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Absehen von Strafverfolgung


Begriff und Definition: Absehen von Strafverfolgung

Das Absehen von Strafverfolgung bezeichnet im deutschen Strafprozessrecht die behördliche Entscheidung, von der Einleitung, Fortführung oder Weiterführung eines Strafverfahrens ganz oder teilweise abzusehen. Es handelt sich hierbei um eine Ausnahme von dem im Strafrecht geltenden Legalitätsprinzip, das Behörden grundsätzlich zur Verfolgung jeder strafbaren Handlung verpflichtet. In bestimmten gesetzlich geregelten Fällen kann oder muss die Staatsanwaltschaft oder das Gericht jedoch ganz oder teilweise auf eine Anklageerhebung, das Betreiben des Strafverfahrens oder die Strafvollstreckung verzichten. Das Absehen von Strafverfolgung dient insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der Verfahrensökonomie und sozialen Integration.


Gesetzliche Grundlagen

Regelungen im Strafgesetzbuch (StGB)

Im Strafgesetzbuch finden sich explizite Regelungen, die ein Absehen von Strafe oder Strafverfolgung erlauben. Beispiele finden sich etwa bei untergeordneten Beteiligungsformen an Straftaten (§§ 153 ff. StPO), leichter Täter-Opfer-Ausgleich (§ 46a StGB), bei Bagatelldelikten sowie bei besonderen persönlichen Verhältnissen.

Regelungsorte in der Strafprozessordnung (StPO)

Den Hauptanwendungsbereich bilden jedoch die §§ 153 bis 154e der Strafprozessordnung (StPO), in denen verschiedene Konstellationen geregelt sind, unter denen die Staatsanwaltschaft oder das Gericht ganz oder teilweise von einer Strafverfolgung absehen kann oder muss. Diese Bestimmungen bilden Ausnahmen vom Legalitätsprinzip und folgen dem Strafprozessualen Opportunitätsprinzip.


Formen und Voraussetzungen des Absehens von Strafverfolgung

Absehen von der Verfolgung bei Geringfügigkeit (§ 153 StPO)

Nach § 153 StPO kann die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des zuständigen Gerichts von der Verfolgung einer Straftat absehen, wenn es sich um eine Vergehen handelt und die Schuld des Täters als gering anzusehen ist. Diese Vorschrift betrifft insbesondere Bagatelldelikte und dient der Entlastung der Strafjustiz von minderschweren Fällen, bei denen das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung nicht überwiegt.

Voraussetzungen:

  • Es handelt sich um ein Vergehen (kein Verbrechen)
  • Schuld ist als gering zu bewerten
  • Kein überwiegendes öffentliches Interesse an Verfolgung

Absehen bei Wiedergutmachung des Schadens (§ 153a StPO)

Gemäß § 153a StPO kann die Staatsanwaltschaft unter Auflagen und Weisungen vorläufig von der Verfolgung absehen. Der Täter erhält die Möglichkeit, durch die Erfüllung bestimmter Auflagen, etwa Schadenswiedergutmachung, soziale Leistungen oder Geldzahlungen, das Verfahren endgültig einstellen zu lassen.

Voraussetzungen:

  • Vergehen liegt zugrunde
  • Auflagen und Weisungen sind geeignet, das öffentliche Interesse zu erfüllen
  • Einwilligung des Beschuldigten ist erforderlich

Absehen bei Vorliegen von Strafverfolgungshindernissen (§ 153b StPO)

Wurde durch eine tätige Reue oder einen Täter-Opfer-Ausgleich ein Erfolgsabwendung oder vollständige Wiedergutmachung erzielt, kann die Strafverfolgungsbehörde nach § 153b StPO vom weiteren Verfahren absehen.

Absehen wegen fehlender Strafwürdigkeit weiterer Taten (§ 154 StPO)

Hier kann im Ermittlungs- oder Hauptverfahren von der Verfolgung weiterer Straftaten abgesehen werden, wenn diese neben schweren, bereits verfolgten Delikten stehen und keine zusätzliche Strafzumessung zu erwarten ist.

Voraussetzungen:

  • Mehrere verfolgte Straftaten liegen vor
  • Weitere Straftaten würden die Gesamtstrafe nicht wesentlich beeinflussen

Absehen wegen Auslieferung oder ausländischer Verurteilung (§ 153c, § 154b StPO)

Ist eine ausländische Strafverfolgung oder Auslieferung des Beschuldigten wahrscheinlich, kann die Staatsanwaltschaft vom Verfahren in Deutschland Abstand nehmen, sofern wesentliche Interessen der Strafrechtspflege nicht entgegenstehen.


Absehen im Jugendstrafrecht

Im Jugendgerichtsgesetz (JGG) sind ergänzende Bestimmungen enthalten, die das Absehen von Strafverfolgung oder Strafe in Fällen ermöglichen, in denen erzieherische Maßnahmen Vorrang haben (§§ 45, 47 JGG). Die Sanktion steht hier nicht im Vordergrund, sondern die Beeinflussung und Erziehung des Jugendlichen oder Heranwachsenden.


Verfahrensablauf und Beteiligung der Verfahrensbeteiligten

Entscheidungsbefugnis

Die hauptsächliche Entscheidungsbefugnis liegt bei der Staatsanwaltschaft. In verschiedenen Fällen bedarf es jedoch der Zustimmung des zuständigen Gerichts beziehungsweise des Betroffenen. Nach Abschluss der Ermittlungen und Prüfung der Voraussetzungen kann die Einstellung erfolgen. Über etwaige Auflagen und Weisungen sowie deren Erfüllung wird überwacht und gegebenenfalls das Verfahren endgültig eingestellt oder wieder aufgenommen.

Rolle des Geschädigten

Beim Absehen von Verfolgung nach § 153a StPO ist in bestimmten Fällen auch die Zustimmung des Geschädigten notwendig, etwa bei Wiedergutmachungszahlungen oder Täter-Opfer-Ausgleich.


Rechtliche Konsequenzen des Absehens von Strafverfolgung

Auswirkungen auf die Strafverfolgung

Ein Absehen von Strafverfolgung stellt eine formelle Einstellung des Strafverfahrens dar und entfaltet unterschiedliche Rechtswirkungen:

  • Endgültige Verfahrenseinstellung (bei erfüllten Auflagen)
  • Keine Verurteilung und keine Strafeintragung, aber mögliche Folgen für die Strafregisterauskunft (bei bestimmten Arten der Einstellung)
  • Wiederaufnahme des Verfahrens bei Nichterfüllung der Auflagen möglich
  • Kein Einfluss auf zivilrechtliche Ansprüche

Rechtsbehelfe

Gegen das Absehen von Strafverfolgung stehen Zeugen und Opfer beschränkte Rechtsmittel zur Verfügung. Die Beschwerde gegen die Einstellung ist zum Teil möglich, das Gericht prüft in diesem Fall die Rechtmäßigkeit der Einstellung.


Abgrenzungen und Sonderfälle

Das Absehen von Strafverfolgung ist abzugrenzen von:

  • Der Einstellung des Verfahrens mangels hinreichenden Tatverdachts (§ 170 Abs. 2 StPO)
  • Der Strafzumessung und Möglichkeit des Absehens von Strafe nach §§ 60 ff. StGB
  • Der Verfahrenseinstellung aus medizinischen oder prozessualen Gründen

Ein weiteres verwandtes Institut ist der Täter-Opfer-Ausgleich (§ 46a StGB), der im Rahmen der Absehensregelungen eine besondere Rolle spielt.


Bedeutung und Zielsetzung

Das Absehen von Strafverfolgung ermöglicht eine flexible, verhältnismäßige und gesellschaftlich relevante Verfahrensführung, die Ressourcen schont und Wiedergutmachung sowie Integration fördert. Die Vorschriften stellen sicher, dass das Strafrecht nicht schematisch, sondern sach- und situationsgerecht zur Anwendung gelangt.


Literatur und weiterführende Links

  • Strafprozessordnung (StPO) §§ 153 ff.
  • Strafgesetzbuch (StGB) § 46a, §§ 60 ff.
  • Jugendgerichtsgesetz (JGG) §§ 45, 47
  • Bundesministerium der Justiz: Gesetze im Internet – StPO
  • Rechtsprechung zu § 153a StPO, abrufbar bei juris.de

Durch das Absehen von Strafverfolgung steht dem System der Strafrechtspflege ein wesentliches Instrument zur Verfügung, das auf Verhältnismäßigkeit, Schadensausgleich und Prävention ausgelegt ist.

Häufig gestellte Fragen

In welchen Fällen kann von einer Strafverfolgung abgesehen werden?

Von einer Strafverfolgung kann in bestimmten gesetzlich geregelten Ausnahmefällen abgesehen werden. Nach deutschem Recht, insbesondere gemäß §§ 153 ff. StPO (Strafprozessordnung), können Staatsanwaltschaft und Gerichte das Verfahren bei Vergehen mit geringer Schuld oder fehlendem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung einstellen. Ebenso kann abgesehen werden, wenn der Beschuldigte bestimmte Auflagen oder Weisungen erfüllt hat. In anderen Fällen, wie etwa bei Hinwirken auf eine Wiedergutmachung des Schadens (z.B. gem. § 153a StPO), ist das Absehen an besondere Voraussetzungen und eine richterliche Zustimmung gebunden. In Spezialgesetzen, wie etwa im Betäubungsmittelrecht (§ 31a BtMG), ist das Absehen von Verfolgung zur Förderung der Kooperationsbereitschaft auch normiert. Die Entscheidung liegt grundsätzlich im Ermessen der Strafverfolgungsbehörden, die das öffentliche Interesse und die individuelle Schuld des Täters gegeneinander abwägen müssen.

Welche Rolle spielt das öffentliche Interesse beim Absehen von Strafverfolgung?

Das öffentliche Interesse ist ein maßgebliches Kriterium für die Entscheidung, ob von einer Strafverfolgung abgesehen wird. Insbesondere bei geringfügigen Delikten prüfen Staatsanwaltschaft und Gericht, ob das Interesse der Allgemeinheit an einer Strafverfolgung überwiegt oder ob die Strafverfolgung entbehrlich erscheint, weil etwa kein allgemeiner Strafanspruch besteht oder das Anliegen zum Schutz der Allgemeinheit anderweitig ausreichend gewahrt werden kann. Fehlt ein solches öffentliches Interesse – beispielsweise bei Streitigkeiten im persönlichen Bereich oder Bagatellfällen – kann die Strafverfolgung gemäß § 153 StPO unterbleiben. Dabei muss stets eine Einzelfallabwägung unter Berücksichtigung der Tatfolgen, der Persönlichkeit des Täters und der Umstände der Tat erfolgen.

Wie unterscheiden sich Einstellung und Absehen von Strafverfolgung?

Während die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens in der Regel auf das Fehlen eines hinreichenden Tatverdachts oder das Fehlen eines Verfahrenshindernisses gestützt wird, ist das Absehen von Strafverfolgung regelmäßig eine Ermessensentscheidung trotz bestehenden hinreichenden Tatverdachts. Das Absehen ist also ein Sonderfall, bei dem das Verfahren aus Gründen des Sinns und Zwecks des Strafrechts – wie Geringfügigkeit oder ausreichende Wiedergutmachung – beendet wird. Einstellungen erfolgen entweder formal (z.B. gem. § 170 Abs. 2 StPO) oder materiell (z.B. gem. §§ 153, 153a StPO mit/ohne Auflagen oder Weisungen). Das Absehen von Strafverfolgung im engeren Sinne ist meist an zusätzliche Bedingungen geknüpft (wie im BtMG oder bei Kronzeugenregelungen).

Welche Rolle spielen Auflagen und Weisungen beim Absehen von Strafverfolgung?

Das Gericht oder die Staatsanwaltschaft können das Absehen von Strafverfolgung mit Auflagen und Weisungen verbinden, insbesondere zur Förderung der Wiedergutmachung des durch die Straftat verursachten Schadens oder zur Sicherstellung künftiger Gesetzestreue des Täters. Häufige Auflagen sind Schadenswiedergutmachung, Geldzahlung an gemeinnützige Einrichtungen, Teilnahme an einem sozialen Trainingskurs oder das Bemühen um einen Täter-Opfer-Ausgleich. Werden die Auflagen ordnungsgemäß erfüllt, wird das Verfahren endgültig eingestellt. Verstößt der Beschuldigte gegen die Bedingungen, kann die Strafverfolgung fortgeführt werden. Die Entscheidung und Auswahl der Auflagen richten sich nach den Umständen des Einzelfalls und müssen angemessen und verhältnismäßig sein.

Ist das Absehen von Strafverfolgung auch bei schweren Straftaten möglich?

In der Regel kommt das Absehen von Strafverfolgung nur bei Vergehen und keinesfalls bei Verbrechen (Straftaten mit Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr, § 12 StGB) in Betracht. Nur in wenigen Ausnahmefällen, beispielsweise im Bereich der Kronzeugenregelung (§ 46b StGB oder § 31 BtMG), kann bei schwereren Delikten von einer Verfolgung abgesehen werden, sofern ein übergeordnetes Interesse wie etwa die Aufklärung von erheblich schwereren Straftaten vorliegt. Der Gesetzgeber sieht hier besonders enge Voraussetzungen und eine sorgfältige richterliche Kontrolle vor, um Missbrauch zu vermeiden und das Gebot der Rechtsstaatlichkeit zu wahren.

Welche Mitwirkungsrechte haben Opfer oder Geschädigte im Rahmen des Absehens von Strafverfolgung?

Opfer oder Geschädigte haben in bestimmten Fällen ein Anhörungsrecht, insbesondere im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs (§ 46a StGB, § 153a StPO). Insbesondere bei Delikten, die primär Individualinteressen berühren (wie Körperverletzungs- oder Diebstahlsdelikte), muss das zuständige Organ die Interessen der Geschädigten berücksichtigen, bevor es über das Absehen entscheidet. Opfer haben auch die Möglichkeit, Beschwerde gegen eine Einstellungsentscheidung einzulegen oder sich als Nebenkläger dem Verfahren anzuschließen und damit Einfluss auf den weiteren Gang des Strafverfahrens zu nehmen. Jedoch sind die Mitwirkungsrechte gesetzlich beschränkt, um die Entscheidungshoheit der Strafverfolgungsbehörden zu wahren.