreter Gefahr nachweisen.
Weitere Konsequenzen
Neben der strafrechtlichen Sanktion können auch zivilrechtliche Haftungsansprüche, etwa Schadensersatzforderungen, sowie berufliche Konsequenzen für verantwortliche Personen entstehen.
Literaturhinweise und weiterführende Informationen
Empfohlene weiterführende Literatur liefert umfassende Kommentierungen zum § 221 StGB, wie etwa in den einschlägigen Kommentaren zum Strafgesetzbuch und wissenschaftlichen Fachaufsätzen zum Thema.
Fazit:
Die Aussetzung im Strafrecht stellt einen eigenständigen und besonders für schutzbedürftige Personengruppen relevanten Straftatbestand dar. Sie schützt das Leben und die Gesundheit von Menschen, die auf die Obhut anderer angewiesen sind, und sanktioniert schwerwiegende Pflichtverletzungen mit empfindlichen Strafen. Die Norm verlangt eine sorgfältige Prüfung der besonderen Pflichtenstellung sowie der konkreten Gefährdungslage im Einzelfall.
Häufig gestellte Fragen
Kann die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden?
Ja, die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe kann unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen zur Bewährung ausgesetzt werden (§ 56 StGB). Dies ist in der Regel möglich, wenn eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren verhängt wurde und erwartet werden kann, dass der Verurteilte sich bereits mit der Verurteilung und der damit verbundenen Belastung zukünftig straffrei führen wird. Hierbei prüft das Gericht insbesondere die Persönlichkeit des Verurteilten, seine Lebensverhältnisse, das Verhalten nach der Tat, sowie die Schwere der Straftat. Die Aussetzung erfolgt grundsätzlich unter der Auflage, bestimmte Weisungen und Auflagen während einer Bewährungszeit von bis zu fünf Jahren einzuhalten. Die Entscheidung über die Aussetzung liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, wobei die Umstände des Einzelfalles umfassend zu würdigen sind.
Ist eine Aussetzung des Strafrestes nach Teilverbüßung möglich?
Eine Aussetzung des Strafrestes ist nach § 57 StGB zulässig, wenn der Verurteilte bereits mindestens die Hälfte seiner Freiheitsstrafe verbüßt hat und prognostiziert wird, dass von ihm zukünftig keine Straftaten mehr begangen werden. Bei lebenslangen Freiheitsstrafen ist eine solche Aussetzung in der Regel nach 15 Jahren möglich. Für die Entscheidung berücksichtigt das Gericht unter anderem das Verhalten des Verurteilten im Vollzug, dessen Persönlichkeitsentwicklung, die Art der begangenen Straftat und das Interesse der Allgemeinheit an der Sicherheit. Zur Ermittlung dieser Faktoren kann das Gericht weitere Gutachten einholen. Auch in diesem Fall ist die Aussetzung mit Bewährungsauflagen versehen und steht unter regelmäßiger Kontrolle.
Kann auch die Unterbringung in einer Maßregel (z.B. psychiatrisches Krankenhaus) ausgesetzt werden?
Die Aussetzung der Unterbringung in einer Maßregel der Besserung und Sicherung, etwa gemäß § 67d StGB bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, ist unter den gesetzlichen Voraussetzungen möglich. Das Gericht prüft, ob von der untergebrachten Person keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr zu erwarten sind. Diese Prognose wird häufig auf der Grundlage von fachpsychiatrischen Gutachten getroffen. Die Aussetzung weist Regelungen auf, die dem Schutz der Allgemeinheit Rechnung tragen, wie zum Beispiel ein engmaschiges Bewährungsmanagement und die Zuweisung zu entsprechenden Hilfseinrichtungen, verbunden mit strengen Auflagen.
Wie verhält es sich mit der Aussetzung des Haftbefehls vor Beginn der Hauptverhandlung?
Der Haftbefehl kann gemäß § 116 StPO ausgesetzt werden, wenn weniger einschneidende Maßnahmen als die Untersuchungshaft ausreichen, um den Haftgrund – etwa Fluchtgefahr oder Verdunkelungsgefahr – zu entkräften. Das Gericht kann dem Beschuldigten Auflagen wie Meldepflichten, Kontaktverbote oder die Hinterlegung einer Kaution auferlegen. Die Aussetzung erfolgt für den Zeitraum vor oder während der Hauptverhandlung, wobei die Einhaltung der Auflagen streng überwacht wird. Ein Verstoß gegen die Auflagen kann die erneute Inhaftierung des Beschuldigten zur Folge haben.
Welche Rolle spielen Auflagen und Weisungen bei einer Aussetzung?
Auflagen und Weisungen sind zentrale Instrumente zur Steuerung und Kontrolle des Verurteilten während der Bewährungszeit nach einer Aussetzung. Sie sollen dazu beitragen, Rückfalltaten zu verhindern und den Integrationsprozess zu unterstützen. Typische Beispiele sind die Verpflichtung zu regelmäßiger Arbeitssuche, Alkohol- oder Drogentests, Zahlung von Schadensersatz oder die Teilnahme an therapeutischen Maßnahmen. Ihre genaue Ausgestaltung richtet sich nach den individuellen Gegebenheiten des Verurteilten und dem Ziel, eine positive Sozialprognose abzusichern. Die Einhaltung der Auflagen wird durch einen Bewährungshelfer überwacht, der dem Gericht über den Verlauf berichtet.
Kann eine einmal ausgesetzte Strafe widerrufen werden?
Ja, die Aussetzung einer Strafe zur Bewährung kann gemäß § 56f StGB widerrufen werden, insbesondere wenn der Verurteilte während der Bewährungszeit erneut straffällig wird, die Auflagen oder Weisungen gröblich oder beharrlich verletzt oder sich der Aufsicht und Leitung durch den Bewährungshelfer entzieht. In solchen Fällen prüft das Gericht, ob ein weiterer Bewährungsaufschub ausreichend ist oder ob die Aussetzung nicht mehr verantwortet werden kann. Im Fall des Widerrufs ist die ausgesetzte Strafe zu vollstrecken. Das Widerrufsverfahren selbst unterliegt strengen rechtlichen Vorgaben mit Anhörungsrechten für den Verurteilten.