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Absehen von Anklageerhebung


Absehen von Anklageerhebung

Das Absehen von Anklageerhebung ist ein bedeutsamer Begriff im deutschen Strafprozessrecht. Es beschreibt die Möglichkeit der Staatsanwaltschaft, nach Abschluss der Ermittlungen davon abzusehen, öffentliche Klage zu erheben, obwohl der Tatverdacht grundsätzlich den Erfordernissen einer Anklage entsprechen würde. Grundlage dafür sind insbesondere sogenannte Opportunitätsentscheidungen, die in den §§ 153 ff. der Strafprozessordnung (StPO) geregelt sind. Das Absehen von Anklageerhebung hat vielfältige praktische und rechtliche Implikationen, weshalb eine genaue Betrachtung seines Anwendungsbereichs, der Voraussetzungen und der Folgen notwendig ist.


Rechtliche Grundlagen

Allgemeine Voraussetzungen

Das Absehen von Anklageerhebung ist insbesondere in den §§ 153 bis 153e StPO normiert. Im Zentrum steht die Ermessensentscheidung der Staatsanwaltschaft, die an gesetzliche Vorgaben gebunden ist. Ein Absehen von der Anklage kommt regelmäßig nur bei Vergehen von geringerer Bedeutung und unter bestimmten Umständen in Betracht.

Die wichtigsten Grundlagen sind:

  • Legalitätsprinzip (§ 152 Abs. 2 StPO): Die Staatsanwaltschaft ist grundsätzlich verpflichtet, bei hinreichendem Tatverdacht Anklage zu erheben.
  • Opportunitätsprinzip (§§ 153 ff. StPO): Hiervon kann unter den in den §§ 153 ff. genannten Voraussetzungen abgewichen werden.

Die wichtigsten Formen des Absehens von Anklageerhebung

1. Absehen in Bagatellfällen (§ 153 StPO)

Die Staatsanwaltschaft kann bei Vergehen von geringer Schuld und fehlendem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung von der Klageerhebung absehen. Voraussetzung ist, dass keine schutzwürdigen Interessen von Verletzten entgegenstehen.

Voraussetzungen

  • Vergehen (keine Verbrechen)
  • Geringe Schuld des Beschuldigten
  • Kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung
  • Keine entgegenstehenden Interessen von Verletzten

2. Einstellung gegen Auflagen und Weisungen (§ 153a StPO)

Bei bestimmten leichten bis mittleren Straftaten kann die Staatsanwaltschaft – mit Zustimmung des Gerichts und des Beschuldigten – das Verfahren gegen Auflagen oder Weisungen einstellen. Das Verfahren wird demnach vorläufig eingestellt, solange der Beschuldigte die Auflagen erfüllt.

Typische Auflagen und Weisungen

  • Zahlung eines Geldbetrags an eine gemeinnützige Einrichtung oder die Staatskasse
  • Schadenswiedergutmachung
  • Teilnahme an einem sozialen Trainingskurs

Rechtsfolge

Mit vollständiger Erfüllung der Auflagen und Weisungen tritt endgültig das Absehen von Anklage ein; das Verfahren wird nicht wieder aufgenommen. Bei Nichterfüllung kann die Anklage nachgeholt werden.

3. Absehen in Jugendstrafsachen (§ 45, § 47 JGG)

Im Jugendstrafrecht ermöglichen die §§ 45 und 47 Jugendgerichtsgesetz (JGG) der Staatsanwaltschaft, von der Verfolgung einer Straftat ganz oder teilweise abzusehen. Ziel ist die Erzieherische Einwirkung statt Strafverfolgung, sofern der Jugendliche sein Fehlverhalten einsieht und es keiner förmlichen Sanktionierung bedarf.


Ablauf des Verfahrens

Ermittlungsverfahren

Die Entscheidung, von der Anklageerhebung abzusehen, wird in aller Regel im Ermittlungsverfahren getroffen, nachdem alle wesentlichen Tatsachen ermittelt wurden.

Beteiligung des Gerichts und der Beteiligten

Je nach Norm ist für das Absehen von Anklageerhebung die Zustimmung des Gerichts (z. B. bei § 153a StPO) und/oder der Wiedergutmachung durch den Beschuldigten oder die Zustimmung des Verletzten erforderlich.

Mitteilung an die Beteiligten

Betroffene werden regelmäßig schriftlich darüber informiert, dass das Verfahren eingestellt und von einer Anklage abgesehen wird. In Fällen mit Auflagen wird zudem über deren Erfüllung und die damit einhergehende endgültige Einstellung informiert.


Rechtsfolgen des Absehens von Anklageerhebung

Strafrechtliche Folgen

Das Verfahren wird eingestellt und es droht in derselben Sache keine Strafverfolgung mehr, sofern keine neuen Tatumstände bekannt werden (§ 170 StPO). Bei Einstellungen gegen Auflagen entsteht kein Eintrag im Bundeszentralregister.

Zivilrechtliche Auswirkungen

Ein Absehen von der Anklageerhebung beeinflusst grundsätzlich nicht die Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche, d. h. etwa Schadensersatzforderungen können weiterhin unabhängig geltend gemacht werden.

Öffentliches Interesse & Wiederaufnahme

In Ausnahmefällen kann ein eingestelltes Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO wieder aufgenommen werden, insbesondere, wenn neue Tatsachen oder Beweise bekannt werden, die zu einer anderen Bewertung führen könnten.


Abgrenzung zu weiteren Verfahrenseinstellungen

Nicht jede Verfahrenseinstellung bedeutet ein Absehen von Anklageerhebung im oben genannten Sinne. Während z. B. die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO mangels hinreichenden Tatverdachts erfolgt, ist das Absehen von Anklageerhebung eine Ermessensentscheidung trotz grundsätzlich nachweislichem Fehlverhalten. Die Unterscheidung ist für das weitere Verfahren und mögliche weitere Konsequenzen essentiell.


Bedeutung und Praxisrelevanz

Das Absehen von Anklageerhebung ist ein zentrales Instrument im deutschen Strafverfahrensrecht. Es trägt zur Entlastung der Gerichte bei und ermöglicht es, Verfahren angemessen, effizient und sozialverträglich zu beenden, wenn eine weitergehende strafrechtliche Verfolgung nicht erforderlich erscheint. Dabei werden sowohl die Interessen von Geschädigten, der Allgemeinheit als auch die Persönlichkeit des Beschuldigten berücksichtigt.


Literatur & Weblinks

  • Strafprozessordnung (StPO)
  • Jugendgerichtsgesetz (JGG)
  • BeckOK StPO, §§ 153-153a StPO
  • Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage, München 2023

Hinweis: Der vorliegende Artikel dient der allgemeinen Information im Rahmen eines Rechtslexikons und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Für eine weitergehende Bewertung des Einzelfalles empfiehlt sich stets eine individuelle rechtliche Beratung.

Häufig gestellte Fragen

Wann kann die Staatsanwaltschaft von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen?

Von der Erhebung der öffentlichen Klage kann die Staatsanwaltschaft insbesondere dann absehen, wenn die Voraussetzungen der §§ 153 ff. StPO erfüllt sind. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre, kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht oder bereits anderweitige Rechtsfolgen, wie z.B. eine Wiedergutmachung oder ein Täter-Opfer-Ausgleich, eingetreten sind. Die Entscheidung liegt im Ermessen der Staatsanwaltschaft, die dabei sowohl das Interesse der Allgemeinheit an der Strafverfolgung als auch das individuelle Verhalten des Beschuldigten sorgfältig abzuwägen hat. Zudem sind die Schwere der Tat, etwaige Vorstrafen und das Nachtatverhalten zu berücksichtigen. Ein Absehen von der Klage ist ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Straftaten vorliegen oder erhebliche öffentliche Interessen berührt sind.

Welche Rolle spielt das Opportunitätsprinzip beim Absehen von Anklageerhebung?

Das Opportunitätsprinzip, wie es in den §§ 153 ff. StPO normiert ist, eröffnet der Staatsanwaltschaft einen Entscheidungsspielraum, auch wenn ein hinreichender Tatverdacht vorliegt. Im Gegensatz zum Legalitätsprinzip, das grundsätzlich eine Verfolgung bei Tatverdacht vorsieht, erlaubt das Opportunitätsprinzip unter bestimmten Umständen das Absehen von der förmlichen Anklage. Dies dient der Entlastung der Justiz und trägt dazu bei, geringfügige Delikte ohne belastende Gerichtsverfahren zu erledigen, sofern das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung fehlt oder durch andere Maßnahmen ausreichend gewahrt wird.

Welche Voraussetzungen müssen für eine Einstellung gemäß § 153 StPO vorliegen?

Für eine Einstellung nach § 153 StPO muss zunächst eine geringe Schuld des Täters festgestellt werden. Außerdem darf kein überwiegendes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung existieren, etwa zum Zweck der Generalprävention oder aus Gründen der Rechtsklarheit. Die Tat darf ferner weder ein Verbrechen noch eine erhebliche Straftat im Sinne der Strafprozessordnung sein. In der Praxis wird die geringe Schuld anhand des Umfangs des Schadens, der Persönlichkeitsstruktur des Täters, des Tatmotivs und des Verhaltens nach der Tat bewertet. In manchen Fällen kann die Zustimmung des Gerichts erforderlich sein, beispielsweise wenn ein Privatklagedelikt betroffen ist.

Welche Bedeutung haben Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung in diesem Zusammenhang?

Maßnahmen wie der Täter-Opfer-Ausgleich oder eine Schadenswiedergutmachung können für das Absehen von Anklageerhebung erhebliche Bedeutung haben. Erfolgreiche Bemühungen zur Wiedergutmachung wirken sich positiv auf die Verfahrenseinstellung aus, insbesondere bei Delikten mit geringem oder mittlerem Unrechtsgehalt. Nach § 153a StPO kann die Staatsanwaltschaft das Verfahren mit Zustimmung des Gerichts auch gegen Auflagen oder Weisungen einstellen, zu denen unter anderem die Schadenswiedergutmachung zählt. Ziel ist, sowohl dem Opfer als auch der Gesellschaft eine alternative Form des Ausgleichs zu bieten und eine gerichtliche Auseinandersetzung zu vermeiden.

Ist der Beschuldigte an einer Einstellung des Verfahrens beteiligt?

Grundsätzlich wird der Beschuldigte über eine beabsichtigte Einstellung des Verfahrens informiert. Insbesondere bei Einstellungen nach § 153a StPO ist seine Mitwirkung notwendig, da er den vorgeschlagenen Auflagen oder Weisungen ausdrücklich zustimmen muss. Die Einstellung nach § 153 StPO kann hingegen auch ohne Einverständnis des Beschuldigten erfolgen, wenngleich ihm ein förmlicher Einstellungsbescheid zuzustellen ist. Der Beschuldigte kann gegebenenfalls gegen die Einstellung Beschwerde einlegen, insbesondere wenn er ein Interesse an einem Freispruch hat.

Können Geschädigte einer Einstellung widersprechen?

Geschädigte haben grundsätzlich gewisse Rechte im Ermittlungsverfahren, etwa das Recht auf Akteneinsicht oder das Recht auf Information über den Stand des Verfahrens. Bei Privatklagedelikten wird die Einstellung des Verfahrens erst wirksam, wenn der Verletzte ihr ausdrücklich zustimmt (§ 153 Abs. 1 Satz 2 StPO). In anderen Fällen kann der Geschädigte zwar formlos Einwände äußern oder Beschwerde gegen die Verfahrenseinstellung erheben (§ 172 StPO), wobei ein Klageerzwingungsverfahren allerdings an strenge formale Voraussetzungen gebunden ist.

Welche Folgen hat eine Einstellung ohne Anklageerhebung für den Beschuldigten?

Erfolgt eine Verfahrenseinstellung ohne Anklageerhebung, so gilt der Beschuldigte weiterhin als nicht verurteilt – er ist unschuldig im Sinne der Unschuldsvermutung. Die Einstellung stellt weder eine Schuldfeststellung noch eine strafrechtliche Verurteilung dar und hat auch keine strafrechtlichen Nebenfolgen. Allerdings kann eine Einstellung gegen Auflagen oder Weisungen (z.B. Geldzahlung) mit der Erledigung bestimmter Pflichten verbunden sein, die der Beschuldigte erfüllen muss, um die endgültige Einstellung zu erlangen. In Einzelfällen wird die vorläufige Einstellung ins Bundeszentralregister eingetragen, erlangt aber keine Wirkung wie ein Strafregistereintrag.