Begriff und Bedeutung des Absehens von Strafvollstreckung
Das Absehen von Strafvollstreckung bezeichnet im deutschen Strafrecht die Entscheidung staatlicher Stellen, auf die Durchführung einer rechtskräftig festgesetzten Strafe ganz oder teilweise zu verzichten. In bestimmten, im Gesetz definierten Ausnahmefällen besteht die Möglichkeit, von der Vollstreckung abzusehen, um auf besondere individuelle Umstände oder rechtspolitische Erwägungen Rücksicht zu nehmen. Die Regelungen hierzu finden sich insbesondere in der Strafprozessordnung (StPO) und im Strafgesetzbuch (StGB).
Gesetzliche Grundlagen
Strafgesetzbuch (StGB)
Das StGB enthält Regelungen, nach denen unter bestimmten Voraussetzungen von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, Geldstrafe oder Nebenstrafe abgesehen werden kann. Zu den wichtigsten Vorschriften zählen §§ 60 ff. StGB, die insbesondere bei Auslieferung oder Ausweisung aus Deutschland relevant sind.
§ 60 StGB – Auslieferung und Abschiebung
Nach § 60 StGB kann die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung ausgesetzt oder endgültig davon abgesehen werden, wenn der Verurteilte in einen anderen Staat abgeschoben oder ausgeliefert wird. Die Strafvollstreckung wird in diesen Fällen aufgeschoben oder entfällt dauerhaft, sofern dadurch keine weiteren Straftaten im Inland zu befürchten sind.
§ 61 StGB – Tod des Verurteilten
Gemäß § 61 StGB ist die Strafe nicht mehr zu vollstrecken, wenn der Verurteilte während des Strafvollzugs verstirbt.
Strafprozessordnung (StPO)
Auch in der StPO werden Vorschriften über das Absehen von Strafvollstreckung getroffen. Beispielsweise kann gemäß § 451c StPO von der Vollstreckung einer Maßregel der Besserung und Sicherung abgesehen werden, wenn die Vollstreckung nicht mehr zweckmäßig erscheint.
Anwendungsbereiche
Auslieferung, Abschiebung und Überstellung
Wird eine Person nach rechtskräftiger Verurteilung in einen anderen Staat ausgeliefert, abgeschoben oder überstellt, kann im Rahmen der Vollstreckung von Freiheitsstrafen, Maßregeln oder Geldstrafen ganz oder teilweise abgesehen werden. Voraussetzung ist, dass eine erneute Straffälligkeit im Inland nicht zu erwarten ist und die Auslieferung, Abschiebung oder Überstellung rechtlich und tatsächlich erfolgt.
Humanitäre und gesundheitliche Gründe
Unter besonderen Umständen, etwa im Fall schwerer Erkrankung des Verurteilten, bei fortgeschrittenem Lebensalter oder schwerwiegenden persönlichen Härten, kann die zuständige Vollstreckungsbehörde ein Absehen von der Strafvollstreckung prüfen. Dies bedarf einer individuellen Beurteilung und wird in der Regel restriktiv gehandhabt.
Tod des Verurteilten
Mit dem Tod des Verurteilten erlischt die Möglichkeit der Vollstreckung automatisch. Der Tod ist der Behörde anzuzeigen, woraufhin von Amts wegen vom weiteren Vollzug abgesehen wird.
Rechtsfolgen des Absehens von Strafvollstreckung
Das Absehen von der Strafvollstreckung führt dazu, dass die Strafe entweder nicht zur Ausführung gelangt oder eine bereits begonnene Vollstreckung eingestellt wird. Die Strafe selbst bleibt im Urteil bestehen, wird jedoch hinsichtlich ihrer konkreten Durchführung nicht weiter verfolgt.
In bestimmten Fällen, wie etwa der Auslieferung oder Abschiebung, kann eine spätere Wiederaufnahme der Vollstreckung grundsätzlich zulässig bleiben, falls die gesetzlichen Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind, beispielsweise bei Rückkehr des Verurteilten nach Deutschland.
Ablauf und Zuständigkeiten
Antrag und Entscheidung
Das Absehen von Strafvollstreckung wird von Amts wegen oder auf Antrag geprüft. Zuständig für die Entscheidung sind regelmäßig die Strafvollstreckungsbehörden, in manchen Fällen die Staatsanwaltschaft oder das Gericht. Hierbei ist stets eine sorgfältige Ermessensausübung erforderlich, die das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung gegen die individuellen Belange des Verurteilten abwägt.
Dokumentation und Mitteilung
Im Fall des Absehens von der Strafvollstreckung ist die Entscheidung aktenkundig zu machen und den Beteiligten mitzuteilen. Bei abgeschobenen oder ausgelieferten Verurteilten sind gegebenenfalls auch internationale Stellen oder zuständige Behörden des aufnehmenden Landes zu informieren.
Einschränkungen und Ausnahmen
Das Absehen von Strafvollstreckung darf nicht dazu führen, dass der grundsätzliche Strafanspruch des Staates ausgehöhlt wird. Daher wird die Anwendung der einschlägigen Rechtsnormen restriktiv gehandhabt. Ein genereller Verzicht auf den Strafvollzug ohne gewichtigen Grund ist gesetzlich ausgeschlossen.
Strafreststrafen und Bewährungssituationen sind vom Absehen von Strafvollstreckung abzugrenzen. Hierzu existieren spezifische Regelungen etwa zur Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB), welche eigenständig zu beurteilen sind.
Internationale Aspekte
Im Bereich der europa- und weltweit geregelten Auslieferungs-, Abschiebungs- und Überstellungsverfahren ist das Absehen von Strafvollstreckung von erheblicher praktischer Bedeutung. Es ermöglicht die Anpassung der Strafverfolgung an multilaterale Absprachen und internationale Verpflichtungen.
Abgrenzung zu ähnlichen Begriffen
Das Absehen von Strafvollstreckung ist abzugrenzen von Begriffen wie der Strafaussetzung zur Bewährung, der Gnadenerweisung sowie der Strafaussetzung des Strafrests, die jeweils unterschiedlichen gesetzlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen unterliegen.
Literatur und weiterführende Informationen
- Strafgesetzbuch (StGB)
- Strafprozessordnung (StPO)
- Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG)
- Schriftenreihe Deutscher Bundestag – Einzelfragen des Strafvollzugs
Das Absehen von Strafvollstreckung stellt ein bedeutsames Instrument im deutschen Strafvollstreckungsrecht dar, um in rechtlich besonders gelagerten Fällen der Einzelfallgerechtigkeit und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen.
Häufig gestellte Fragen
Welche Voraussetzungen müssen für ein Absehen von der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG erfüllt sein?
Ein Absehen von der Strafvollstreckung gemäß § 35 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) kann nur unter engen Voraussetzungen gewährt werden. Grundvoraussetzung ist, dass der Verurteilte wegen einer Straftat verurteilt wurde, die auf den Umgang mit Betäubungsmitteln zurückzuführen ist, was typischerweise den Eigenkonsum betrifft. Zudem muss eine gerichtliche Feststellung vorliegen, dass bei dem Verurteilten eine Betäubungsmittelabhängigkeit gegeben ist und die Vollstreckung der Strafe entgegen den Zielen sinnvoller erscheint, wenn eine geeignete Therapie zur Überwindung der Sucht angetreten wird. Der Antragsteller muss gegenüber der zuständigen Strafvollstreckungsbehörde einen Behandlungsplatz nachweisen und ein ernsthaftes Therapiebestreben erkennbar machen. In der Regel wird verlangt, dass die Strafe eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren beträgt und nicht wegen einer besonders schweren Straftat im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln ergangen ist. Die Entscheidung über das Absehen von der Strafvollstreckung liegt im Ermessen der Vollstreckungsbehörde, die neben dem Therapieplatz insbesondere das Vorliegen einer ernsthaften Therapiewilligkeit, die Prognose einer erfolgreichen Therapie und etwaige Rückfall- oder Fluchtgefahren berücksichtigt.
Wie unterscheidet sich das Absehen von der Strafvollstreckung von der Strafaussetzung zur Bewährung?
Das Absehen von der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG ist strikt von der Strafaussetzung zur Bewährung nach §§ 56 ff. StGB zu unterscheiden. Während bei der Bewährung die Strafe unter bestimmten Auflagen zur Bewährung ausgesetzt wird und der Betroffene sich im sozialen Umfeld unter gerichtlicher Aufsicht bewähren muss, wird beim Absehen von der Strafvollstreckung die Vollstreckung der bereits rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe für die Dauer der Therapie oder anderer Maßnahmen zurückgestellt. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass beim Absehen gemäß § 35 BtMG zwingend eine therapeutische Maßnahme zum Zweck der Suchtbehandlung angetreten werden muss, während Bewährungsauflagen breiter gefasst sein können. Nach erfolgreichem Abschluss der Maßnahme nach § 35 BtMG kann das Gericht sogar von der weiteren Vollstreckung der Strafe absehen oder die Strafe erlässt teilweise. Bei einem Bewährungsversagen hingegen droht regelmäßig die nachträgliche Vollstreckung der ursprünglichen Freiheitsstrafe.
Wer entscheidet über den Antrag auf Absehen von der Strafvollstreckung?
Über den Antrag auf Absehen von der Strafvollstreckung entscheidet die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde. Der Antrag muss frühzeitig gestellt werden, idealerweise nachdem der Strafbefehl oder das Urteil rechtskräftig geworden ist, jedoch spätestens bevor die Strafvollstreckung beginnt. Die Staatsanwaltschaft prüft die Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen, insbesondere ob ein nachweislich gesicherter Therapieplatz vorhanden ist und die therapeutische Maßnahme in Kürze angetreten werden kann. Im Falle einer Ablehnung besteht die Möglichkeit, das Gericht im Rahmen der sogenannten Strafvollstreckungskammer anzurufen, die sodann über die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Staatsanwaltschaft befindet. Die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde ist nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen und unterliegt einer umfassenden Überprüfung hinsichtlich des Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen.
Was passiert bei einem Abbruch oder Scheitern der Therapie während eines Strafaufschubs?
Sollte der Betroffene die Therapie vorzeitig abbrechen, gegen Auflagen verstoßen oder sich die Therapie als erfolglos erweisen, kann die Strafvollstreckung durch die zuständige Staatsanwaltschaft wieder aufgenommen werden. Dem Verurteilten wird in der Regel zunächst Gelegenheit gegeben, sich zu äußern. Die erneute Vollstreckung beruht darauf, dass das ursprüngliche Ziel – die Rehabilitation durch Suchtbehandlung – nicht erreicht wurde. Die Zeit, die bereits im Rahmen therapeutischer Maßnahmen verbracht wurde und in der die Freiheitsstrafe zurückgestellt wurde, wird in der Regel nicht auf die Strafe angerechnet, es sei denn, es handelt sich um eine geschlossene Unterbringung. Das Gericht kann in Ausnahmefällen eine andere Entscheidung treffen, etwa bei unverschuldetem Therapieabbruch oder bei nachgewiesener erfolgreicher Teiltherapie, wobei Ermessen besteht.
Kann ein Absehen von der Strafvollstreckung auch bei ausländischen Therapieeinrichtungen erfolgen?
Das Gesetz verlangt grundsätzlich, dass die therapeutische Maßnahme in einer anerkannten Einrichtung durchgeführt wird. In Ausnahmefällen kann eine Therapie auch in einer ausländischen Einrichtung erfolgen, wenn die Einrichtung mit inländischen Therapien vergleichbar ist und eine adäquate Behandlung gewährleistet ist. Voraussetzung ist, dass die ausländische Maßnahme mit den deutschen Suchtbehandlungsstandards vergleichbar ist und die Überwachung sowie die Nachweise, beispielsweise über den Antritt, Verlauf und Abschluss der Therapie, sichergestellt sind. Die Vollstreckungsbehörde prüft diese Voraussetzungen im Einzelfall sehr genau, wobei etwaige Rückfall- oder Fluchtgefahren bei der Ermessensentscheidung eine besondere Rolle spielen.
Können auch Ersatzfreiheitsstrafen nach § 35 BtMG zurückgestellt werden?
Eine Rückstellung der Vollstreckung nach § 35 BtMG ist grundsätzlich auch bei der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen möglich, sofern der Zusammenhang der Straftat mit einer Betäubungsmittelabhängigkeit vorliegt und die weiteren Voraussetzungen für eine Therapieerleichterung gegeben sind. Die Ersatzfreiheitsstrafe darf jedoch nicht auf einer fremden Straftat beruhen, sondern muss den Konsum oder die durch Beschaffungskriminalität verursachte Straftat des Antragstellers betreffen. Die Erfolgsaussichten einer Therapie sind auch hier zu bewerten. Im Unterschied zur Geldstrafe erfordert die Ersatzfreiheitsstrafe eine engere Prüfung der Suchtzusammenhänge und es sollte ein unmittelbarer therapeutischer Nutzen für die Rehabilitierung des Täters erkennbar sein.
Gibt es Besonderheiten bei einer zeitlichen Begrenzung der Vollstreckungshemmung?
Die Rückstellung der Strafvollstreckung ist stets für die Dauer der vorgesehenen Therapie oder Maßnahme zu gewähren, wobei die Bewilligung anfristen kann. Üblich ist eine Frist von bis zu sechs Monaten für den Antritt der Therapie; längere Fristen sind im Einzelfall zu begründen und nur zulässig, wenn besondere Gründe – etwa lange Wartezeiten auf einen spezifischen Therapieplatz – vorliegen. Während der Rückstellungsphase muss ein regelmäßiger Nachweis über den Stand der Therapie erbracht werden. Bei Verstößen droht der Widerruf der Rückstellung und die sofortige Vollstreckung der Freiheitsstrafe. Die Einhaltung der Zeitvorgaben ist wesentlich für die Prognose einer erfolgreichen Maßnahme und für das Vertrauen der Strafverfolgungsbehörden in die Ernsthaftigkeit des Therapiebemühens.