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Abstrakte Betrachtungsweise im Strafrecht


Abstrakte Betrachtungsweise im Strafrecht

Die abstrakte Betrachtungsweise ist ein methodischer Ansatz im Strafrecht, der insbesondere bei der Auslegung und Anwendung von Straftatbeständen sowie bei der Beurteilung von Schutzgutverletzungen eine zentrale Rolle spielt. Sie dient dazu, bestimmte rechtliche Fragestellungen unabhängig von Einzelfallumständen und den tatsächlichen Fähigkeiten der Beteiligten zu beurteilen. Die abstrakte Betrachtungsweise wird insbesondere der konkreten Betrachtungsweise gegenübergestellt, welche auf den Einzelfall abgestimmt ist.


Begriff und Abgrenzung

Definition der abstrakten Betrachtungsweise

Die abstrakte Betrachtungsweise im Strafrecht zeichnet sich dadurch aus, dass Rechtsfragen nicht unter Rückgriff auf die tatsächlichen Gegebenheiten und Fähigkeiten eines konkreten Beteiligten, sondern anhand eines allgemeinen, objektiven Maßstabs beurteilt werden. Dies bedeutet, es wird im Rahmen der Subsumtion geprüft, ob eine Handlung oder ein Verhalten objektiv geeignet ist, bestimmte Folgen herbeizuführen oder eine Gefahr zu schaffen, ohne Berücksichtigung subjektiver oder individueller Besonderheiten.

Abgrenzung zur konkreten Betrachtungsweise

Die konkrete Betrachtungsweise hingegen stellt auf die tatsächlichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls ab und bezieht individuelle Besonderheiten, zum Beispiel die Fähigkeiten des Täters, mit ein. Beide Betrachtungsweisen sind als Auslegungsmethoden im Strafrecht anerkannt, wobei die Wahl zwischen ihnen je nach Normzweck und Schutzrichtung der jeweiligen Rechtsvorschrift erfolgt.


Anwendungsbereiche der abstrakten Betrachtungsweise im Strafrecht

Gefährdungsdelikte

Ein zentrales Anwendungsfeld der abstrakten Betrachtungsweise sind die sogenannten abstrakten Gefährdungsdelikte. Hierunter fallen Straftatbestände, die schon das abstrakte Gefährdungspotenzial einer Handlung unter Strafe stellen, ohne dass eine konkrete Rechtsgutverletzung eingetreten sein muss. Ein Beispiel bildet die Trunkenheit im Straßenverkehr (§ 316 StGB): Strafbar ist bereits die Teilnahme am Straßenverkehr bei Überschreiten bestimmter Blutalkoholwerte, unabhängig davon, ob tatsächlich eine Gefährdung individueller Rechtsgüter eingetreten ist.

Eignung und Erfolg im Sinne des Strafrechts

In zahlreichen Straftatbeständen ist für die Strafbarkeit nicht maßgeblich, ob eine Handlung im konkreten Fall einen Erfolg herbeiführt oder hätte herbeiführen können, sondern ob sie nach allgemeiner Lebenserfahrung (objektiv-abstrakt) grundsätzlich geeignet war, den tatbestandsmäßigen Erfolg zu bewirken. Dies betrifft unter anderem die Diskussion um untaugliche, aber abstrakt gefährliche Versuchshandlungen (§ 23 StGB).

Prüfung der Rechtswidrigkeit

Auch im Rahmen der Rechtswidrigkeitsprüfung findet die abstrakte Betrachtungsweise Anwendung. Teilweise wird geprüft, ob die Handlung objektiv generell geeignet gewesen ist, das geschützte Rechtsgut zu gefährden oder zu verletzen. Klassischerweise spielt dies bei der Bewertung von Einwilligungen des Opfers (§ 228 StGB) eine Rolle. Die Einwilligung in eine Körperverletzung ist nur dann wirksam, wenn die Tat nicht gegen die guten Sitten verstößt. Ob ein Verstoß gegen die guten Sitten vorliegt, ist abstrakt, also losgelöst vom Einzelfall zu beurteilen.


Funktion und Bedeutung

Dogmatische Funktion

Die abstrakte Betrachtungsweise gewährleistet Rechtsklarheit und Rechtsicherheit. Sie trägt dazu bei, gleichgelagerte Sachverhalte einheitlich zu beurteilen und ein schlüssiges System der Tatbestandsvoraussetzungen zu schaffen. Dies sichert eine vorhersehbare Rechtsanwendung und dient dem Gleichbehandlungsgrundsatz.

Systematische Bedeutung

In der Systematik des Strafrechts dient die abstrakte Betrachtungsweise insbesondere dem Schutz überindividueller Rechtsgüter, für die bereits das bloße Gefährdungspotential einer Handlung als strafwürdig angesehen wird. Das Konzept ist zudem bedeutsam für die Strafbarkeitsbeurteilung im Vorfeld tatsächlicher Verletzungen, zum Beispiel bei Versuchsdelikten oder der Verhinderung von Gefahrenlagen.


Kritische Einordnung und Meinungsstreit

Streit um Anwendungsbereiche

Die Wahl zwischen abstrakter und konkreter Betrachtungsweise ist in dogmatischer Hinsicht umstritten. So wird etwa bei der Beurteilung des untauglichen Versuchs (§ 23 Abs. 3 StGB) diskutiert, ob die Eignung der Handlung zur Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolgs abstrakt oder konkret zu bewerten ist. Die überwiegende Auffassung bevorzugt hier die abstrakte Betrachtungsweise, insbesondere zur Wahrung der generalpräventiven Funktion des Strafrechts.

Kritische Stimmen

Kritiker wenden ein, dass die abstrakte Betrachtungsweise zu einer zu weiten Vorverlagerung der Strafbarkeit führen könne. Beispielhaft kann auf das Problem verwiesen werden, dass abstrakte Gefährdungsdelikte bereits Verhalten unter Strafe stellen, das in konkreten Fällen gar kein reales Rechtsgut gefährdet hat. Dies wirft Fragen hinsichtlich des Schuldprinzips und des ultima-ratio-Gedankens auf.


Praxisrelevanz und Rechtsprechung

Relevanz in der Strafrechtspraxis

Die abstrakte Betrachtungsweise hat in der Anwendungspraxis erhebliche Bedeutung, da sie die Strafbarkeitsgrenzen frühzeitig zieht und den Rechtsanwender:innen eine Orientierung für die Auslegung von Straftatbeständen gibt. Sie wird von der Rechtsprechung in zahlreichen Entscheidungen als zentrales Auslegungskriterium herangezogen.

Beispiele aus der Rechtsprechung

Die Gerichte wenden die abstrakte Betrachtungsweise insbesondere bei Verkehrsdelikten, Umweltstraftaten sowie beim Schutz von Allgemeinrechtsgütern an. So hat der Bundesgerichtshof beispielsweise zur Trunkenheit im Straßenverkehr entschieden, dass für die Strafbarkeit allein die Erfüllung der abstrakten Gefahr ausreiche, auch wenn im Einzelfall keine konkrete Gefahr für andere eingetreten ist.


Zusammenfassung

Die abstrakte Betrachtungsweise stellt im Strafrecht ein fundamentales methodisches Prinzip dar. Sie ermöglicht es, bestimmte Tatbestände und Rechtsgutsgefährdungen losgelöst vom Einzelfall anhand objektiver Maßstäbe zu beurteilen. Ihr Einsatz dient der Rechtsklarheit, Vorhersehbarkeit und Systematisierung strafrechtlicher Regelungen. Kritisch diskutiert werden ihre Grenzen im Hinblick auf das Schuldprinzip und das strafrechtliche Übermaßverbot. Gleichwohl bleibt die abstrakte Betrachtungsweise in vielfältigen Anwendungsbereichen des Strafrechts ein zentrales Dogma und trägt maßgeblich zur Struktur und Fortentwicklung des Strafrechts bei.

Häufig gestellte Fragen

Welche Bedeutung hat die abstrakte Betrachtungsweise für die Strafzumessung?

Die abstrakte Betrachtungsweise hat für die Strafzumessung insbesondere insoweit Bedeutung, als dass die Tatbestandsmäßigkeit einer Handlung oft losgelöst von den konkreten Umständen des Einzelfalls juristisch beurteilt wird. In dieser Hinsicht ist maßgeblich, welche Gefährlichkeit oder Rechtsgutverletzung eine bestimmte Handlungsweise „im Allgemeinen“, also abstrakt und typisierend, entfalten kann. Für die Strafzumessung bedeutet dies beispielsweise, dass das Gesetz bei der Bestimmung von Strafrahmen und -schärfung nicht primär die Auswirkungen im Einzelfall, sondern den typischen Unrechtsgehalt und die allgemeine Gefährdungslage berücksichtigt, die mit dem fraglichen Delikt verbunden sind. Konkrete Milderungs- oder Erschwerungsgründe werden erst im Rahmen der individuellen Strafzumessung bewertet, doch der Ausgangspunkt ist die abstrakte gesetzliche Bewertung des Verhaltens.

Inwiefern spielt die abstrakte Betrachtungsweise bei der Prüfung des Tatbestandes eine Rolle?

Bei der Prüfung des Tatbestandes im Strafrecht wird oftmals eine abstrakte Betrachtungsweise zugrunde gelegt. Das bedeutet, dass die objektiven Merkmale, wie sie das Gesetz formuliert, zunächst ohne Rücksicht auf besondere Besonderheiten des Einzelfalls geprüft werden. Ein klassisches Beispiel ist die Prüfung des Gefährdungsdelikts: Es ist nicht erforderlich, dass im konkreten Fall tatsächlich ein Schaden eingetreten ist; entscheidend ist vielmehr, ob durch das Verhalten des Täters typischerweise (also abstrakt) eine Gefahr für das geschützte Rechtsgut geschaffen wird. Die abstrakte Betrachtungsweise ermöglicht es somit, das Strafrecht allgemein und gleichheitsgerecht anzuwenden, indem sie typisierte Fallgruppen bildet.

Wie verhält sich die abstrakte zur konkreten Betrachtungsweise im Rahmen des Strafrechts?

Die abstrakte und die konkrete Betrachtungsweise stehen oftmals in einem komplementären Verhältnis zueinander. Während die abstrakte Betrachtungsweise typischerweise auf allgemeine, gesetzlich geregelte Merkmale eines Straftatbestandes abstellt und losgelöst vom Einzelfall agiert, kommt die konkrete Betrachtungsweise immer dann zum Tragen, wenn es um spezifische Umstände und Folgen einer Tat geht, etwa bei der Feststellung besonderer Tatfolgen oder bei der individuellen Strafzumessung. Gleichwohl bleibt der Ausgangspunkt der Prüfung im Strafrecht regelmäßig die abstrakte Betrachtungsweise, da der Gesetzgeber Strafnormen im Interesse einer einheitlichen Rechtsanwendung zumeist typisierend ausgestaltet.

Welche Rolle spielt die abstrakte Betrachtungsweise bei der Beurteilung von Gefährdungsdelikten?

Insbesondere bei den sogenannten Gefährdungsdelikten ist die abstrakte Betrachtungsweise von zentraler Bedeutung. Hier wird das strafbare Verhalten nicht erst dann relevant, wenn tatsächlich eine Schädigung des Rechtsguts eingetreten ist, sondern bereits dann, wenn eine abstrakte Gefahr geschaffen wurde. Das bedeutet, dass nicht die konkrete Schädigung, sondern die typische, generalisierende Eignung einer Handlung zur Beeinträchtigung des geschützten Rechtsguts entscheidend ist. Dadurch können Delikte wie Trunkenheit im Straßenverkehr oder das Führen eines Fahrzeugs ohne Fahrerlaubnis bereits auf einer abstrakten Ebene als strafwürdig qualifiziert werden.

Welche Konsequenzen hat die abstrakte Betrachtungsweise für den Opferschutz im Strafrecht?

Durch die abstrakte Betrachtungsweise beim Schutz bestimmter Rechtsgüter kann der Opferschutz frühzeitig und effektiv umgesetzt werden. Da bereits die Schaffung einer abstrakten Gefahr rechtlich sanktioniert wird, braucht zum Schutz potenzieller Opfer nicht erst der konkrete Eintritt eines Schadens abgewartet zu werden. Dies führt zu einer präventiven Ausrichtung zahlreicher Strafnormen und trägt dazu bei, gefährliche Handlungen bereits im Vorfeld zu unterbinden. Allerdings stoßen solche Regelungen auch auf Kritik, da sie unter Umständen Handlungen bestrafen, obwohl kein konkreter Schaden für ein individuelles Opfer eingetreten ist.

Wie wird die abstrakte Betrachtungsweise bei der Verfassungsmäßigkeitskontrolle von Strafnormen herangezogen?

Im Rahmen der Verfassungsmäßigkeitskontrolle von Strafnormen dient die abstrakte Betrachtungsweise dazu zu beurteilen, ob die gesetzliche Regelung geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist, um das angestrebte Rechtsgut zu schützen. Hierbei wird das Risiko, das mit bestimmten Verhaltensweisen typischerweise (abstrakt) einhergeht, näher in den Blick genommen. Dies ermöglicht dem Gesetzgeber, im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative Regelungen zum Schutz kollektiver Belange oder Rechtsgüter bereits bei abstrakten Gefährdungen zu erlassen. Bei der gerichtlichen Kontrolle steht folglich die Bewertung der allgemeinen Eignung und Notwendigkeit der Norm im Vordergrund und weniger die konkrete Einzelfallbetrachtung.