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Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung


Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung

Das Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung ist ein zentrales Begriffspaar im deutschen Strafrecht, das den Übergang vom straflosen strafrechtlichen Vorbereitungsstadium in das strafbare Versuchsstadium markiert. Es beschreibt den Moment, in dem ein Täter aus der Sphäre der Vorbereitung herausgetreten ist und typische Ausführungshandlungen vornimmt, die unmittelbar auf die Verwirklichung eines Straftatbestandes abzielen. Die präzise Abgrenzung und Definition dieses Begriffs ist wesentlich für die Strafbarkeit von Versuchsdelikten gemäß §§ 22 ff. Strafgesetzbuch (StGB).


Bedeutung im Strafrecht

Grundprinzip des strafbaren Versuchs

Im deutschen Strafrecht wird zwischen der straflosen Vorbereitung und dem strafbaren Versuch einer Straftat unterschieden. Gemäß § 22 StGB beginnt der strafbare Versuch „sobald der Täter nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt“. Somit ist das Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung ein notwendiges Erfordernis, um das Versuchsstadium zu erreichen.

Dogmatische Einordnung

Das Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung stellt die Schnittstelle zwischen Vorbereitung und Versuch dar. Rechtspolitisch dient diese Grenzziehung dem Schutz vor zu früher Strafbarkeit (Tätigkeitssphäre-Verbot), garantiert jedoch ein rechtzeitiges staatliches Einschreiten vor einer tatsächlichen Rechtsgutverletzung.


Voraussetzungen des „Ansetzens“

Subjektive Komponente: Vorstellung des Täters

Voraussetzung für das Ansetzen ist die subjektive Vorstellung des Handelnden. Maßgeblich ist, wie der Täter sich das Tatgeschehen im Moment des Handlungsbeginns vorstellt (Vorstellungshorizont), unabhängig davon, ob diese zielgerichtet, irrig oder abwegig ist.

Objektive Komponente: äußere Handlung

Objektiv verlangt das Ansetzen ein unmittelbares Handeln zur Tatbestandsverwirklichung. Hierbei muss die Handlung so dicht an die eigentliche Tatbestandsverwirklichung heranreichen, dass deren Gefährdung nach allgemeiner Lebensauffassung objektiv gegeben ist; der Täter überschreitet dabei die Schwelle zum „Jetzt-geht-es-los“.


Theorien zum Ansetzen

Für die Bestimmung, wann ein unmittelbares Ansetzen vorliegt, wurden verschiedene Theorien entwickelt, die in Literatur und Rechtsprechung diskutiert werden.

Formal-objektive Theorie

Nach der formal-objektiven Theorie ist ein Ansetzen dann gegeben, wenn der Täter eine Tatbestandsverwirklichung bereits begonnen hat, z. B. Schussabgabe beim Tötungsdelikt. Diese Theorie wird wegen ihrer Starrheit und mangelnden Flexibilität vielfach kritisiert.

Materiell-objektive Theorie

Diese Theorie stellt auf eine konkrete Gefährdung des Rechtsguts durch die Handlung des Täters ab. Ein Ansetzen liegt vor, wenn das geschützte Rechtsgut unmittelbar gefährdet wird. Diese Sichtweise wird oft als zu restriktiv bewertet, weil sie die Versuchsstrafbarkeit zu sehr einschränkt.

Subjektiv-objektive Theorie (h.M.)

In der herrschenden Auffassung wird unter Berücksichtigung sowohl objektiver als auch subjektiver Aspekte beurteilt, ob ein Ansetzen vorliegt. Maßgeblich ist, ob der Täter nach seiner Vorstellung die Schwelle zum „jetzt-geht-es-los“ überschritten und objektiv eine Handlung vorgenommen hat, die unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung führt.


Maßgebliche Rechtsprechung

Die Abgrenzung des Ansetzens erfolgt einzelfallbezogen unter Heranziehung der Umstände des jeweiligen Geschehensablaufs. Die höchstrichterliche Rechtsprechung stellt dabei darauf ab, ob die Handlung so eng mit der tatbestandsmäßigen Ausführungshandlung verknüpft ist, dass ohne wesentliche Zwischenschritte mit der Tatvollendung zu rechnen ist.

Beispielhafte Entscheidungen

  • BGHSt 6, 46: Schon das Umklammern des Opfers bei einem geplanten Sexualdelikt stellt ein unmittelbares Ansetzen dar.
  • BGHSt 27, 319: Bei einem Erpressungsversuch ist das schädigende Verlangen bereits das Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung.

Zweck und Funktion des Ansetzens

Das Abgrenzungskriterium des Ansetzens dient mehreren Zwecken:

  • Rechtssicherheit: Es soll klare Maßstäbe für Staatsanwaltschaften und Gerichte schaffen, ab wann ein Verhalten strafrechtlich relevant wird.
  • Schutz vor Frühbestrafung: Die Gefährdung von Freiheitsrechten durch zu frühe Strafbarkeit wird vermieden.
  • Effektiver Opferschutz: Der Staat kann frühzeitig gegen Gefahren für geschützte Rechtsgüter einschreiten.

Praktische Fallgruppen

Versuchsbeginn bei verschiedenen Deliktsformen

Das Erfordernis des Ansetzens wird bei verschiedenen Deliktsarten unterschiedlich konkretisiert:

Bei Erfolgsdelikten

Das Ansetzen liegt vor, wenn der Täter eine Handlung unmittelbar vornimmt, die nach seiner Vorstellung den tatbestandlichen Erfolg herbeiführen soll, z. B. das Abfeuern eines Schusses bei einer geplanten Tötung.

Bei Unterlassungsdelikten

Hier wird das Versuchsstadium mit dem Zeitpunkt erreicht, zu dem der Täter nach seiner Vorstellung hätte handeln müssen, dies aber unterlässt.

Bei mehraktigen Delikten

Bei Delikten mit mehreren Ausführungshandlungen (z. B. Raub als einheitliches Geschehen aus Nötigung und Wegnahme) ist auf den Gesamtplan und die tatbestandstypische Handlungskombination abzustellen.


Abgrenzung: Vorbereitungshandlung und Versuch

Für die Strafbarkeit müssen Vorbereitungshandlungen und Verhalten, das dem Versuch zuzuordnen ist, genau abgegrenzt werden. Umfassend straflos bleiben rein vorbereitende Tätigkeiten (z. B. Waffenkauf, Spähaktionen), es sei denn, das Gesetz sieht eine explizite Strafbarkeit der Vorbereitung vor (z. B. § 30 Abs. 2 StGB).


Ansetzen und Rücktritt vom Versuch

Das Ansetzen eröffnet das Versuchsstadium und ermöglicht dadurch auch einen strafbefreienden Rücktritt gemäß § 24 StGB. Erst nachdem ein Ansetzen erfolgt ist, kann der Täter durch freiwilliges Aufgeben der weiteren Tatausführung strafbefreit werden.


Internationale Bezüge

Auch andere Strafrechtsordnungen kennen vergleichbare Schwellen zum Versuchsbeginn, wobei die konkreten Voraussetzungen im Detail variieren. In Österreich und der Schweiz bestehen ähnlich strukturierte Abgrenzungen (z. B. § 15 StGB in Österreich).


Zusammenfassung

Das Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung ist eine Schlüsselvoraussetzung für die Versuchsstrafbarkeit im deutschen Strafrecht. Es markiert den Übergang vom straflosen Vorbereitungsstadium zum strafbaren Versuch, indem der Täter nach seiner Vorstellung und objektiv erkennbar Handlungen vornimmt, die unmittelbar auf die Tatbestandsverwirklichung abzielen. Die genaue Feststellung des Versuchsbeginns ist von zentraler Bedeutung für die korrekte Anwendung des Strafrechts und unterliegt einer sorgfältigen Einzelfallbetrachtung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung und anerkannter Theorien.

Häufig gestellte Fragen

Wann beginnt das unmittelbare Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung im deutschen Strafrecht?

Das unmittelbare Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung markiert den Übergang vom straflosen Vorbereitungsstadium zur strafbaren Versuchsstrafbarkeit (§ 22 StGB). Die rechtliche Beurteilung des Ansetzens erfolgt nach einer Einzelfallbetrachtung und ist davon abhängig, wie weit der Täter aus der Sicht eines objektiven Beobachters bereits zur Realisierung des gesetzlichen Tatbestandes vorgedrungen ist. Maßgeblich ist, ob der Täter subjektiv die Schwelle zum „Jetzt-geht’s-los“ überschritten und objektiv so zur Tat geschritten ist, dass sein Verhalten ohne weitere Zwischenschritte in die Tatbestandserfüllung einzumünden droht. Relevant wird das besonders bei mehraktigen Delikten, bei denen Einhandlungen oft noch dem Vorbereiten zuzurechnen sind. Grundsätzlich setzt das unmittelbare Ansetzen dann ein, wenn der Täter mit der Tatbestandsverwirklichung beginnt und bereits eine unmittelbare Realisierungsgefahr für das dazu gehörende Rechtsgut besteht. Die Anforderungen variieren je nach Deliktstypus: Bei Erfolgsdelikten muss das Handeln des Täters in unmittelbaren räumlichen oder zeitlichen Zusammenhang mit der Tatbestandserfüllung stehen; bei den sogenannten Nähe- oder Entferntheitsdelikten wird auf die Deliktsstruktur und die konkrete Angriffssituation abgestellt.

Welche Bedeutung kommt dem Tatentschluss beim Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung zu?

Der Tatentschluss ist vorausgehende Voraussetzung für das unmittelbare Ansetzen, reicht für eine Versuchsstrafbarkeit aber noch nicht aus. Erst wenn zum fest gefassten Entschluss auch objektiv erkennbare Ausführungshandlungen hinzukommen, die in die unmittelbare Nähe der Tatbestandsverwirklichung rücken, liegt ein strafbarer Versuch vor. Das bedeutet: Das bloße Wollen einer Straftat oder ein Planungsstadium stellen noch keinen Strafbarkeitsbeginn dar. Das Ausführungsgeschehen muss nach Tatentschluss in ein Stadium übergehen, in dem das Opfer oder ein sonstiger Beobachter die Rechtsgutgefährdung als konkret drohend wahrnimmt. In der rechtlichen Prüfung trennen Juristen daher strikt die innerliche Tatbestandsvollendung (Tatentschluss) von der äußerlich sichtbaren Schwelle (unmittelbares Ansetzen).

Welche speziellen Problemfälle können beim Versuchsbeginn im mehraktigen Geschehen auftreten?

Gerade bei Delikten mit mehreren Handlungsabschnitten, wie bei Diebstahl, Raub oder Betrug, ist die Grenzziehung zwischen Vorbereitung und Versuchsbeginn besonders schwierig. Hier stellen sich unter anderem Fragen, ob bereits das Betreten eines Tatobjekts (zum Beispiel eines Hauses beim Einbruch) oder erst das eigentliche Hantieren am Schutzobjekt (etwa das Knacken eines Schlosses) als unmittelbares Ansetzen gilt. Die herrschende Meinung verlangt, dass das Handeln unmittelbar auf die Tatbestandsverwirklichung bezogen sein muss und die Ausführungshandlung die tatbestandsmäßige Gefahr unmittelbar entstehen lässt. Wird etwa bei einem Diebstahl ein Fenster aufgebrochen, um danach stehlen zu können, so ist das Öffnen des Fensters bereits als unmittelbares Ansetzen zu werten, wenn keine weiteren wesentlichen Vorbereitungshandlungen mehr erforderlich sind.

Wie verhalten sich Versuchsbeginn und Rücktrittsmöglichkeiten zueinander?

Der Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens hat direkte Auswirkungen auf die Rücktrittsmöglichkeit nach § 24 StGB, da nur im Versuchsstadium, nicht jedoch im Vorbereitungsstadium, ein strafbefreiender Rücktritt erfolgen kann. Hat der Täter die Schwelle zum Versuch überschritten, steht ihm dennoch nach § 24 StGB die Möglichkeit offen, strafbefreiend zurückzutreten, solange der Taterfolg noch nicht eingetreten ist und er gegebenenfalls zur Verhinderung des Erfolgs beiträgt. Die genaue Bestimmung des Versuchsbeginns ist daher von praktischer Relevanz für die Strafverteidigung sowie für die rechtsstaatliche Grenzziehung zwischen Straflosigkeit und Strafbarkeit.

Gelten Besonderheiten beim unmittelbaren Ansetzen bei Unterlassungsdelikten?

Auch bei Unterlassungsdelikten ist das unmittelbare Ansetzen relevant, allerdings gestaltet sich die Abgrenzung komplexer, da hier schon das Ausbleiben des rettenden Verhaltens unter bestimmten Voraussetzungen als Versuchsbeginn gewertet werden kann. Nach herrschender Meinung setzt das unmittelbare Ansetzen bei Unterlassungsdelikten in dem Moment ein, in dem der Täter objektiv und subjektiv eine Rechtspflicht zur Handlung erkennt und nicht einschreitet, obwohl der Schadenseintritt unmittelbar droht. Es reicht also nicht aus, dass eine Gefahrenlage lediglich besteht; das Nichthandeln muss vielmehr in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dem drohenden Erfolg stehen.

Gibt es Delikte, bei denen das unmittelbare Ansetzen besonders früh oder besonders spät angenommen wird?

Dies ist vor allem bei den sogenannten Fernzielsdelikten oder „molestierenden“ Delikten wie Raub oder Körperverletzung zu beobachten. Bei Delikten, bei denen das Opfer frühzeitig in konkrete Gefahr gerät, wird das unmittelbare Ansetzen oft bereits mit dem Schaffen der Gefahr (etwa beim Angriff auf eine Person oder beim Überwinden von Schutzvorrichtungen) angenommen. Hingegen kann das unmittelbare Ansetzen bei Delikten mit komplexer Vorbereitung und mehreren Handlungsabschnitten (wie bei Betrugsdelikten mit mehreren Zwischenschritten) erst relativ spät, nämlich bei den eigentlichen Täuschungshandlungen oder der Verfügungsgewalt, angenommen werden. Die Abgrenzung erfolgt stets einzelfallbezogen anhand der jeweiligen Deliktsstruktur und des sozialen Handlungssinns.

Wie wird das unmittelbare Ansetzen bei Mittätern, Teilnehmern und Versuchsdynamik beurteilt?

Beim Zusammenwirken mehrerer Personen gilt das Prinzip der Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB), wonach Mittäter auch dann bereits zum Versuch ansetzen, wenn sie im Rahmen des gemeinsamen Tatplans bereits funktionale Beiträge zur Tatbestandsverwirklichung leisten. Auch bei Anstiftern und Gehilfen gelten eigenständige Maßstäbe für das Versuchsstadium, wobei stets auf die Frage abzustellen ist, ob der Tatplan in den eigentlichen Versuch überführt wurde. Bei Beihilfe zum Versuch ist die Strafbarkeit bereits dann gegeben, wenn der Haupttäter zum Versuch ansetzt und der Gehilfe zuvor oder währenddessen unterstützend tätig wird. Die Versuchsdynamik bei mehreren Beteiligten wird nach der individuellen Beteiligungsform und dem Fortgang der Tatbegehung bestimmt.