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Ausnahmegerichte


Ausnahmegerichte

Begriffserklärung und Bedeutung

Der Begriff Ausnahmegerichte bezeichnet im deutschen Recht Gerichte, die entgegen der allgemeinen Gerichtsorganisation für bestimmte Fälle oder Personengruppen ad hoc oder nachträglich eingerichtet werden. Die Schaffung von Ausnahmegerichten ist in der deutschen Rechtsordnung grundsätzlich unzulässig und steht im Widerspruch zum Grundsatz des gesetzlichen Richters. Dies dient dem Schutz rechtsstaatlicher Prinzipien wie dem Vertrauensschutz, der Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen sowie der Gewaltenteilung.

Historische Entwicklung

Ursprung des Verbots von Ausnahmegerichten

Das Verbot von Ausnahmegerichten wurde als Reaktion auf Missstände vergangener Epochen, insbesondere aus der Zeit des Nationalsozialismus und der Weimarer Republik, festgeschrieben. Ausnahmegerichte dienten häufig als politische Werkzeuge zur Verfolgung Andersdenkender und zur Durchsetzung politischer Interessen außerhalb der regulären Rechtsordnung.

Verfassungsrechtliche Verankerung

Die Erfahrungen mit politischen Sondergerichten, etwa den Volksgerichten oder Sondergerichten im Dritten Reich, führten nach 1945 zur ausdrücklichen Verankerung des Verbots von Ausnahmegerichten im Grundgesetz. Ziel war die nachhaltige Sicherung rechtsstaatlicher Verfahren und die Verhinderung politischer Willkür durch die Justiz.

Rechtliche Grundlagen

Art. 101 Abs. 1 Satz 1 GG – Verbot von Ausnahmegerichten

Das Verbot von Ausnahmegerichten ist in Artikel 101 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) ausdrücklich geregelt:

„Ausnahmegerichte sind unzulässig. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.“

Dieser Verfassungsgrundsatz verbietet nicht nur die Schaffung von Ausnahmegerichten, sondern garantiert zugleich das Recht auf den gesetzlichen Richter (siehe auch: Grundsatz des gesetzlichen Richters).

Abgrenzung zu Sondergerichten

Zu unterscheiden ist zwischen den Begriffen Ausnahmegerichte und Sondergerichte. Ab dem 19. Jahrhundert wurden in verschiedenen Staaten Sondergerichte für spezifische Sachbereiche oder Personengruppen geschaffen (z. B. Militärgerichte, Disziplinargerichte). Während Ausnahmegerichte anlassbezogen für Einzelfälle eingerichtet und in der Regel nachträglich legitimiert werden, sind Sondergerichte dauerhaft etablierte Einrichtungen mit festgelegtem Zuständigkeitsbereich. Auch für Sondergerichte gelten strenge Bedingungen: Sie dürfen die Regelzuständigkeiten nicht aushebeln oder unzulässig einschränken.

Einfachgesetzliche Ausgestaltung

Das Grundgesetz ist durch zahlreiche einfachgesetzliche Regelungen flankiert, die die Einrichtung und Zuständigkeit von Gerichten im Einklang mit den Vorgaben von Art. 101 GG regeln. Dazu zählen insbesondere das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG), das Strafprozessrecht und das Verwaltungsverfahrensrecht.

Gesetzlicher Richter und seine Bedeutung

Der im Zusammenhang mit dem Verbot von Ausnahmegerichten stehende Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) bedeutet, dass vorab, allgemein und abstrakt geregelt sein muss, welcher Richter oder welches Gericht für welchen Fall zuständig ist. Eine nachträgliche Zuordnung oder Veränderung zuungunsten einzelner Parteien ist damit unzulässig.

Kriterien für den gesetzlichen Richter

Grundsätzlich müssen folgende Kriterien erfüllt sein:

  • Zuständigkeiten sind vor Eintritt des Streitfalls festgelegt (vorherige Festlegung).
  • Die Geschäftsverteilung erfolgt abstrakt und im Voraus, etwa durch Geschäftsverteilungspläne.
  • Keine Einzelfallregelungen: Richtet sich die Zuordnung eines Falls zu einem Richter oder Gericht nachträglich an speziellen Umständen aus, handelt es sich regelmäßig um eine unzulässige Ausnahmegerichtsbarkeit.

Abgrenzung: Staatsschutzsenate und Spezialkammern

Bestimmte Kammern oder Senate, etwa Staatsschutzkammern beim Oberlandesgericht oder Kammern für Staatsschutzdelikte, sind keine Ausnahmegerichte im Sinne des Grundgesetzes, sofern sie auf abstrakt-generellen gesetzlichen Grundlagen und im Rahmen der regulären Gerichtsorganisation agieren. Ihre Existenz ist durch die gerichtliche Zuständigkeit und Arbeitsverteilung innerhalb der bestehenden Gerichte gedeckt.

Bedeutung im Rechtsschutz

Das Verbot von Ausnahmegerichten besitzt hohe Bedeutung für den Zugang zum Rechtsschutz. Es garantiert

  • Rechtswegsgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG)
  • Vorhersehbarkeit der Zuständigkeit
  • Schaffung von Vertrauen in Dezentralität und Neutralität der Justiz

Direkte oder faktische Ausnahmegerichte, etwa durch Umgehungen im Geschäftsverteilungsplan, können mit Verfassungsbeschwerde vor das Bundesverfassungsgericht gebracht werden.

Internationale Perspektive

Auch im Völkerrecht sowie im Recht anderer Staaten bestehen teilweise ähnliche Garantien gegen Ausnahmegerichte. Auf europäischer Ebene kennt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), insbesondere Art. 6 EMRK („Recht auf ein faires Verfahren“), Schutzinstrumente gegen willkürliche Justiz und fordert die Entscheidung durch ein allgemein zuständiges, gesetzlich eingerichtetes Gericht.

Kritik und Diskussion

Praktische Herausforderungen

In der Praxis können Organisationsänderungen bei Gerichten oder ungeplante personelle Engpässe zu Diskussionsbedarf führen, ob dem Grundsatz des gesetzlichen Richters und dem Verbot von Ausnahmegerichten hinreichend Rechnung getragen wird, etwa bei Notgerichten oder Ad-hoc-Senaten im Katastrophenfall.

Verfahrensrechtliche Kontrolle

Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot von Ausnahmegerichten in zahlreichen Entscheidungen bestätigt und ausgelegt. Maßgeblich ist dabei stets die Wahrung der abstrakt-generellen Vorausbestimmung von Zuständigkeiten und die Vermeidung persönlicher oder sachlicher Sondergerichte ohne gesetzliche Legitimation.

Zusammenfassung

Ausnahmegerichte sind nach deutschem Grundgesetz verboten (Art. 101 Abs. 1 Satz 1 GG). Ziel ist der Schutz gegen willkürliche Rechtsprechung und die Stärkung des Vertrauens in die Rechtsstaatlichkeit der Justiz. Das Prinzip des gesetzlichen Richters setzt voraus, dass die Zuständigkeit der Gerichte vorhersehbar und allgemein geregelt ist. Ausnahmegerichte, die als Einzelfallgerichte nachträglich geschaffen oder besetzt werden, unterlaufen diesen Grundsatz und sind als unzulässig anzusehen.

Weiterführende Literatur und Rechtsprechung

  • Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 101
  • Gerichtsverfassungsgesetz (GVG)
  • Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE)
  • Dreher, Heinrich: „Der gesetzliche Richter“, in: Handbuch des Verfassungsrechts
  • Papier, Hans-Jürgen: „Vom Sinn und Unsinn der Trennung zwischen Sonder- und Ausnahmegerichten“, NJW 2003, 1054 f.

Siehe auch:

  • Gesetzlicher Richter
  • Gerichtsverfassung
  • Rechtsstaatsprinzip
  • Europäische Menschenrechtskonvention

Kategorie: Deutsches Prozessrecht | Gerichtsorganisation | Grundrechte

Häufig gestellte Fragen

Welche Bedeutung kommt den Ausnahmegerichten im deutschen Justizsystem zu?

Ausnahmegerichte sind gemäß Artikel 101 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) verboten. Der Gesetzgeber hat mit dieser Regelung einen zentralen Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verankert: Niemand soll seinem gesetzlichen Richter entzogen werden, das heißt, für jeden Rechtsfall muss vorab bestimmt sein, welches Gericht zuständig ist. Das Verbot von Ausnahmegerichten dient in erster Linie dem Schutz des Bürgers vor willkürlicher Gerichtsbarkeit und gewährleistet, dass Entscheidungen durch unabhängige und im Vorhinein bestimmte Gerichte getroffen werden. Dadurch wird die Objektivität und Unparteilichkeit der richterlichen Entscheidung gewahrt und politisch motivierte Eingriffe in den Justizbetrieb verhindert. Ausnahmegerichte sind insbesondere mit der Willkürjustiz autoritärer Systeme, wie etwa bei den Sondergerichten im Nationalsozialismus, assoziiert und sollen in einem demokratischen Rechtsstaat dauerhaft ausgeschlossen werden.

Wann liegt ein Verstoß gegen das Verbot der Ausnahmegerichte vor?

Ein Verstoß gegen das Verbot der Ausnahmegerichte liegt dann vor, wenn ein Gericht errichtet oder in Anspruch genommen wird, das speziell zur Entscheidung über einen bestimmten Einzelfall oder einen bestimmten Personenkreis im Nachhinein geschaffen wurde und somit nicht im ordentlichen Instanzenzug oder gemäß der im Vorfeld bestehenden gesetzlichen Regelungen tätig wird. Auch wenn einem bestehenden Gericht nachträglich Kompetenzen entzogen oder zugewiesen werden, um einen konkreten Fall zu beeinflussen, kann dies einen Verstoß darstellen. Maßgeblich ist, dass der „gesetzliche Richter“ nach allgemeinen Regeln – also unabhängig vom Einzelfall – zuständig sein muss. Das Prinzip der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeit ist essenziell: Sie darf nicht ad hoc geschaffen oder manipuliert werden.

Wie grenzt sich ein Ausnahmegericht von einem Spezialgericht ab?

Ein Spezialgericht ist ein regulär eingerichtetes Gericht mit einer besonderen sachlichen Zuständigkeit, beispielsweise Arbeitsgerichte, Verwaltungsgerichte oder Sozialgerichte, deren Zuständigkeit auf bestimmten Gesetzesgrundlagen beruht und für bestimmte Streitgegenstände geschaffen wurde. Sie sind Teil der regelmäßigen Gerichtsorganisation. Ein Ausnahmegericht hingegen ist ein willkürlich eingerichtetes Gericht, das außerhalb dieses Systems im Hinblick auf einen Spezialfall oder eine Personengruppe geschaffen wird oder unbefugt Entscheidungsbefugnisse erhält, ohne dass eine allgemeine gesetzliche Grundlage im Vorhinein besteht. Während Spezialgerichte also zulässig und notwendig für die differenzierte Wahrnehmung der Aufgaben in der Justiz sind, sind Ausnahmegerichte aus rechtsstaatlichen Gründen verboten.

Wer kontrolliert die Einhaltung des Verbots der Ausnahmegerichte?

Die Kontrolle über die Einhaltung des Verbots obliegt in erster Linie dem Bundesverfassungsgericht. Jeder, der sich einer Verletzung seines Rechts auf den gesetzlichen Richter ausgesetzt sieht, kann gegen gerichtliche Entscheidungen mit der Verfassungsbeschwerde vorgehen. Außerdem sind alle staatlichen Stellen und Gerichte selbst verpflichtet, das Verbot der Ausnahmegerichte zu beachten und die Zuständigkeitsregeln entsprechend auszulegen und anzuwenden. Auch die europäische Rechtsprechung und internationale Menschenrechtsabkommen, wie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), enthalten vergleichbare Regelungen zur Sicherung der Unabhängigkeit und Vorhersehbarkeit der Justiz.

Können Sondergerichte in besonderen Ausnahmezuständen zulässig sein?

Selbst in Ausnahme- oder Notstandssituationen, wie sie etwa durch innere Unruhen oder Kriegsrecht entstehen können, bleibt das Verbot von Ausnahmegerichten weitgehend bestehen. Das Grundgesetz sieht keine Ausnahmen vom Verbot in solchen Lagen vor. Spezielle Regelungen für Notstandssituationen, wie im Verteidigungsfall, betreffen die Organisation und Zuständigkeit bestehender Gerichte, aber nicht die Schaffung beliebiger Ausnahmegerichte. Gerichte dürfen auch dann nur auf Grundlage bestehender Gesetze mit vorher festgelegter Zuständigkeit tätig werden. Jegliche Abweichung hiervon würde einen fundamentalen Eingriff in das Rechtsstaatsprinzip darstellen und kann nicht durch einfaches Gesetz legitimiert werden.

Welche historischen Beispiele gab es für Ausnahmegerichte in Deutschland?

Historisch betrachtet sind Ausnahmegerichte insbesondere mit den Sondergerichten im Deutschen Kaiserreich in Kriegszeiten und vor allem mit den berüchtigten Volksgerichtshöfen sowie den Sondergerichten des Nationalsozialismus verbunden. Diese Gerichte hatten häufig keinen gesetzlichen Instanzenzug, handelten außerhalb des kodifizierten Verfahrensrechts und unterlagen massiven politischen Einflüssen. Die Erfahrungen mit diesen Ausnahmegerichten haben nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs maßgeblich zur klaren Verankerung des Verbots in der deutschen Verfassung geführt, um Willkür, Missbrauch der Justiz und politische Verfolgung künftig zu verhindern.

Welche rechtlichen Konsequenzen hat die Einrichtung eines Ausnahmegerichts?

Die Einrichtung oder Anrufung eines Ausnahmegerichts ist nach dem Grundgesetz rechtswidrig und hat erhebliche rechtliche Konsequenzen. Prozesshandlungen und Urteile von Ausnahmegerichten sind grundsätzlich nichtig. Rechtsstaatlich gebotene Verfahren können nicht durch sie ersetzt werden, und die Betroffenen haben Anspruch auf Wiederaufnahme und Prüfung ihrer Verfahren vor dem zuständigen gesetzlichen Richter. Verantwortliche Amtsträger machen sich unter Umständen auch strafbar, beispielsweise wegen Rechtsbeugung (§ 339 StGB) oder Amtspflichtverletzung. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, verfassungsrechtliche Klagen mit Aussicht auf Erfolg durchzusetzen.