Begriff und Grundgedanke der aberratio ictus
Die Bezeichnung aberratio ictus (lateinisch für „Fehlgehen des Schlages“) beschreibt eine Konstellation, in der eine Person eine konkrete Zielperson oder ein konkretes Zielobjekt treffen will, der Angriff jedoch aufgrund eines Ausführungsfehlers eine andere Person oder ein anderes Objekt trifft. Der Wille war also auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, die tatsächliche Wirkung der Handlung traf aber ein anderes.
Definition in einfacher Sprache
aberratio ictus liegt vor, wenn jemand gezielt auf A zielt, aber irrtümlich B trifft. Es handelt sich um einen Irrtum bei der Ausführung der Handlung, nicht um einen Irrtum bei der Auswahl des Ziels.
Abgrenzung zu verwandten Irrtümern
Abgrenzung zum error in persona
Beim error in persona besteht der Irrtum bereits bei der Zielbestimmung: Die handelnde Person verwechselt Zielpersonen oder -objekte und trifft genau die Person oder das Objekt, die bzw. das sie – wenn auch in falscher Vorstellung – ausgewählt hatte. Bei der aberratio ictus hingegen ist die Zielperson richtig bestimmt, der Fehlschlag passiert erst bei der Ausführung (z. B. durch Verrutschen, Abprallen, schlechte Sicht oder Ablenkung).
Abgrenzung zur Abweichung im Kausalverlauf
Eine bloße Abweichung im Kausalverlauf betrifft den Ablauf zwischen Handlung und Erfolg, ohne dass das Zielobjekt wechselt. Die aberratio ictus zeichnet sich demgegenüber durch den Wechsel des getroffenen Zielobjekts aus.
Rechtliche Einordnung und Folgen
Vorherrschende Auffassung (Konkretisierungstheorie)
Nach verbreiteter Auffassung konkretisiert sich der Vorsatz auf das ursprünglich anvisierte Zielobjekt. Wird statt des anvisierten A der B getroffen, fehlt der Vorsatz hinsichtlich B. Die typischen Rechtsfolgen sind daher: Versuch hinsichtlich des anvisierten Ziels (A) und – sofern Sorgfaltspflichten verletzt und der Erfolg voraussehbar war – Fahrlässigkeitsverantwortung hinsichtlich des tatsächlich Getroffenen (B). Ob eine Fahrlässigkeit in Betracht kommt, hängt von Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit des irrtümlichen Erfolgs ab.
Abweichende Auffassung (Gleichwertigkeitstheorie)
Eine andere Sichtweise nimmt an, dass bei gleichwertigen Zielobjekten (z. B. zwei Menschen) der Vorsatz auf das tatsächlich getroffene Objekt „übertragen“ werden kann. Danach läge eine vollendete vorsätzliche Tat gegenüber B vor. Diese Auffassung betont die rechtliche Gleichwertigkeit der geschützten Güter, knüpft aber weniger an die tatsächliche Zielkonkretisierung an.
Auswirkungen auf Versuch, Vollendung und Fahrlässigkeit
In der Praxis führt die Konkretisierung des Ziels regelmäßig zu einer Kombination: versuchte vorsätzliche Tat gegenüber dem anvisierten Ziel und fahrlässige Tat (sofern der Tatbestand dies vorsieht) gegenüber dem tatsächlich Betroffenen. Eine vollendete vorsätzliche Tat gegenüber dem tatsächlich Betroffenen kommt nach dieser Sichtweise nur in Betracht, wenn der Vorsatz die Abweichung umfasst (etwa bei Alternativvorsatz).
Typische Fallgruppen
Personenschädigungen
Visiert die handelnde Person eine bestimmte Person an und trifft eine andere, liegt eine klassische aberratio ictus vor. Die Rechtsfolgen unterscheiden sich je nach Sichtweise und nach dem Vorliegen fahrlässigen Handelns. Besonderheiten können entstehen, wenn das tatsächlich betroffene Opfer besondere persönliche Merkmale aufweist, die das Delikt schärfer bewerten. Solche Merkmale werden nicht ohne Weiteres „übertragen“, wenn der Vorsatz auf eine andere Person konkretisiert war.
Sachdelikte
Wird eine bestimmte Sache angegriffen und eine andere beschädigt, stellt sich dieselbe Grundfrage: Vorsatz bezog sich auf die anvisierte Sache, während die tatsächliche Verletzung ein anderes Objekt betrifft. Auch hier ist maßgeblich, ob das Risiko des Fehlgehens erkennbar und beherrschbar war (Fahrlässigkeit) und ob die Objekte rechtlich gleichwertig sind.
Distanzdelikte und technische Einwirkungen
Bei Handlungen aus Distanz (z. B. Wurf, Schuss, Fernsteuerung) ist das Risiko eines Ausführungsfehlers erfahrungsgemäß erhöht. Das rechtliche Grundmuster bleibt jedoch gleich: konkrete Zielbestimmung, Ausführungsfehler, Treffer eines anderen Zielobjekts.
Besonderheiten bei Beteiligung mehrerer Personen
Mittäterschaft
Bei gemeinsamer Tatbegehung ist entscheidend, worauf sich der gemeinsame Plan bezog. War eine bestimmte Zielperson oder ein bestimmtes Zielobjekt vorgesehen, konkretisiert sich die gemeinsame Zielrichtung hierauf. Trifft ein Ausführungsfehler ein anderes Opfer, fehlt regelmäßig der gemeinsame Vorsatz bezüglich dieses Opfers. In Betracht kommen dann Versuch hinsichtlich des geplanten Ziels und – bei entsprechender Sorgfaltspflichtverletzung – Fahrlässigkeit hinsichtlich des tatsächlich Betroffenen. Abweichungen gelten, wenn die Abweichung vom Plan bewusst in Kauf genommen wurde.
Anstiftung und Beihilfe
Wer eine Tat auf ein bestimmtes Ziel veranlasst oder unterstützt, richtet seine innere Willensrichtung typischerweise auf dieses Ziel. Kommt es beim Haupttäter zu einer aberratio ictus, fehlt dem Teilnehmer regelmäßig der Vorsatz hinsichtlich des tatsächlich Getroffenen. In der Folge können Versuchskonstellationen bezüglich des angestrebten Ziels und gegebenenfalls Fahrlässigkeitsdelikte bezüglich des tatsächlich eingetretenen Erfolgs in Betracht kommen.
Besondere Konstellationen
Gleichwertigkeit des Tatobjekts
Sind anvisiertes und tatsächlich getroffenes Objekt rechtlich gleichwertig (z. B. zwei gleich geschützte Rechtsgüter), stellt sich besonders pointiert die Frage, ob der Vorsatz „übergeht“. Die Konkretisierungstheorie verneint dies und behält die Trennung Versuch/Fahrlässigkeit bei; die Gleichwertigkeitstheorie bejaht eher eine vorsätzliche Vollendung. Die Einordnung wirkt sich auf den Deliktstyp, den Schuldumfang und die Rechtsfolgen aus.
Alternativvorsatz und genereller Vorsatz
Ist die handelnde Person mit dem Eintritt des Erfolgs an einem von mehreren möglichen Zielobjekten einverstanden (Alternativvorsatz), kann der Vorsatz auch den tatsächlich Getroffenen erfassen. In solchen Fällen liegt trotz Abweichung in der Ausführung kein klassischer Fehlgang vor, weil der innere Wille mehrere Alternativen umfasst hat.
Abweichungen im Kausalverlauf
Kommt es zusätzlich zur Zielverwechslung zu einem ungewöhnlichen Kausalverlauf (z. B. mehrgliedrige, atypische Ketten), ist zu prüfen, ob der eingetretene Erfolg noch vom Vorsatz getragen und objektiv zurechenbar ist. Überschreitet der Verlauf den Rahmen des nach Lebenserfahrung Erwartbaren deutlich, kann vorsätzliches Handeln hinsichtlich des Erfolgs ausscheiden.
Irrtum über tatbezogene Merkmale des Opfers
Spezielle Eigenschaften des anvisierten Opfers (z. B. persönliche Merkmale, die die Bewertung der Tat verändern) „wandern“ bei der aberratio ictus grundsätzlich nicht auf das tatsächlich betroffene Opfer über. Umgekehrt können besondere Merkmale des tatsächlich getroffenen Opfers – soweit tatbestandlich relevant – zu einer anderen rechtlichen Einordnung führen, ohne dass dies vom ursprünglichen Vorsatz gedeckt ist.
Abgrenzungskriterien und Prüfungsreihenfolge
Praktische Leitgedanken zur Einordnung
– Zunächst ist zu klären, ob das Zielobjekt von Beginn an richtig bestimmt war. Falls ja und ein anderes Objekt getroffen wurde, spricht dies für aberratio ictus.
– Sodann ist zu prüfen, ob der Vorsatz Alternativen umfasste oder sich auf das anvisierte Objekt konkretisierte. Bei strikter Konkretisierung fehlt Vorsatz hinsichtlich des tatsächlich Getroffenen.
– Weiter ist zu bewerten, ob Fahrlässigkeit in Betracht kommt (Voraussehbarkeit, Vermeidbarkeit, Pflichtwidrigkeit).
– Bei mehreren Beteiligten ist zu untersuchen, ob der gemeinsame Plan bzw. die Förderungshandlung die Abweichung einschloss.
– Schließlich sind besondere Merkmale des Opfers und etwaige atypische Kausalverläufe zu berücksichtigen.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zur aberratio ictus
Was bedeutet aberratio ictus in einfachen Worten?
aberratio ictus heißt, dass jemand ein bestimmtes Ziel treffen will, aber aus Versehen ein anderes trifft. Der Irrtum entsteht bei der Ausführung, nicht bei der Auswahl des Ziels.
Worin liegt der Unterschied zum error in persona?
Beim error in persona wird das falsche Ziel von Anfang an ausgewählt und auch getroffen. Bei der aberratio ictus war das Ziel richtig gewählt, aber der Treffer geht fehl und trifft ein anderes Objekt.
Welche rechtlichen Folgen hat die aberratio ictus grundsätzlich?
Regelmäßig wird zwischen dem anvisierten und dem tatsächlich betroffenen Objekt unterschieden: Versuch hinsichtlich des anvisierten Ziels und – bei entsprechender Pflichtverletzung – Fahrlässigkeit bezüglich des tatsächlich eingetretenen Erfolgs. Eine vollendete vorsätzliche Tat gegenüber dem tatsächlich Getroffenen setzt besonderen Vorsatz oder erweiterte Willensrichtung voraus.
Spielt die Gleichwertigkeit des Tatobjekts eine Rolle?
Ja. Bei gleichwertigen Objekten vertreten manche die Auffassung, der Vorsatz könne auf das tatsächlich getroffene Objekt übergehen. Andere halten am Grundsatz fest, dass der Vorsatz auf das konkret anvisierte Objekt beschränkt bleibt.
Wie wirkt sich die aberratio ictus bei Mittäterschaft und Teilnahme aus?
Maßgeblich ist, worauf sich der gemeinsame Plan oder die Förderung bezog. Regelmäßig fehlt Vorsatz hinsichtlich des tatsächlich Getroffenen, sodass Versuch hinsichtlich des Zielobjekts und gegebenenfalls Fahrlässigkeit hinsichtlich des tatsächlich Betroffenen in Betracht kommen.
Welche Bedeutung hat ein ungewöhnlicher Kausalverlauf?
Ist der Verlauf zwischen Handlung und Erfolg atypisch und überschreitet den erwartbaren Rahmen deutlich, kann der Vorsatz den eingetretenen Erfolg nicht mehr tragen. Dann kommt eine Bewertung als Fahrlässigkeitsgeschehen in Betracht, sofern die Voraussetzungen vorliegen.
Was ist Alternativvorsatz und warum ist er wichtig?
Alternativvorsatz liegt vor, wenn die handelnde Person mehrere mögliche Zielobjekte in Kauf nimmt. Trifft sie eines dieser Objekte, kann der Vorsatz den Erfolg erfassen, sodass keine klassische aberratio ictus vorliegt.
Werden besondere Merkmale des Opfers „übertragen“?
Besondere Merkmale des anvisierten Opfers gelten nicht automatisch für das tatsächlich getroffene Opfer. Umgekehrt können Merkmale des tatsächlich getroffenen Opfers die rechtliche Bewertung beeinflussen, ohne dass dies vom ursprünglichen Vorsatz umfasst war.