Begriff und Grundlagen der Abstrakten Normenkontrolle
Die Abstrakte Normenkontrolle ist ein bedeutendes verfassungsgerichtliches Verfahren im deutschen Rechtssystem. Sie dient der vorbeugenden Kontrolle von Rechtsnormen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Durch die abstrakte Normenkontrolle prüft das Bundesverfassungsgericht, ob eine gesetzliche Vorschrift – unabhängig von einem konkreten Anlassfall – mit der Verfassung im Einklang steht. Im Gegensatz zu anderen Verfahren findet sie losgelöst von individuellen Einzelfällen und ohne unmittelbare Betroffenheit eines konkreten Rechtsubjekts statt.
Rechtsgrundlagen und Zweck
Gesetzliche Regelungen
Die abstrakte Normenkontrolle ist in Artikel 93 Absatz 1 Nr. 2 Grundgesetz (GG) sowie in den §§ 76 bis 79 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) geregelt. Nach diesen Vorschriften kann das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle entscheiden, ob Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz vereinbar ist oder, im Fall von Landesrecht, mit sonstigem Bundesrecht.
Zielsetzung
Das Verfahren zielt darauf ab, verfassungswidrige Gesetze frühzeitig festzustellen und deren Anwendung zu unterbinden. Damit wird die Rechtssicherheit gefördert und verhindert, dass rechtswidrige Vorschriften Wirkungen im Rechtsleben entfalten. Die abstrakte Normenkontrolle dient der objektiven Verfassungskontrolle, das heißt dem Schutz der Verfassung und der Wahrung ihrer Wertordnung gegenüber widersprechenden Rechtsnormen.
Voraussetzungen und Antragsberechtigung
Antragsberechtigte Organe
Anders als bei der konkreten Normenkontrolle (die durch Gerichte initiiert wird), sind zur Erhebung der abstrakten Normenkontrolle lediglich besonders legitimierte Organwalter berechtigt (§ 76 BVerfGG):
- Bundesregierung
- Landesregierungen
- Ein Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages
Andere staatliche Institutionen oder Privatpersonen können dieses Verfahren nicht einleiten.
Prüfungsgegenstand
Geprüft wird:
- Bundesrecht auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz
- Landesrecht auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz oder mit sonstigem Bundesrecht
Der Prüfungsgegenstand ist auf Normen mit Außenwirkung (sog. Rechtssatzcharakter) beschränkt. Interne Verwaltungsvorschriften oder vollzogene Rechtsakte können nicht Gegenstand einer abstrakten Normenkontrolle sein.
Verfahrensablauf der Abstrakten Normenkontrolle
Antragstellung
Das Verfahren beginnt durch einen schriftlichen Antrag der antragsberechtigten Organe. Der Antrag muss das genaue Prüfungsbegehren, die betroffene Rechtsnorm sowie die Bedenken hinsichtlich deren Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht enthalten.
Beteiligte und Stellungnahmen
Im Normenkontrollverfahren beteiligt das Bundesverfassungsgericht neben den Antragstellern und Antragsgegnern regelmäßig auch die jeweils betroffenen Verfassungsorgane und Institutionen; deren Stellungnahmen werden im Verfahren berücksichtigt.
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht prüft den Antrag umfassend. Kommt es zu dem Ergebnis, dass die angegriffene Norm mit höherrangigem Recht unvereinbar oder nichtig ist, spricht es dies im Tenor des Urteils aus. Die Entscheidung ist allgemein verbindlich (§ 31 BVerfGG).
Wirkungen der Entscheidung
Wird eine Norm durch das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt, verliert sie rückwirkend ihre Geltung. Wird die Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz festgestellt, bleibt die Vorschrift zwar grundsätzlich bestehen, das Gericht kann aber Übergangsregelungen anordnen und dem Gesetzgeber eine Frist zur Nachbesserung einräumen.
Bedeutung in der Rechtsordnung
Die abstrakte Normenkontrolle gewährleistet eine effektive und unmittelbare Kontrolle der Übereinstimmung von Normen mit dem Grundgesetz, unabhängig von individuellen Rechtsstreitigkeiten. Sie trägt zum Schutz der Verfassung, zur Klarheit der Rechtsordnung und zur Einheitlichkeit der Rechtsprechung bei. Dieses Verfahren stärkt das Prinzip der Gewaltenteilung und verhindert, dass verfassungswidrige Vorschriften fortgeltende Rechtswirkung entfalten.
Abgrenzung zu anderen Normenkontrollverfahren
Konkrete Normenkontrolle
Während die abstrakte Normenkontrolle unabhängig von einem Einzelfall erfolgt, wird die konkrete Normenkontrolle nach Artikel 100 GG durch ein Gericht angestrengt, das in einem anhängigen Verfahren Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm hat.
Normenkontrollverfahren vor den Landesverfassungsgerichten
In den Ländern existieren vergleichbare Verfahren vor den Landesverfassungsgerichten, die auf die Kontrolle von Landesrecht beschränkt sind.
Abgrenzung zur Verfassungsbeschwerde
Im Gegensatz zur Verfassungsbeschwerde, die die Verletzung individueller Grundrechte zum Gegenstand hat, dient die abstrakte Normenkontrolle ausschließlich der objektiven Kontrolle von Rechtsnormen auf ihre Verfassungskonformität.
Beispiele und Praxisrelevanz
Die abstrakte Normenkontrolle kam in der deutschen Rechtsgeschichte mehrfach zur Anwendung, beispielsweise bei der Entscheidung zur “Teilhaushaltsgesetzgebung” oder bei der Überprüfung des Paritätsgesetzes in Wahlgesetzen einzelner Bundesländer.
Durch die Möglichkeit, Normen frühzeitig und unabhängig vom konkreten Rechtsstreit kontrollieren zu lassen, kann gesetzgeberischem Fehlverhalten effektiv begegnet und der Schutz der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Prinzipien im deutschen Rechtssystem gesichert werden.
Literatur, Weblinks und weiterführende Informationen
- Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) – §§ 76 ff.
- Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland – Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG
- Bundesverfassungsgericht: Informationen zum Normenkontrollverfahren (www.bundesverfassungsgericht.de)
- Papier, Hans-Jürgen: Die abstrakte Normenkontrolle in der Praxis. In: NJW 2015, S. 1223-1230
Hinweis: Sämtliche Darstellungen dienen der Information und spiegeln den Stand der rechtlichen Entwicklung bis zum Jahr 2024 wider. Für die Anwendung im Einzelfall ist auf die jeweils aktuelle Rechtslage und Rechtsprechung abzustellen.
Häufig gestellte Fragen
Wer ist antragsberechtigt im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle?
Antragsberechtigt im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 BVerfGG sind grundsätzlich die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages. Eine hohe Hürde stellen hierbei insbesondere die Anforderungen für Anträge durch Mitglieder des Bundestags dar, da hier mindestens ein Viertel der gesetzlichen Mitgliederzahl zusammenkommen muss, um den Antrag stellen zu können. Einzelne Abgeordnete oder Fraktionen sind damit nicht allein antragsberechtigt. Darüber hinaus kann eine Landesregierung nur die Überprüfung von Bundesrecht initiieren und umgekehrt; eine Kontrolle des eigenen Landesrechts durch die betreffende Landesregierung ist nicht möglich.
Welche Rechtsnormen können zum Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle gemacht werden?
Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle können ausschließlich Rechtsnormen, das heißt formelle oder materielle Gesetze des Bundes oder der Länder, sein. Dabei kommen alle Arten von Gesetzen infrage, auch Rechtsverordnungen oder Satzungen, soweit sie unter Gesetzesrang stehen und allgemeine Verbindlichkeit entfalten. Nicht jedoch können Einzelakte, Verwaltungsakte oder rein innerdienstliche Vorschriften vom Verfahren der abstrakten Normenkontrolle erfasst werden. Der Zweck der Normenkontrolle ist es, die generelle Vereinbarkeit von Normen mit höherrangigem Recht – insbesondere dem Grundgesetz – festzustellen, ohne dass es auf einen konkreten Anwendungsfall oder eine Betroffenheit des Antragstellers ankommt.
Welche Bedeutung hat das objektive Prüfungsmaßstab bei der abstrakten Normenkontrolle?
Im Unterschied zu Individualverfahren prüft das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle ausschließlich im Verhältnis der Norm zum höherrangigen Recht, insbesondere zum Grundgesetz. Die Überprüfung erfolgt umfassend und objektiv, unabhängig von der subjektiven Betroffenheit eines Antragstellers. Maßgeblich ist hierbei insbesondere das Grundgesetz, gegebenenfalls in Verbindung mit anderen Bundesgesetzen oder dem Europarecht. Das Gericht ist nicht auf die im Antrag gerügten Beanstandungen beschränkt, sondern kann die angegriffene Norm in vollem Umfang an allen relevanten verfassungsrechtlichen Maßstäben messen.
Welche Wirkungen entfaltet eine stattgebende Entscheidung bei der abstrakten Normenkontrolle?
Stellt das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz fest, so erklärt es die Vorschrift mit der Entscheidung gemäß § 78 BVerfGG grundsätzlich für nichtig. Die Nichtigkeitswirkung erfasst die Norm ex tunc, also von Anfang an, sofern das Gericht nicht ausnahmsweise eine abweichende Regelung trifft. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist für alle anderen Gerichte und Behörden bindend und entfaltet Gesetzeskraft. Es ist in der Praxis auch möglich, dass das Gericht die Norm zwar als verfassungswidrig erkennt, aber deren Weitergeltung bis zu einer Neuregelung anordnet, wenn dies zur Wahrung wichtiger Interessen erforderlich erscheint.
Wie unterscheidet sich die abstrakte Normenkontrolle von der konkreten Normenkontrolle?
Die abstrakte Normenkontrolle ist von der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 GG, § 80 BVerfGG) hinsichtlich Anknüpfungspunkt, Zielsetzung und Beteiligtenkreis zu unterscheiden. Während bei der abstrakten Normenkontrolle ein staatliches Organ unabhängig von einem konkreten Rechtsstreit die Vereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz überprüfen lassen kann, erfolgt die konkrete Normenkontrolle im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens, bei dem ein Gericht Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes hegt. Antragsberechtigt im konkreten Verfahren ist das jeweilige Gericht, nicht die Verfahrensbeteiligten selbst. Im Unterschied dazu ist bei der abstrakten Normenkontrolle kein konkreter Rechtsfall erforderlich, so dass sie eine präventive Sicherung der verfassungsmäßigen Ordnung ermöglicht.
Ist die Aussetzung des Gesetzesvollzugs bis zur Entscheidung im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle möglich?
Grundsätzlich besteht keine automatische Aussetzung der Anwendung einer angegriffenen Norm während der Dauer des Verfahrens der abstrakten Normenkontrolle, da formell erlassene Gesetze zunächst als gültig angesehen werden. Allerdings kann das Bundesverfassungsgericht gemäß § 32 BVerfGG im Wege der einstweiligen Anordnung auf Antrag der Beteiligten oder von Amts wegen vorläufige Maßnahmen treffen, etwa die Aussetzung der Anwendung einer Norm, wenn dies zur Abwendung schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten erscheint. Die einstweilige Anordnung ergeht jedoch nur sehr restriktiv, da sie den Normvollzug erheblich beeinträchtigen kann.
Können auch Normen des europäischen Rechts Gegenstand eines Normenkontrollverfahrens sein?
Normen des europäischen Rechts können nicht unmittelbar Gegenstand einer abstrakten Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht sein, da dieses nur zur Überprüfung innerstaatlicher Gesetze im Verhältnis zum Grundgesetz berufen ist. Unmittelbar anwendbares Unionsrecht steht außerhalb der unmittelbaren Prüfkompetenz des Bundesverfassungsgerichts. Allerdings kann europarechtskonformes nationales Umsetzungsrecht der abstrakten Kontrolle unterliegen, sofern darin eigenständige nationale Regelungen enthalten sind oder das nationale Gesetz von der EU-Richtlinie abweicht. Insoweit prüft das Bundesverfassungsgericht auch die Vereinbarkeit nationaler Umsetzungsakte mit dem Grundgesetz.