Abgestimmte Verhaltensweisen: Begriff, Hintergrund und Bedeutung
Abgestimmte Verhaltensweisen sind Verhaltensabstimmungen zwischen Unternehmen, die den Wettbewerb auf einem Markt beeinträchtigen können, ohne dass dafür eine ausdrückliche schriftliche oder mündliche Vereinbarung vorliegen muss. Gemeint ist ein bewusstes Zusammenwirken, bei dem sich Unternehmen über Marktverhalten – etwa Preise, Mengen, Kunden oder Gebietsaufteilungen – informell verständigen oder Hinweise austauschen und dadurch die Unsicherheit des Wettbewerbs reduzieren. Das Konzept ergänzt die klassische Kartellbildung um Fälle, in denen ein „Treffen der Willen“ nicht in einer formellen Absprache festgehalten ist, sich aber in koordiniertem Marktverhalten niederschlägt.
Das Verbot abgestimmter Verhaltensweisen dient dem Schutz wirksamen Wettbewerbs. Es soll verhindern, dass Unternehmen durch informelle Koordination die Risiken eigenständigen Marktverhaltens vermeiden und so Wettbewerbsvorgänge verfälschen. Erfasst werden sowohl Vorgänge innerhalb eines Staates als auch grenzüberschreitende Sachverhalte im Binnenmarkt.
Tatbestandliche Elemente
Abstimmungselement
Erforderlich ist ein Kontakt oder Informationsaustausch zwischen Unternehmen, der geeignet ist, ihr künftiges Marktverhalten vorhersehbarer zu machen. Das kann in Form direkter Gespräche, über Branchenverbände, digitale Plattformen oder Mittler geschehen. Schon der Austausch über geplante Preise, Kapazitäten oder strategische Absichten kann ausreichen, wenn er die Unabhängigkeit des Marktverhaltens beeinträchtigt.
Marktverhalten
Neben dem Kontakt muss sich ein entsprechendes Verhalten auf dem Markt zeigen, etwa parallele Preisänderungen, abgestimmte Produkteinführungen oder angeglichene Angebotsstrategien. Entscheidend ist nicht nur der Austausch, sondern auch dessen Niederschlag in der Praxis.
Ursächlicher Zusammenhang
Zwischen dem Kontakt und dem beobachteten Verhalten muss ein Zusammenhang bestehen. Wenn Unternehmen Informationen erhalten, die das eigene Verhalten beeinflussen können, und sich anschließend marktkonform verhalten, kann daraus auf eine Abstimmung geschlossen werden. Eine ausdrückliche Annahme der Information ist nicht zwingend nötig; in bestimmten Konstellationen kann das unkritische Verwenden der Information genügen.
Wettbewerbsbeschränkung
Die Abstimmung muss geeignet sein, den Wettbewerb zu beschränken. Das kann sich bereits aus dem Ziel der Abstimmung ergeben (etwa Preisabsprachen, Kundenzuteilungen, Angebotsabsprachen) oder aus ihren tatsächlichen Auswirkungen (zum Beispiel gedämpfter Preiswettbewerb, verringerte Innovationsanreize, erschwerte Marktzutritte).
Typische Erscheinungsformen
Informationsaustausch
Besonders relevant ist der Austausch sensibler, nicht-öffentlicher Informationen über künftige Preise, Rabatte, Kosten, Produktionsmengen, Kapazitäten, Lieferzeiten, Kundenlisten oder Angebotsstrategien. Auch mehrseitige Konstellationen über Mittler (sogenannte Hub-and-Spoke-Modelle), bei denen ein Vermittler Informationen zwischen Wettbewerbern zirkulieren lässt, können eine abgestimmte Verhaltensweise begründen.
Signalisierung und Einladungen zur Koordination
Unternehmen können durch öffentliche oder gezielte Hinweise eine Annäherung des Marktverhaltens anregen, etwa durch Ankündigungen künftiger Preisanpassungen oder „Tests“ von Reaktionsmustern der Konkurrenz. Schon Einladungen zur Koordination können rechtlich relevant sein, insbesondere wenn sie aufgegriffen werden.
Verbandsaktivitäten
Branchenverbände können zum Schauplatz sensibler Informationsflüsse werden. Treffen, Rundschreiben oder Arbeitskreise, in denen wettbewerblich sensible Zukunftsdaten ausgetauscht werden, bergen die Gefahr einer informellen Koordination. Unproblematisch sind demgegenüber in der Regel aggregierte, hinreichend veraltete oder öffentlich zugängliche Daten, sofern sie das individuelle Marktverhalten nicht vorhersehbar machen.
Paralleles Verhalten ohne Abstimmung
Gleichförmige Marktreaktionen können auch ohne Abstimmung entstehen, etwa durch ähnliche Kostenentwicklungen oder die Struktur des Marktes. Allein identische Preisschritte beweisen keine Abstimmung. Erforderlich sind zusätzliche Anhaltspunkte, die auf eine Verständigung hindeuten, zum Beispiel Kontakte oder der Austausch sensibler Zukunftsinformationen.
Abgrenzungen
Vereinbarung, Beschluss, abgestimmte Verhaltensweise
Das Kartellverbot erfasst verschiedene Erscheinungsformen: formelle Vereinbarungen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und abgestimmte Verhaltensweisen. Letztere schließen die Lücke zwischen ausdrücklichen Absprachen und rein einseitigem Verhalten und erfassen informelle oder stillschweigende Koordination.
Einmaliger Kontakt versus fortlaufender Austausch
Schon ein einmaliger Informationskontakt kann ausreichen, wenn er das anschließende Verhalten beeinflusst. Häufiger sind jedoch fortlaufende Kontakte, in denen Unternehmen wiederholt Informationen zur Feinabstimmung austauschen.
Einladung zur Abstimmung
Eine einseitige Einladung an Wettbewerber kann bereits rechtlich relevant sein, wenn sie aufgenommen wird oder wenn nach außen erkennbar darauf reagiert wird. Das bewusste Eingehen auf eine solche Einladung kann die Voraussetzungen einer abgestimmten Verhaltensweise erfüllen.
Beteiligte und Zurechnung
Unternehmen und Unternehmensvereinigungen
Erfasst sind alle wirtschaftlich tätigen Einheiten, unabhängig von Rechtsform und Größe, einschließlich Unternehmensvereinigungen wie Verbänden. Diese können sowohl selbst Adressaten des Verbots sein als auch ihren Mitgliedern koordinierende Plattformen bieten.
Unternehmensgruppen
Innerhalb von Konzernen kann die Verantwortung für Wettbewerbsverstöße einzelnen Gruppenunternehmen oder der herrschenden Einheit zugerechnet werden, wenn diese einen bestimmenden Einfluss ausübt. Maßgeblich ist die wirtschaftliche Einheit der verbundenen Unternehmen.
Vermittler, Plattformen und digitale Intermediäre
Auch Vermittler und Plattformen können in Konstellationen einbezogen sein, in denen sie Informationen zwischen Wettbewerbern weiterleiten oder Regeln vorgeben, die faktisch eine Koordination bewirken.
Beweis und Indizien
Direkter und indirekter Nachweis
Abgestimmte Verhaltensweisen werden selten offen dokumentiert. Behörden und Gerichte arbeiten deshalb häufig mit Indizien: Kommunikationsspuren, Kalendereinträge, E-Mails, Chatverläufe, parallele Verhaltensmuster oder auffällige Marktbewegungen.
Indizienlage und Gesamtwürdigung
Die Beurteilung erfolgt im Wege der Gesamtwürdigung. Relevant sind etwa die zeitliche Nähe zwischen Kontakten und Marktverhalten, die Marktstruktur (Transparenz, Konzentration), die Art der ausgetauschten Informationen und die Plausibilität alternativer Erklärungen.
Distanzierung und Nutzung empfangener Informationen
Wenn Unternehmen sensible Informationen von Wettbewerbern erhalten, kann die spätere Nutzung im Marktgeschehen als Indiz für eine Abstimmung gewertet werden. Eine klare Abgrenzung der eigenen Entscheidung von solchen Informationen ist für die rechtliche Bewertung bedeutsam.
Rechtsfolgen
Bußgelder und weitere Sanktionen
Abgestimmte Verhaltensweisen können erhebliche finanzielle Sanktionen nach sich ziehen. Diese orientieren sich regelmäßig an der Schwere und Dauer des Verstoßes sowie an der Unternehmensgröße. Auch natürliche Personen können in bestimmten Rechtsordnungen mit Sanktionen belegt werden.
Nichtigkeit und Unwirksamkeit
Rechtsakte, die auf einer wettbewerbsbeschränkenden Abstimmung beruhen, können unwirksam sein. Das betrifft etwa Klauseln oder Maßnahmen, die die Koordination umsetzen.
Zivilrechtliche Ansprüche
Geschädigte Marktteilnehmer können unter Umständen Ersatz für erlittene Nachteile verlangen. Zusätzlich kommen Unterlassungsansprüche in Betracht, um die Fortsetzung der Koordination zu verhindern.
Reputations- und Folgerisiken
Neben finanziellen Konsequenzen drohen Reputationsschäden, die Auswirkungen auf Geschäftsbeziehungen, Finanzierung und Personalgewinnung haben können.
Digitale Märkte und Algorithmen
Preisalgorithmen und Signalisierung
Der Einsatz von Algorithmen kann Wettbewerbsparameter schnell und transparent anpassen. Werden Algorithmen so genutzt oder gestaltet, dass sie auf vorhersehbare Weise ein Zusammenwirken mit Wettbewerbern fördern, kann dies als abgestimmte Verhaltensweise gewertet werden. Maßgeblich ist, ob die Technologie die Unabhängigkeit unternehmerischer Entscheidungen ersetzt oder untergräbt.
Daten, Plattformen und Transparenz
Hohe Marktransparenz, etwa durch Plattformen, Preisvergleichsdienste oder standardisierte Schnittstellen, kann Koordination erleichtern. Rechtlich entscheidend ist, ob durch gezielten Informationsfluss oder Strukturvorgaben ein koordiniertes Verhalten wahrscheinlicher wird.
Internationale Bezüge
Abgestimmte Verhaltensweisen können mehrere Rechtsordnungen betreffen. Maßgeblich ist regelmäßig, ob das Verhalten spürbare Wirkungen im jeweiligen Markt entfaltet. Nationale Behörden und europäische Institutionen arbeiten dabei oft zusammen und koordinieren Ermittlungen.
Verfahren und Durchsetzung
Ermittlungen und Auskunftsverlangen
Behörden nutzen Auskunftsverlangen, Durchsuchungen, Datensicherungen und Marktanalysen, um mögliche Abstimmungen aufzuklären. Unternehmen sind zur Mitwirkung im gesetzlich vorgegebenen Rahmen verpflichtet.
Kooperationsmechanismen
In vielen Rechtsordnungen existieren Mechanismen, die Aufklärung fördern, etwa besondere Programme für frühzeitige Mitteilungen über abgestimmte Verhaltensweisen. Die konkrete Ausgestaltung und Wirkung solcher Mechanismen variiert.
Häufig gestellte Fragen
Was unterscheidet abgestimmte Verhaltensweisen von formellen Kartellvereinbarungen?
Formelle Kartellvereinbarungen beruhen auf ausdrücklicher Einigung. Abgestimmte Verhaltensweisen erfassen informelle Koordination ohne schriftliche oder mündliche Vereinbarung, sofern ein aufeinander bezogenes Verhalten erkennbar ist, das den Wettbewerb beeinträchtigt.
Ist gleichförmiges Verhalten ohne Kontakt zwischen Unternehmen erlaubt?
Gleichförmiges Verhalten kann auch ohne Abstimmung entstehen, etwa durch ähnliche Kosten oder Nachfrageentwicklungen. Ohne Kontakte oder Informationsaustausch, die das Verhalten beeinflussen, liegt keine abgestimmte Verhaltensweise vor. Für eine Unterscheidung sind zusätzliche Indizien maßgeblich.
Welche Informationen gelten als besonders sensibel?
Besonders sensibel sind nicht-öffentliche, aktuelle und zukunftsbezogene Informationen über Preise, Rabatte, Kosten, Kapazitäten, Mengen, Kunden, Gebiete oder Angebotsstrategien. Ihr Austausch kann die Unabhängigkeit unternehmerischer Entscheidungen beeinträchtigen.
Kann ein einmaliges Treffen bereits eine abgestimmte Verhaltensweise begründen?
Ja, wenn dabei wettbewerblich sensible Informationen ausgetauscht werden und sich dieses Wissen im anschließenden Marktverhalten niederschlägt. Entscheidend ist der Zusammenhang zwischen Kontakt und Verhalten.
Wie weisen Behörden eine abgestimmte Verhaltensweise nach?
Der Nachweis erfolgt häufig über Indizien wie Kommunikationsspuren, Dokumente, zeitliche Koinzidenz von Kontakten und Marktverhalten, Markttransparenz und auffällige Parallelität. Bewertet wird die Gesamtschau aller Umstände.
Welche Rolle spielen Branchenverbände?
Verbände können Informationen bündeln und verbreiten. Wenn darüber wettbewerblich sensible, zukunftsbezogene Daten zwischen Wettbewerbern zirkulieren oder Verhaltensregeln faktisch Koordination fördern, kann dies eine abgestimmte Verhaltensweise begründen.
Können Algorithmen eine abgestimmte Verhaltensweise unterstützen?
Ja, wenn Algorithmen so genutzt oder gestaltet werden, dass sie das Verhalten zwischen Wettbewerbern koordinieren oder vorhersehbar aufeinander ausrichten. Maßgeblich ist, ob die Unabhängigkeit unternehmerischer Entscheidungen durch die technische Gestaltung ersetzt oder beeinträchtigt wird.