Begriff und rechtliche Einordnung
Ein Angriffskrieg bezeichnet den völkerrechtswidrigen Einsatz bewaffneter Gewalt durch einen Staat gegen einen anderen Staat, der nicht durch anerkannte Ausnahmen wie Selbstverteidigung oder kollektive Sicherheitsmaßnahmen gedeckt ist. Zentral ist, dass der angreifende Staat die territoriale Unversehrtheit, politische Unabhängigkeit oder Souveränität eines anderen Staates verletzt. Anders als ein gewaltsamer Zwischenfall oder eine begrenzte Grenzverletzung umfasst ein Angriffskrieg regelmäßig planmäßige, zielgerichtete und auf Herrschaftsausübung oder Gebietsgewinn ausgerichtete Operationen.
Der Begriff ist sowohl im zwischenstaatlichen Ordnungsrahmen als auch im Strafrecht auf internationaler und nationaler Ebene verankert. Er verbindet zwei Ebenen: die Verantwortlichkeit von Staaten und die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Führungspersonen, die einen Angriffskrieg planen, vorbereiten, einleiten oder führen.
Völkerrechtlicher Rahmen
Grundsatz des Gewaltverbots
Der zwischenstaatliche Ordnungsrahmen verbietet die Androhung und Anwendung von Gewalt in internationalen Beziehungen. Dieses Verbot schützt die territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit von Staaten. Ein Angriffskrieg verstößt gegen diesen Grundsatz in besonders gravierender Weise.
Ausnahmen: Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit
Das Gewaltverbot kennt eng begrenzte Ausnahmen:
- Individuelle oder kollektive Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff. Die Reaktion muss notwendig und verhältnismäßig sein.
- Kollektive Sicherheitsmaßnahmen, die von den zuständigen Organen der Vereinten Nationen gebilligt werden, einschließlich Maßnahmen zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit.
- Einsatz bewaffneter Kräfte mit Zustimmung des territorial betroffenen Staates, etwa bei Ausbildungs- oder Unterstützungsmissionen.
Liegt keine dieser Ausnahmen vor, kann der Einsatz bewaffneter Gewalt die Schwelle zum Angriffskrieg überschreiten.
Humanitäre Intervention und Schutzverantwortung
Die Frage, ob ein militärisches Eingreifen ohne Zustimmung des betroffenen Staates zum Schutz der Zivilbevölkerung rechtmäßig sein kann, ist umstritten. Ohne Mandat der Vereinten Nationen besteht kein gefestigter Konsens, der eine eigenständige Rechtfertigung bietet. Einseitige Maßnahmen werden deshalb rechtlich besonders streng geprüft.
Abgrenzung zu innerstaatlichen Konflikten und hybriden Bedrohungen
Reine Bürgerkriege sind keine Angriffskriege, da sie nicht zwischen Staaten geführt werden. Komplex wird die Lage, wenn ein Staat nichtstaatliche Gruppen im Ausland in erheblicher Weise unterstützt oder hybride Mittel einsetzt. Entscheidend sind die Zurechnung solcher Handlungen zum unterstützenden Staat und die Intensität der Gewalt.
Individuelle strafrechtliche Verantwortung
Verbrechen der Aggression
Das Verbrechen der Aggression erfasst die Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung eines Angriffskriegs oder einer Handlung der Aggression durch Personen, die in der Lage sind, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken. In der Regel ist eine besonders offenkundige Verletzung des Gewaltverbots erforderlich. Erfasst werden typischerweise höchste politische oder militärische Führungsebenen.
Abgrenzung zu anderen internationalen Kernverbrechen
Angriffskrieg richtet sich gegen den Frieden und die internationale Ordnung. Davon zu unterscheiden sind:
- Kriegsverbrechen: schwere Rechtsverletzungen im bewaffneten Konflikt, etwa gegenüber Zivilpersonen oder Kriegsgefangenen.
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit: weit verbreitete oder systematische Angriffe auf die Zivilbevölkerung.
- Völkermord: Handlungen mit der Absicht, eine geschützte Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.
Diese Delikte können neben einem Angriffskrieg auftreten, sind aber rechtlich eigenständig.
Führungspersonenprinzip und Verantwortlichkeitsformen
Beim Verbrechen der Aggression gilt ein Führungspersonenprinzip: Verantwortlich sind Personen an der Staatsspitze oder mit vergleichbarer Machtposition. Verantwortlichkeit kann sich aus unmittelbarer Tatbegehung, aber auch aus Planung, Anordnung oder wesentlicher Förderung ergeben. Fragen der Immunität staatlicher Amtsträger werden im Kontext internationaler Kernverbrechen zunehmend restriktiv bewertet.
Staatenverantwortlichkeit
Völkerrechtswidrige Handlung und Zurechnung
Ein Angriffskrieg stellt eine völkerrechtswidrige Handlung dar, die dem handelnden Staat zuzurechnen ist. Die Zurechnung umfasst eigene Organe, aber auch Gruppen, die faktisch gesteuert oder kontrolliert werden. Bloße politische oder wirtschaftliche Unterstützung reicht für sich genommen nicht zwingend aus; entscheidend ist die Qualität und Intensität der Einflussnahme und der Beitrag zur Gewaltanwendung.
Rechtsfolgen: Beendigung, Nichtanerkennung, Wiedergutmachung
Rechtsfolgen umfassen die Pflicht zur Beendigung des völkerrechtswidrigen Verhaltens, die Unterlassung zukünftiger Verstöße und Formen der Wiedergutmachung. Andere Staaten sind gehalten, die aus einem Angriffskrieg resultierenden Rechtspositionen nicht anzuerkennen, etwa wenn Gebietsgewinne durch Gewalt erzwungen wurden.
Sanktionen und kollektive Reaktionen
Die Vereinten Nationen können Maßnahmen bis hin zu Sanktionen und der Ermächtigung zu Zwangsmaßnahmen beschließen. Daneben ergreifen Staaten häufig abgestufte Reaktionen wie diplomatische Schritte, wirtschaftliche Restriktionen oder Exportkontrollen, soweit diese mit den allgemeinen Regeln vereinbar sind.
Beweis- und Abgrenzungskriterien
Schwelle der bewaffneten Gewalt
Nicht jede Grenzverletzung oder jeder Zwischenfall bildet einen Angriffskrieg. Die Bewertung richtet sich nach Art, Schwere und Dauer der Gewaltanwendung und dem Kontext. Wiederholte, koordinierte und intensive Gewaltakte deuten eher auf einen Angriffskrieg hin als punktuelle Vorfälle.
Typische Handlungsformen
Als klassische Indizien gelten etwa:
- Invasion von Landstreitkräften oder militärische Besetzung fremden Territoriums,
- Bombardierungen oder der Einsatz von Waffen gegen das Gebiet eines anderen Staates,
- Seeblockaden oder der Angriff auf See- und Luftstreitkräfte eines anderen Staates,
- substantielle Unterstützung bewaffneter Gruppen, wenn diese das Ausmaß eigenständiger militärischer Operationen erreichen.
Hybrid- und Cyberoperationen
Cyberangriffe können rechtlich relevant sein, wenn ihre Wirkungen denen kinetischer Gewalt vergleichbar sind, etwa durch weitreichende Zerstörungen, Ausfälle kritischer Infrastruktur oder erhebliche Opferzahlen. Die Einordnung ist vom Einzelfall abhängig; Zurechnung und Schadensschwelle sind häufig umstritten.
Innerstaatliche Bezüge
Strafbarkeit und verfassungsrechtliche Bindungen
Viele Staaten haben die Beteiligung an einem Angriffskrieg oder der Aggression strafrechtlich erfasst, insbesondere für Personen in Führungspositionen. Zudem bestehen häufig verfassungsrechtliche Bindungen für den Einsatz der Streitkräfte, etwa Zustimmungserfordernisse oder Kontrollmechanismen, die eine rechtsstaatliche Entscheidungsschwelle sichern sollen.
Folgen im Migrations- und Flüchtlingsrecht
Angriffskriege führen regelmäßig zu Fluchtbewegungen. Bei der rechtlichen Einordnung individueller Fälle spielen Fragen nach Verfolgungsgründen, Ausschlusstatbeständen und der Beteiligung an schweren Rechtsverstößen eine Rolle. Die Beurteilung erfolgt anhand der jeweils geltenden Regelwerke und des Einzelfalls.
Geschichte und Entwicklung
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das allgemeine Gewaltverbot bekräftigt und Angriffskriege als besonders schwerwiegende Verletzung der internationalen Ordnung eingeordnet. In der Folgezeit entwickelte sich ein eigenständiges Verständnis vom Verbrechen der Aggression. Mit der Kodifizierung in internationalen Strafrechtsinstrumenten wurde die individuelle Verantwortlichkeit für die höchste Führungsebene normativ gefestigt und um prozedurale Zuständigkeitsregeln ergänzt.
Kontroversen und offene Fragen
- Reichweite der Selbstverteidigung gegenüber nichtstaatlichen Akteuren und bei fortgesetzten, grenzüberschreitenden Angriffen.
- Präventive vs. präemptive Selbstverteidigung und die Anforderungen an Unmittelbarkeit und Notwendigkeit.
- Rechtliche Bewertung humanitärer Interventionen ohne Mandat.
- Cyberoperationen und die Bestimmung der Gewalt- und Angriffsschwelle.
- Zurechnungsmaßstäbe bei hybriden Konflikten und verdeckter Einflussnahme.
- Reichweite persönlicher Immunitäten in Verfahren wegen Aggression.
Zusammenfassung
Ein Angriffskrieg ist die völkerrechtswidrige Anwendung bewaffneter Gewalt durch einen Staat gegen einen anderen Staat, die nicht durch anerkannte Ausnahmen legitimiert ist. Er zieht doppelte Verantwortlichkeit nach sich: Staatenverantwortlichkeit und individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für Führungspersonen. Die Abgrenzung hängt von Intensität, Kontext, Zurechnung und dem Vorliegen anerkannter Rechtfertigungen ab. Kollektive Sicherheitsmechanismen, innerstaatliche Kontrollen und die weitere Auslegung neuer Konfliktformen prägen die aktuelle Rechtsentwicklung.
Häufig gestellte Fragen
Was unterscheidet einen Angriffskrieg von einem „gewöhnlichen“ bewaffneten Konflikt?
Ein bewaffneter Konflikt beschreibt die tatsächliche Anwendung militärischer Gewalt. Ein Angriffskrieg ist demgegenüber die rechtliche Einordnung eines völkerrechtswidrigen Erstgebrauchs von Gewalt durch einen Staat gegen einen anderen ohne anerkannte Rechtfertigung. Er kennzeichnet somit eine besonders gravierende Verletzung der zwischenstaatlichen Ordnung.
Ist ein Angriffskrieg immer völkerrechtswidrig?
Ja. Der Begriff selbst setzt die Rechtswidrigkeit voraus. Gewaltanwendung kann nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig sein, etwa bei Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff oder aufgrund kollektiver Sicherheitsentscheidungen. Fehlen solche Rechtfertigungen, liegt ein Angriffskrieg vor.
Können nichtstaatliche Akteure einen Angriffskrieg führen?
Nichtstaatliche Akteure als solche führen keinen Angriffskrieg, da dieser die Verantwortlichkeit eines Staates voraussetzt. Unterstützt ein Staat jedoch nichtstaatliche Gruppen in einer Weise, die ihm zugerechnet werden kann und die die Schwelle intensiver Gewalt überschreitet, kann dies als Handlung der Aggression bewertet werden.
Wer ist für einen Angriffskrieg strafrechtlich verantwortlich?
Strafrechtlich erfasst sind vor allem Personen in Führungspositionen, die planen, vorbereiten, einleiten oder ausführen. Es geht um diejenigen, die das politische oder militärische Handeln eines Staates kontrollieren oder lenken können. Daneben können andere internationale Kernverbrechen gesondert verfolgt werden.
Welche Rolle spielt der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen?
Der Sicherheitsrat kann das Vorliegen einer Friedensbedrohung, eines Friedensbruchs oder einer Angriffshandlung feststellen und entsprechende Maßnahmen beschließen, von Sanktionen bis zu militärischen Maßnahmen. Seine Entscheidungen haben eine zentrale Bedeutung für die kollektive Sicherheit.
Können Cyberangriffe einen Angriffskrieg auslösen?
Cyberangriffe können rechtlich relevant sein, wenn ihre Wirkungen denen kinetischer Gewalt gleichkommen, etwa durch großflächige Zerstörungen oder lebensbedrohliche Infrastrukturausfälle. Ob die Schwelle erreicht ist, hängt von Intensität, Folgen und Zurechenbarkeit ab.
Wie wird das Vorliegen eines Angriffskriegs festgestellt?
Die Feststellung erfolgt anhand einer Gesamtbewertung von Fakten, darunter Art, Schwere, Dauer und Zielsetzung der Gewalt sowie das Fehlen anerkannter Rechtfertigungen. Internationale Organe können Bewertungen vornehmen; maßgeblich sind jedoch die konkreten Umstände und ihre rechtliche Würdigung.
Welche Folgen hat ein Angriffskrieg für Drittstaaten?
Drittstaaten können verpflichtet sein, völkerrechtswidrige Situationen nicht anzuerkennen und bestimmte Unterstützungsleistungen zu unterlassen. Zudem kommen kollektive Maßnahmen über internationale Institutionen in Betracht, etwa Sanktionen. Wirtschaftliche und sicherheitspolitische Auswirkungen sind häufig weitreichend.