Begriff und rechtliche Grundlagen der aberratio ictus
Definition der aberratio ictus
Der Begriff aberratio ictus stammt aus dem Lateinischen und bedeutet wörtlich übersetzt „Abirrung des Schlages“. Er bezeichnet im Strafrecht einen Irrtum über das tatsächliche Ziel einer Handlung, insbesondere eines Angriffs. Konkret wird unter aberratio ictus die Konstellation verstanden, in der der Täter zwar einen Angriff auf ein bestimmtes Opfer beabsichtigt, jedoch tatsächlich ein anderes Opfer – regelmäßig unbeabsichtigt – trifft und verletzt oder tötet.
Abgrenzung zu verwandten Irrtumsformen
Die aberratio ictus ist insbesondere von der error in persona (Irrtum über die Identität der getroffenen Person) sowie dem untauglichen Versuch abzugrenzen. Während bei der error in persona der Täter das Ziel trifft, auf das sich sein Vorsatz bezog, sich jedoch in der Identität der Zielperson irrt, liegt bei der aberratio ictus eine Diskrepanz zwischen geplantem und real getroffenem Objekt vor. Der untaugliche Versuch hingegen liegt vor, wenn der Angriff von vornherein nicht zur Erfolgsherbeiführung geeignet ist.
Voraussetzungen und Anwendungsbereich
Die aberratio ictus setzt voraus, dass der Täter einen Angriff mit Tötungs- oder Verletzungsabsicht gegen ein konkretes, individuell bestimmtes Ziel (Zielobjekt) richtet, der Erfolg jedoch an einem anderen, ebenfalls tauglichen Objekt eintritt. Klassisch relevant ist die aberratio ictus bei vorsätzlichen Delikten gegen Leib oder Leben, etwa Körperverletzung oder Totschlag beziehungsweise Mord.
Strafrechtliche Einordnung der aberratio ictus
Vorsatz und Irrtum im Strafrecht
Im Strafrecht ist für die Beurteilung des Täters zwischen Vorsatz und Irrtum zu unterscheiden. Entscheidend ist, ob der Vorsatz des Täters den tatsächlich eingetretenen Erfolg oder das getroffene Opfer umfasste.
Irrtum über den Handlungserfolg
Bei der aberratio ictus möchte der Täter typischerweise einen Menschen A durch eine Handlung verletzen, trifft jedoch durch einen vom Vorsatz nicht umfassten Umstand tatsächlich eine andere Person B und verletzt sie.
Rechtsfolgen der aberratio ictus
Fehlgehen des Vorsatzes (Vorsatzkonkurrenz)
In der deutschen Strafrechtswissenschaft wird die aberratio ictus üblicherweise so behandelt, dass hinsichtlich des getroffenen, nicht anvisierten Opfers B eine fahrlässige Tatbegehung vorliegt, sofern der Täter die Verletzung des Opfers B nicht vorausgesehen oder billigend in Kauf genommen hat. Der Versuch hinsichtlich des anvisierten, aber nicht getroffenen Opfers A bleibt als Versuch strafbar. Es liegt also Tateinheit von Versuch und Fahrlässigkeitsdelikt oder, bei umfassendem Vorsatz, ein vollendetes vorsätzliches Delikt an B vor.
Gleichwertigkeit der betroffenen Rechtsgüter
Ist das anvisierte und das tatsächlich getroffene Opfer gleichartig (etwa beides Menschenleben), so spricht man vom (formal) gleichwertigen Rechtsgut. Die h.M. nimmt dennoch eine Aufteilung in Versuch (am gewünschten Ziel) und Fahrlässigkeit (am getroffenen Ziel) vor, da sich der Vorsatz nicht auf die konkrete Person bezieht.
Irrtum über das geschützte Rechtsgut
Liegt die aberratio ictus bei verschiedenen Rechtsgütern vor (etwa Beschädigung von Sachen statt Personen), kann der Täter für das vorsätzlich nicht beeinträchtigte Rechtsgut ggf. nur wegen Versuches, für das unbeabsichtigt getroffene Rechtsgut hingegen ggf. wegen Fahrlässigkeit strafbar sein.
Praktische Fallbeispiele zur aberratio ictus
Typische Konstellationen
- Schusswaffe: Ein gezielter Schuss auf Opfer A verfehlt das Ziel und trifft zufällig den dahinterstehenden B.
- Wurfgeschoss: Ein Stein oder Messer wird auf Opfer A geworfen, trifft jedoch B.
- Vergiftungen: Gift wird für eine bestimmte Person bestimmt, aber eine andere Person nimmt unbeabsichtigt das präparierte Essen zu sich.
Besondere Fallgruppen
Die Bewertung der aberratio ictus variiert je nach Einzelfall, insbesondere bei Massenunfällen, Gruppendelikten oder Anschlägen, bei denen der Täter nicht auf ein individuelles Opfer, sondern auf eine abstrakte Menschenmenge zielt.
Systematische Stellung und dogmatische Diskussion
Dogmatische Ansätze
In der Literatur und Rechtsprechung werden zwei Hauptansätze diskutiert:
- Konkretisierungstheorie: Hier wird auf das vom Täter konkret anvisierte Individuum abgestellt. Das tatsächlich getroffene Opfer ist nicht vom Vorsatz umfasst, sodass eine Versuchsstrafbarkeit am Zielobjekt sowie eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit am tatsächlich getroffenen Objekt angenommen wird.
- Gleichwertigkeitstheorie: Diese Theorie betont die Gleichwertigkeit der Rechtsgüter und nimmt an, dass der Vorsatz des Täters auf jedes gleichwertige Objekt bezogen werden kann, sodass der Erfolg auch vorsätzlich verwirklicht erscheint.
Die herrschende Meinung (Konkretisierungstheorie) wird überwiegend in Rechtsprechung und Literatur vertreten, wohingegen die Gleichwertigkeitstheorie in Ausnahmefällen, etwa bei anonymen Angriffen auf eine Vielzahl von Gleichartigen (z.B. Menschen in einem Zugabteil), Bedeutung erlangen kann.
Relevanz für die Strafzumessung
Die Einordnung der aberratio ictus kann für das Strafmaß erhebliche Relevanz besitzen, insbesondere bei schweren Folge- und Erfolgsdelikten. Dabei ist tatbestandsbezogen zu prüfen, welcher objektive und subjektive Tatbestand verwirklicht wurde.
Rechtsprechung und Literatur zur aberratio ictus
Höchstrichterliche Rechtsprechung
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) bestätigt in ständiger Rechtsprechung, dass bei aberratio ictus grundsätzlich die Versuchsstrafbarkeit hinsichtlich des avisierten Objekts sowie die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit hinsichtlich des tatsächlich getroffenen Objekts vorausgesetzt wird, sofern ein Fahrlässigkeitsdelikt einschlägig ist (vgl. etwa BGHSt 15, 340; BGHSt 35, 367).
Wissenschaftliche Diskussionen und Entwicklungen
Die Entwicklung der aberratio ictus-Problematik im deutschsprachigen Rechtskreis zeichnet sich durch fortwährende Diskussionen, insbesondere zu Spezialfällen, Gruppen- oder Kollektivdelikten sowie neuen technischen Tatmodalitäten aus.
Zusammenfassung der wesentlichen Aspekte
Die aberratio ictus ist ein wichtiger Begriff des Strafrechts, der die Verfehlung des Ziels einer vorsätzlichen Handlung beschreibt. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung ist, dass der Täter nicht erfolgreich das von ihm beabsichtigte Ziel trifft, sondern ein anderes objekt betroffen ist. Die Konsequenz daraus ist regelmäßig das Zusammentreffen von Versuch und Fahrlässigkeitsdelikt, wobei die genaue Einordnung von der Ausgestaltung des Einzelfalls und dem betroffenen Rechtsgut abhängt. Die Thematik ist sowohl von erheblicher praktischer Bedeutung als auch fortwährend Gegenstand rechtswissenschaftlicher Diskussionen.
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Folgen ergeben sich bei einer aberratio ictus im deutschen Strafrecht?
Im deutschen Strafrecht führt die aberratio ictus, also die Fehlleitung eines Angriffes auf ein anderes als das ursprünglich anvisierte Tatobjekt, zu einer differenzierten rechtlichen Bewertung. Grundsätzlich kommt es darauf an, ob bezüglich des tatsächlich getroffenen Objektes (Opfers) Vorsatz vorliegt. In der Regel geht die Rechtsprechung davon aus, dass der Vorsatz des Täters sich auf das anvisierte, nicht aber das tatsächlich getroffene Tatobjekt bezieht. Der Täter haftet hinsichtlich desjenigen, der tatsächlich getroffen wurde, in der Regel nur wegen Fahrlässigkeit, es sei denn, er hatte auch Vorsatz insoweit (beispielsweise im Rahmen eines dolus eventualis). Problematisch ist dies insbesondere bei Erfolgsdelikten wie Totschlag oder Körperverletzung. Zusätzlich wird der Versuch am ursprünglich anvisierten Ziel angenommen, sodass der Täter wegen eines vollendeten Fahrlässigkeitsdelikts am getroffenen Objekt und wegen Versuchs am anvisierten Objekt bestraft werden kann (sog. Konkurrenzen). Die genauen Rechtsfolgen hängen jedoch vom jeweiligen Tatbestand und den individuellen Umständen ab.
Wie wird die aberratio ictus von der error in persona abgegrenzt?
Die Abgrenzung zwischen aberratio ictus und error in persona ist im Strafrecht von großer Bedeutung. Während bei der aberratio ictus der Täter das Opfer verfehlt und ein anderes als das anvisierte Opfer trifft (z. B. A zielt auf B und trifft C), handelt es sich bei der error in persona um einen Irrtum über die Identität oder Eigenschaft des Opfers (z. B. A hält C für B und trifft C, obwohl er B treffen wollte). Rechtlich wird bei der error in persona der Irrtum grundsätzlich dem Vorsatz nicht entgegengehalten, sofern das Tatobjekt gleichwertig ist (z. B. Mensch statt Mensch beim Totschlag). Bei der aberratio ictus hingegen wird regelmäßig angenommen, dass sich der Vorsatz nur auf das anvisierte Opfer bezieht und sich deshalb der Vorsatz nicht auf das tatsächlich getroffene Opfer erstreckt. Die Dogmatik und die daraus resultierende Strafbarkeit werden je nach Fallkonstellation unterschiedlich behandelt.
Muss bei einer aberratio ictus ein Versuch hinsichtlich des ursprünglichen Opfers angenommen werden?
Ja, nach ganz herrschender Meinung in Rechtsprechung und Literatur ist bei einer aberratio ictus regelmäßig ein strafbarer Versuch hinsichtlich des ursprünglich anvisierten Tatobjekts anzunehmen. Dies folgt daraus, dass sich der Vorsatz des Täters auf dieses Objekt bezieht, der Erfolg jedoch ausbleibt, weil die Handlung fehlgeleitet wird und stattdessen ein anderes Objekt getroffen wird. Damit scheitert die Vollendung der Tat am gewollten Ziel, sodass insoweit der Versuchsstrafbarkeit Raum zu geben ist. Im Ergebnis führt dies dazu, dass der Täter regelmäßig wegen eines Versuchsdelikts und (je nach Vorsatz oder Fahrlässigkeit) eines vollendeten Delikts hinsichtlich des tatsächlich getroffenen Objektes bestraft werden kann.
Wie behandelt das deutsche Strafrecht die Strafbarkeit gegenüber dem tatsächlich getroffenen Opfer?
Im deutschen Strafrecht wird beim tatsächlich getroffenen Opfer unterschieden, ob auch bezüglich dieses Opfers Vorsatz vorliegt oder lediglich Fahrlässigkeit. In der klassischen Konstellation der aberratio ictus fehlt der Vorsatz gegenüber dem tatsächlich getroffenen Opfer, sodass der Täter regelmäßig nur wegen eines Fahrlässigkeitsdeliktes haftbar gemacht werden kann – sofern ein solches gesetzlich vorgesehen ist (wie beispielsweise bei fahrlässiger Körperverletzung). Liegt jedoch dolus eventualis hinsichtlich des tatsächlichen Opfers vor, kann eine Strafbarkeit wegen eines vorsätzlichen Vollendungsdelikts in Betracht kommen. Problematisch und umstritten bleibt, ob und inwieweit ein Übergang des Vorsatzes auf das tatsächlich getroffene Opfer möglich ist (Stichwort: Gleichwertigkeitstheorie).
Kommt Konkurrenz zwischen Versuch und Vollendung bei aberratio ictus in Betracht?
Ja, bei der aberratio ictus besteht regelmäßig eine unechte Konkurrenz (Idealkonkurrenz) zwischen dem Versuch am anvisierten Opfer und der Vollendung (Fahrlässigkeit oder Vorsatz, je nach Fall) am tatsächlich getroffenen Opfer. Nach § 52 StGB werden diese Tateinheiten rechtlich als eine Tat gewertet, sofern sie auf einer einzelnen Handlung beruhen. Die Gerichte führen dies auf den sogenannten Handlungseinheitlichkeitsgrundsatz zurück. Die exakte Konkurrenzlage ist jedoch abhängig vom konkreten Sachverhalt, insbesondere davon, ob das Treffen des falschen Opfers als fahrlässig oder als Eventualvorsatz einzustufen ist.
Gibt es im deutschen Strafrecht Sonderregeln bei aberratio ictus im Rahmen von Beteiligungsformen (Mittäterschaft, Anstiftung)?
Die aberratio ictus stellt sich im Zusammenhang mit Täterschaft und Teilnahme, insbesondere bei Mittäterschaft oder Anstiftung, als besonders problematisch dar. Grundsätzlich richtet sich die Strafbarkeit der Beteiligten nach ihrem jeweiligen Vorsatz. Hat beispielsweise der Mittäter nur auf das anvisierte Opfer seinen Vorsatz gerichtet und der Aberratio erfolgt beim anderen Mittäter, ist fraglich, ob alle Beteiligten hinsichtlich des tatsächlich getroffenen Opfers strafbar sind. Hier entfaltet die sogenannte „limitierte Akzessorietät“ ihre Wirkung: Die Strafbarkeit der Anstifter und Gehilfen hängt vom Vorsatz des Haupttäters ab und davon, ob die aberratio ictus für die anderen Beteiligten voraussehbar oder abgedeckt war. Besonders in Fällen der Mittäterschaft wird diskutiert, ob alle Mittäter für den aberrationserfolghaften Treffer verantwortlich sind, oder nur der unmittelbar Handelnde.
Wie beurteilen Rechtsprechung und Literatur die sogenannte Gleichwertigkeitstheorie bei aberratio ictus?
Die Gleichwertigkeitstheorie vertritt die Auffassung, dass bei gleichwertigen Tatobjekten (z. B. Mensch statt Mensch) der Täter auch für das tatsächlich getroffene Objekt vorsätzlich haftbar gemacht werden kann, da der persönliche Bezug beim Unrecht der Tat in den Hintergrund trete. Die herrschende Rechtsprechung lehnt die Gleichwertigkeitstheorie jedoch weitgehend ab und bleibt bei einer individualisierten Vorsatztheorie, wonach für jedes Tatobjekt gesondert geprüft wird, ob ein Vorsatz vorliegt. Die Gleichwertigkeitstheorie wird vor allem aus Gründen der Strafzwecktheorie diskutiert, konnte sich jedoch in der praktischen Anwendung bislang nicht durchsetzen. Dennoch bleibt sie ein wichtiges Argument in der strafrechtlichen Literatur und führt regelmäßig zu Diskussionsanlässen bei Grund- und Examensfällen.