Begriff und rechtliche Einordnung abgestimmter Verhaltensweisen
Abgestimmte Verhaltensweisen sind ein zentraler Begriff im europäischen und deutschen Kartellrecht. Sie zählen neben der formellen Vereinbarung und dem Beschluss zu den drei Kernelementen des Kartellverbots und dienen dem Schutz des Wettbewerbs auf den Märkten. Der Begriff umfasst Formen der Zusammenarbeit oder Koordination zwischen Unternehmen, die nicht notwendigerweise auf einer ausdrücklichen vertraglichen Grundlage beruhen, aber dennoch dazu führen, dass das Verhalten der beteiligten Marktteilnehmer nicht unabhängig ist und den Wettbewerb beeinträchtigt.
Grundlagen im EU-Kartellrecht
Die abgestimmten Verhaltensweisen wurden im Rahmen des Artikels 101 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gesetzlich normiert. Auch die deutsche Rechtsordnung, insbesondere das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), verweist in § 1 GWB ausdrücklich auf diesen Begriff im Kontext wettbewerbsbeschränkender Praktiken.
Neben der Vereinbarung (z. B. schriftlicher Kartellvertrag) und dem Beschluss (z. B. Satzungsbeschluss eines Verbandes), ist die abgestimmte Verhaltensweise das flexibelste Tatbestandsmerkmal zum Verbot wettbewerbswidrigen Verhaltens. Sie füllt insoweit eine Regelungslücke, indem sie auch konkludente, faktisch abgestimmte Koordinationen zwischen Unternehmen umfasst.
Merkmale abgestimmter Verhaltensweisen
Fehlen einer ausdrücklichen Vereinbarung
Eine abgestimmte Verhaltensweise liegt insbesondere dann vor, wenn keine formelle, schriftliche oder mündliche Absprache zwischen den Beteiligten besteht, jedoch eine tatsächliche Abstimmung nachgewiesen werden kann. Diese kann sich aus dem Austausch sensitiver Informationen oder einem abgestimmtem Vorgehen zum Beispiel bei Preisen, Konditionen, Kapazitäten oder Markteinführungsterminen ergeben.
Gegenseitige Willensübereinstimmung
Wesentlich ist das Vorliegen einer tatsächlichen gegenseitigen Willensübereinstimmung bezüglich bestimmter Marktverhaltensweisen. Diese muss nicht ausdrücklich kundgetan werden, sondern kann stillschweigend erfolgen. Die Beteiligten wissen um die parallele Abstimmung und richten ihr Verhalten bewusst aufeinander aus.
Ersatz unabhängigen Marktverhaltens
Für die Annahme einer abgestimmten Verhaltensweise ist entscheidend, dass Unternehmen in Kenntnis des Verhaltens der Marktteilnehmer oder aufgrund des wechselseitigen Informationsaustauschs ihre unternehmerischen Entscheidungen nicht mehr unabhängig, sondern aneinander angelehnt treffen. Die Koordination schließt ein sachlich-wettbewerbliches Marktverhalten und damit fairen Wettbewerb weitgehend aus.
Abgrenzung zu anderen Formen der Abstimmung
Vereinbarung
Anders als bei der ausdrücklichen Vereinbarung, bei der ein rechtsverbindlicher Akt der Beteiligten vorliegt, fehlt im Falle der abgestimmten Verhaltensweise die Verbindlichkeit im Sinne eines rechtlichen Vertrages.
Beschluss
Während ein Beschluss im kartellrechtlichen Sinne insbesondere als kollektive Willensbildung in Organen (z. B. Verbandsgremien) verstanden wird, liegt bei einer abgestimmten Verhaltensweise ein informeller, nicht formal beschlossener Abstimmungsprozess vor.
Zufälliges Parallelverhalten
Nicht jedes parallel laufende Marktverhalten stellt eine abgestimmte Verhaltensweise dar. Im Unterschied zu einer rein „parallelen Verhaltensweise“ als Folge normaler Marktmechanismen, ist für das Vorliegen einer Kartellrechtswidrigkeit stets der Nachweis eines kausalen Zusammenwirkens, einer bewussten Koordination, erforderlich.
Nachweis und Beweisproblematik
Indizienbeweis und Umstände
Mangels formeller Absprache wird das Vorliegen abgestimmter Verhaltensweisen häufig aus Indizien abgeleitet. Der Nachweis ergibt sich oft aus ungewöhnlich parallelem Verhalten sowie ergänzenden Umständen, wie beispielsweise wiederholtem Informationsaustausch, Teilnahme an informellen Treffen, gleichzeitigen Preiserhöhungen oder abgestimmten Angebotsabgaben.
Beweislast und Vermutungstatbestände
Innerhalb von Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren ist die Beweisführung häufig indiziell, wobei auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bestimmte Vermutungstatbestände anerkennt. Der Nachweis ist dennoch stets an strenge Anforderungen geknüpft; rein implizites Verhalten oder branchenübliche Praktiken genügen für sich genommen nicht.
Rechtsfolgen und Sanktionen
Nichtigkeit und Unwirksamkeit
Abgestimmte Verhaltensweisen, die das Wettbewerbsverhältnis beeinträchtigen oder beschränken, sind gem. Art. 101 Abs. 2 AEUV sowie § 1 GWB nichtig. Verträge oder Maßnahmen, die auf solch einer Abstimmung beruhen, entfalten keine Rechtswirksamkeit.
Bußgelder und Sanktionen
Teilnehmende Unternehmen und ihre verantwortlichen Organe können mit erheblichen Bußgeldern belegt werden. Die Europäische Kommission und das Bundeskartellamt sind in diesem Zusammenhang berechtigt, Ermittlungen einzuleiten, Durchsuchungen durchzuführen und Bußgelder zu verhängen. Neben finanziellen Sanktionen ist auch die öffentliche Bekanntgabe der Verstöße Teil der Rechtsfolgen, um präventive Wirkung zu entfalten.
Schadenersatzansprüche
Geschädigte Marktteilnehmer – etwa Wettbewerber oder Verbraucher – haben grundsätzlich Anspruch auf Schadensersatz, der aus abgestimmten Verhaltensweisen resultiert. Die Koordination kann hier unter Beachtung der Vorschriften der EU-Kartellschadensersatzrichtlinie sowie § 33a GWB zu umfassenden Ersatzforderungen führen.
Praxisrelevanz und Beispiele
Klassische Fallgestaltungen
- Preisabstimmungen: Unternehmensübergreifende Anhebung oder Fixierung von Preisen auf einer informellen Ebene.
- Ausschreibungskartelle: Abstimmung bei der Teilnahme an öffentlichen oder privaten Ausschreibungen, etwa durch Absprachen über Angebotsinhalte oder -preise.
- Informationsaustausch: Wiederholte Übermittlung sensibler Geschäftsdaten, um das Marktverhalten zu harmonisieren.
Abgrenzung zu zulässigen Abstimmungen
Nicht jeder Austausch zwischen Unternehmen ist per se unzulässig. Zulässig bleibt der innerverbandliche Meinungs- und Erfahrungsaustausch, soweit keine Preis-, Mengen- oder Konditionsdaten weitergegeben werden und keine gemeinsame Marktbearbeitung erfolgt. Grundsätzlich liegt die Beweislast für eine unzulässige Verhaltensabstimmung bei den Wettbewerbsbehörden.
Gesetzliche Grundlagen und maßgebliche Rechtsprechung
- Art. 101 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union)
- § 1 GWB (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen)
- Europäischer Gerichtshof (EuGH), Rechtsprechung – insb. Rspr. zu T-Mobile Netherlands (C-8/08), Suiker Unie (C-48/69), Hüls AG (C-199/92)
Die Definition und Anwendung abgestimmter Verhaltensweisen ist durch eine Vielzahl wegweisender Entscheidungen geprägt, die im Einzelfall die Anforderungen an den Nachweis und die Umschreibung des Tatbestandes weiter ausdifferenzieren.
Zusammenfassung
Abgestimmte Verhaltensweisen sind zentrale Instrumente im Kartellrecht zur Erfassung wettbewerbsbeschränkender Praktiken, die ohne formelle Absprache, aber dennoch mit koordinierendem Effekt stattfinden. Die genaue Abgrenzung und der Nachweis solcher Verhaltensweisen sind komplex und erfordern eine umfassende Einzelfallabwägung unter Beachtung der einschlägigen Rechtsnormen und richterlichen Leitlinien. Die effektive Sanktionierung dient der Sicherung eines funktionierenden Wettbewerbsmarktes innerhalb der Europäischen Union und in Deutschland.
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Konsequenzen drohen Unternehmen bei Verstößen gegen das Verbot abgestimmter Verhaltensweisen?
Bei Verstößen gegen das Verbot abgestimmter Verhaltensweisen drohen Unternehmen erhebliche rechtliche Konsequenzen. Zunächst können nationale Wettbewerbsbehörden wie das Bundeskartellamt in Deutschland oder die Europäische Kommission auf EU-Ebene empfindliche Geldbußen verhängen, die sich nach dem Umsatz des betroffenen Unternehmens richten und bis zu 10 % des weltweiten Jahresumsatzes betragen können. Darüber hinaus eröffnet ein solcher Verstoß die Möglichkeit für geschädigte Wettbewerber oder Geschäftspartner, zivilrechtliche Schadenersatzansprüche geltend zu machen. Auch individuelle Straf- und Bußgeldverfahren gegen verantwortliche Personen innerhalb des Unternehmens sind nach jeweiliger nationaler Gesetzgebung, etwa gemäß § 81 GWB (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen) möglich. In besonders schweren Fällen kann dies zu persönlichen Freiheitsstrafen führen, insbesondere bei kartellrechtlichen Hardcore-Verstößen wie Preis- oder Mengenabsprachen. Schließlich kann ein Verstoß auch reputationsschädigende Konsequenzen nach sich ziehen, da die Verfahren häufig öffentlich gemacht werden und Unternehmen von öffentlichen Ausschreibungen ausgeschlossen werden können.
Welche Rolle spielen Kronzeugenregelungen bei Ermittlungen zu abgestimmten Verhaltensweisen?
Kronzeugenregelungen sind im kartellrechtlichen Kontext ein zentrales Instrument zur Aufdeckung und Ahndung abgestimmter Verhaltensweisen. Unternehmen oder Einzelpersonen, die sich an einer wettbewerbswidrigen Absprache beteiligt haben, können durch die aktive Zusammenarbeit mit der Wettbewerbsbehörde – meist durch Offenlegung aller relevanten Tatsachen und Unterstützung der Ermittlungen – eine Reduktion oder vollständige Befreiung von Geldbußen erhalten (sog. „Leniency-Programm“). Voraussetzung dafür ist in der Regel, dass die Behörde mithilfe der Kronzeugenaussage die Beteiligten und genaue Art der Zuwiderhandlung aufdecken oder das Kartell beweissicher nachweisen kann. Kronzeugenregelungen sind detailliert rechtlich geregelt, beispielsweise in der Kronzeugenbekanntmachung der Europäischen Kommission oder den Leitlinien des Bundeskartellamts, und erfordern meist eine sofortige, umfassende und fortlaufende Kooperation.
Inwieweit müssen Unternehmen interne Compliance-Maßnahmen gegen abgestimmte Verhaltensweisen treffen?
Unternehmen sind zwar nicht gesetzlich ausdrücklich verpflichtet, Compliance-Maßnahmen zu implementieren, jedoch sind solche internen Kontrollen faktisch unerlässlich, um das Risiko wettbewerbswidrigen Verhaltens – insbesondere der Teilnahme an abgestimmten Verhaltensweisen – zu minimieren. Ein effektives Compliance-Management-System sollte regelmäßige Schulungen, klare Verhaltensrichtlinien, Überwachungs- und Meldepflichten sowie interne Ansprechstellen für wettbewerbsrechtliche Fragen umfassen. Nachweislich implementierte und gelebte Compliance-Maßnahmen können im Falle einer Ermittlungs- oder Sanktionsmaßnahme behördlich bußgeldmindernd berücksichtigt werden. Durch eine unterlassene oder mangelhafte Compliance steigt das Risiko, dass Verstöße unentdeckt bleiben und das Unternehmen für Fehlverhalten von Mitarbeitern haftet – im Sinne einer „Organisationsverschulden“-Haftung.
Können abgestimmte Verhaltensweisen auch dann vorliegen, wenn keine ausdrückliche Vereinbarung getroffen wurde?
Ja, im rechtlichen Sinne reicht bereits eine „konkurrierende Willensübereinstimmung“ aus; es bedarf keiner formellen oder schriftlichen Vereinbarung. Der rechtliche Begriff der abgestimmten Verhaltensweise fasst alle Formen der bewussten Koordination zwischen Unternehmen, die darauf abzielt, den Wettbewerb zu beschränken, etwa durch Informationsaustausch, abgestimmte Marktstrategien oder indirekte Signale. Entscheidend ist, dass das Verhalten auf einen „gemeinsamen Zweck“ gerichtet ist, ohne dass ein explizites Abkommen benötigt wird. Auch ein stillschweigendes Verständnis oder bloßes Parallelverhalten kann wettbewerbswidrig sein, sofern es auf eine bewusste Koordinierung zurückzuführen ist und nicht auf eine rein marktwirtschaftliche Anpassung an Konkurrenzverhalten.
Welche Unterschiede bestehen zwischen abgestimmten Verhaltensweisen und sonstigen Wettbewerbsbeschränkungen aus rechtlicher Sicht?
Der maßgebliche Unterschied liegt im Grad der Koordination: Während bei klassischen Kartellen oder Vereinbarungen zwischen Unternehmen eine explizite, meist vertragliche Abrede vorliegt, ist bei abgestimmten Verhaltensweisen die Koordination weniger formalisiert und erfolgt häufig informell oder implizit. Beide Formen sind jedoch nach Art. 101 AEUV bzw. §§ 1 und 2 GWB verboten, sofern sie eine Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken. Abgestimmte Verhaltensweisen sind daher besonders gefährlich, weil sie juristisch schwerer nachzuweisen sind, gleichzeitig aber die gleichen Sanktionen und rechtlichen Folgen wie explizite Kartellverträge nach sich ziehen können.
Gibt es Ausnahmen oder Rechtfertigungsgründe für abgestimmte Verhaltensweisen?
Das Recht erlaubt bestimmte Ausnahmen und Freistellungen für abgestimmte Verhaltensweisen, wenn sie die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV oder § 2 GWB erfüllen. Dazu zählen beispielsweise Konstellationen, in denen die Wettbewerbsbeschränkung zu Effizienzgewinnen führt, die an die Verbraucher weitergegeben werden, sowie die Einschränkung zur Erreichung legitimer Ziele unerlässlich und der Wettbewerb auf dem betroffenen Markt nicht vollständig ausgeschaltet wird. Typische Beispiele sind Technologietransfer-Vereinbarungen oder Forschungs- und Entwicklungskooperationen, die deutlich im öffentlichen Interesse liegen. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen solcher Ausnahmegründe liegt beim Unternehmen.
Wie erfolgt die Beweisführung und Feststellung abgestimmter Verhaltensweisen durch die Behörden?
Wettbewerbsbehörden bedienen sich bei der Nachweisführung einer Vielzahl von Beweismitteln, darunter E-Mails, Protokolle von Treffen, Kalendernotizen, Zeugenaussagen und Ergebnisse von Durchsuchungen. Die Schwelle für den Beweis ist oftmals niedriger als im zivilrechtlichen Kontext: Es genügt, wenn die Wahrscheinlichkeit eines abgestimmten Verhaltens aufgrund „objektiver Anhaltspunkte“ deutlich überwiegt. In der Praxis spielen elektronische Beweise und die Auswertung von Kommunikationsdaten eine wachsende Rolle. Insbesondere im Bereich des Informationsaustauschs kommt der Analyse von Marktverhalten („Parallelverhalten“) sowie dem Abgleich mit sonstigen, plausiblen Markterklärungen eine hohe Bedeutung zu. Die Beweislast trägt grundsätzlich die Ermittlungsbehörde, wobei Indizienbeweise und Vermutungen ausreichen können.