Begriff und Grundprinzip der Assisen
Assisen bezeichnen eine besondere Form des Strafgerichts für schwerste Straftaten, bei der in der Regel neben professionellen Richterinnen und Richtern auch zufällig ausgewählte, zur Unabhängigkeit verpflichtete Laien (Geschworene) an der Entscheidung über Schuld und häufig auch über die Strafhöhe mitwirken. Der Begriff wird in mehreren europäischen Rechtsordnungen verwendet und steht traditionell für ein nicht dauerhaft tagendes, sondern zu bestimmten Sitzungsperioden zusammentretendes Gericht, das besonders bedeutende oder schwerwiegende Strafsachen verhandelt.
Historische Entwicklung
Mittelalterliche Wurzeln und Assizes in England
Die Bezeichnung geht auf historische Gerichtsreisen zurück, bei denen königliche Richter auf festgelegten Routen Straf- und Zivilsachen verhandelten. Diese sogenannten Assizes prägten über Jahrhunderte die Organisation schwerer Strafverfahren in England und Wales. Sie wurden im 20. Jahrhundert durch modernere, permanent eingerichtete Gerichte abgelöst.
Kontinentaleuropäische Ausprägungen
In Frankreich, Belgien, Luxemburg und Italien entwickelte sich eine eigenständige Form der Assisen, die vor allem als Schwurgerichte für Kapitalverbrechen dienen. Charakteristisch ist die Mitwirkung von Laien gemeinsam mit professionellen Richterinnen und Richtern, die in einem formalisierten Verfahren über Schuld und Strafe entscheiden.
Entwicklung im deutschsprachigen Raum
Im deutschsprachigen Raum war der Begriff historisch verbreitet, etwa in Form von Assisenwochen oder Assisenhöfen, wurde aber im Laufe der Zeit durch ständige Strafkammern und Schwurgerichte abgelöst. Heute wird der Begriff zumeist im Zusammenhang mit den Nachbarstaaten verwendet, in denen Assisen weiterhin bestehen.
Zuständigkeit und Aufgaben
Sachliche Zuständigkeit
Assisen verhandeln typischerweise die schwersten Formen von Kriminalität, etwa Tötungsdelikte, besonders schwere Gewalttaten, groß angelegte organisierte Kriminalität oder Staatsschutzdelikte. Welche Straftaten genau erfasst sind, bestimmt sich nach der jeweiligen nationalen Zuständigkeitsordnung.
Funktion im Strafverfahren
Die Assisen führen die Hauptverhandlung durch, klären den Sachverhalt auf, würdigen Beweise und entscheiden über die Schuldfrage. In vielen Systemen wirken an der Strafzumessung sowohl Geschworene als auch professionelle Richterinnen und Richter mit, teils gemeinsam, teils in unterschiedlichen Rollen.
Zusammensetzung und Organisation
Mitwirkung von Laien
Die Laienbeteiligung soll gesellschaftliche Wertvorstellungen in die Entscheidung einfließen lassen und die Legitimation der Strafrechtspflege stärken. Geschworene werden zumeist aus allgemeinen Bevölkerungsverzeichnissen nach Zufalls- und Auswahlkriterien bestimmt, müssen unparteiisch sein und unterliegen der Verschwiegenheit über Beratungen.
Professionelle Richterinnen und Richter
Professionelle Richterinnen und Richter leiten das Verfahren, erteilen rechtliche Hinweise, treffen Verfahrensentscheidungen und wirken an der Urteilsfindung mit. Sie sichern die Einhaltung der Verfahrensregeln, wachen über die Fairness der Beweisaufnahme und strukturieren die Beratung.
Sitzungsweise Tätigkeit
Assisen tagen traditionell in Sitzungsperioden. Ihre Organisation erfordert besondere Vorbereitung, etwa die Ladung von Geschworenen, Zeuginnen und Zeugen sowie Sachverständigen und die logistische Planung längerer Verhandlungstage.
Öffentlichkeit und Sprache
Verhandlungen sind grundsätzlich öffentlich, können aber aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes, der öffentlichen Sicherheit oder zum Schutz minderjähriger Beteiligter teilweise beschränkt werden. Die Verfahrenssprache richtet sich nach dem jeweiligen Staat und kann in mehrsprachigen Ländern variieren.
Verfahrensablauf vor den Assisen
Anklageerhebung und Zuweisung
Ein Verfahren erreicht die Assisen in der Regel nach einer besonderen Zuweisungsentscheidung einer Vorinstanz oder Anklagebehörde. Vorbereitende Instanzen prüfen Beweislage und Zuständigkeit und entscheiden, ob ein hinreichender Tatverdacht für die Verhandlung vor den Assisen besteht.
Auswahl der Geschworenen
Die Auswahl erfolgt in mehreren Schritten: Zufallsauswahl aus Registern, Ladung, Prüfung von Ablehnungs- und Befangenheitsgründen sowie Vereidigung. Ziel ist ein unparteiisches, vielfältiges und gesetzeskonformes Laiengremium.
Hauptverhandlung und Beweisaufnahme
Die Hauptverhandlung umfasst Eröffnungsbefragungen, Beweisaufnahme mit Zeuginnen und Zeugen, Sachverständigen, Urkunden und Augenscheinen, die Anhörung der angeklagten Person sowie Vorträge der Verfahrensbeteiligten. Die Beweiswürdigung ist frei, folgt aber festgelegten Grundsätzen wie Unmittelbarkeit, Mündlichkeit und Waffengleichheit.
Beratung, Abstimmung und Urteilsbegründung
Nach Schlussvorträgen und letzten Worten beraten Geschworene und professionelle Richterinnen und Richter getrennt oder gemeinsam, je nach nationaler Regelung. Entscheidungen über die Schuldfrage werden in der Regel mit qualifizierter Mehrheit getroffen. Die Begründung des Urteils muss heute in vielen Systemen nachvollziehbar dokumentiert sein, um Transparenz und Überprüfbarkeit zu gewährleisten.
Rechtsmittel
Rechtsmittelmöglichkeiten unterscheiden sich zwischen den Staaten. Einige sehen eine volle Überprüfung von Schuld- und Strafausspruch durch eine höhere Instanz vor, andere beschränken das Rechtsmittel vor allem auf Rechtsfragen. Zusätzlich kann in vielen Ländern eine Überprüfung durch ein oberstes Gericht auf Rechtsfehler stattfinden.
Rechtsstellung der Beteiligten
Angeschuldigte oder angeklagte Person
Die angeklagte Person genießt die Unschuldsvermutung und prozessuale Schutzrechte, darunter das Recht auf Verteidigung, Aussagefreiheit, Anwesenheit in der Hauptverhandlung und auf Befragung von Belastungszeugen. Einschränkungen dieser Rechte sind nur in engen, gesetzlich vorgesehenen Grenzen möglich.
Staatsanwaltschaft
Die Staatsanwaltschaft vertritt das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung, trägt den Anklagevorwurf vor und beantragt Beweise. Sie unterliegt der Pflicht zur Objektivität und hat auch entlastende Umstände zu berücksichtigen.
Nebenklage und Zivilparteien
In einigen Rechtsordnungen können Verletzte als Nebenklägerinnen und Nebenkläger oder Zivilparteien auftreten, eigene Anträge stellen und Ansprüche auf Schadensausgleich im Strafverfahren geltend machen.
Zeuginnen, Zeugen und Sachverständige
Zeuginnen, Zeugen und Sachverständige tragen mit ihren Aussagen zur Sachverhaltsaufklärung bei. Ihre Anhörung folgt besonderen Regeln zur Wahrheitspflicht, zur Befragung und zum Schutz sensibler Informationen.
Besonderheiten in ausgewählten Ländern
Frankreich (Cour d’assises)
Die Cour d’assises verhandelt Verbrechen mit hoher Strafdrohung. Sie ist als gemischtes Gericht organisiert: professionelle Richterinnen und Richter entscheiden gemeinsam mit Laien über Schuld und Strafe. In den vergangenen Jahren wurden ergänzend besondere Strafkammern für bestimmte schwere Delikte geschaffen, die ohne Geschworene entscheiden; die Cour d’assises bleibt für die schwersten Fälle zuständig.
Belgien (Cour d’assises / Hof van assisen)
In Belgien ist die Assisen zuständig für besonders schwerwiegende Taten, wenn die Sache an sie verwiesen wird. Ein Geschworenengericht befindet über die Schuldfrage; an der Strafzumessung wirken professionelle Richterinnen und Richter mit. Die Überprüfungsmöglichkeiten sind teils auf Rechtsfragen konzentriert; Reformen haben die Begründungspflichten und unter bestimmten Voraussetzungen auch weitergehende Überprüfungen gestärkt.
Italien (Corte d’Assise)
Die Corte d’Assise entscheidet über besonders schwere Straftaten wie Tötungsdelikte und bestimmte Staatsschutzdelikte. Sie ist mit professionellen Richterinnen und Richtern sowie beisitzenden Laien besetzt. Eine eigene Berufungsinstanz (Corte d’Assise d’Appello) überprüft Entscheidungen umfassend; darüber hinaus ist eine weitere Kontrolle durch das oberste Gericht auf Rechtsfragen möglich.
Luxemburg (Cour d’assises)
Auch in Luxemburg besteht eine Cour d’assises für Verbrechen mit hoher Strafandrohung. Zusammensetzung und Verfahren orientieren sich an den Grundprinzipien der Laienbeteiligung und der gemischten Entscheidung über Schuld und Strafe.
Vereinigtes Königreich und Irland (historisch)
Die historischen Assizes wurden im Vereinigten Königreich durch moderne, ständige Gerichte ersetzt. In Irland übernahm das heutige Gerichtssystem die Aufgaben der früheren Assizes. Der Begriff wird dort nur noch historisch verwendet.
Bedeutung und aktuelle Entwicklungen
Assisen stehen für demokratische Teilhabe an der Strafrechtspflege und für besondere Sorgfalt bei schwersten Straftaten. Zugleich werden sie fortlaufend reformiert, um Verfahrensdauer, Begründungstiefe und Überprüfbarkeit zu verbessern. Entwicklungen betreffen insbesondere die Transparenz von Urteilsgründen, die Ausgestaltung der Laienmitwirkung, den Einsatz spezialisierter Strafkammern für bestimmte Deliktsgruppen sowie organisatorische Modernisierung, etwa die digitale Aktenführung und audiovisuelle Vernehmungen.
Abgrenzungen
Unterschied zu Schwurgerichten und großen Strafkammern
Assisen sind traditionell als eigene Gerichtsbarkeit für Verbrechen konzipiert, oft mit periodischer Tätigkeit, umfangreicher Laienbeteiligung und besonderen Zuweisungswegen. Schwurgerichte und große Strafkammern in anderen Ländern arbeiten demgegenüber als dauerhaft eingerichtete Spruchkörper innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Die funktionale Parallele liegt in der Zuständigkeit für schwere Straftaten; Organisation und Verfahren unterscheiden sich jedoch.
Verhältnis zu anderen Strafgerichten
Assisen existieren neben den regulären Strafgerichten, die leichtere oder mittelschwere Fälle verhandeln. Je nach Staat werden Grenzfälle durch Zuständigkeitskataloge, Strafrahmen oder Verweisungsentscheidungen zugeordnet.
Häufig gestellte Fragen
Was sind Assisen?
Assisen sind Strafgerichte für schwerste Straftaten, bei denen neben professionellen Richterinnen und Richtern auch Laien als Geschworene mitwirken. Sie entscheiden über Schuld und häufig auch über die Strafhöhe und tagen traditionell in gesonderten Sitzungsperioden.
Welche Straftaten fallen typischerweise in die Zuständigkeit der Assisen?
Typisch sind Tötungsdelikte, besonders schwere Gewalttaten, große organisierte Kriminalität oder bestimmte Staatsschutzdelikte. Die genaue Abgrenzung variiert nach nationalem Recht.
Gibt es vor den Assisen ein Rechtsmittel?
Ja, jedoch in unterschiedlicher Ausgestaltung. Manche Staaten erlauben eine umfassende Überprüfung von Schuld und Strafe, andere beschränken das Rechtsmittel vor allem auf Rechtsfragen. Häufig ist zusätzlich eine Kontrolle durch ein oberstes Gericht auf Rechtsfehler möglich.
Wer entscheidet über die Strafe?
In vielen Ländern erfolgt die Strafzumessung durch professionelle Richterinnen und Richter gemeinsam mit den Geschworenen. Die genaue Verteilung der Zuständigkeiten richtet sich nach dem jeweiligen System.
Wie werden Geschworene ausgewählt?
Geschworene werden in mehreren Stufen aus Bevölkerungsregistern ausgelost, geladen und auf Befangenheit geprüft. Sie legen einen Eid oder ein Gelöbnis ab, unparteiisch zu entscheiden und Stillschweigen über Beratungen zu wahren.
Gibt es heute noch Assisen in Deutschland, Österreich oder der Schweiz?
Der Begriff wird dort heute überwiegend historisch verwendet. Die Aufgaben werden durch ständige Strafkammern und Schwurgerichte wahrgenommen. Assisen bestehen weiterhin unter anderem in Frankreich, Belgien, Luxemburg und Italien.
Worin unterscheidet sich ein Assisengericht von einem Schwurgericht?
Beide befassen sich mit schweren Straftaten und binden Laien ein. Assisen sind historisch als eigene, häufig periodisch tagende Gerichte organisiert; Schwurgerichte sind meist dauerhafte Spruchkörper innerhalb des regulären Gerichtssystems. Die konkrete Ausgestaltung hängt vom jeweiligen Staat ab.
Sind Verhandlungen vor den Assisen öffentlich?
Grundsätzlich ja. Ausnahmen sind möglich, etwa zum Schutz der Privatsphäre, der öffentlichen Sicherheit oder minderjähriger Beteiligter. Einzelheiten ergeben sich aus den nationalen Verfahrensregeln.