Keine Verpflichtung zur Barabfindung der Aktionäre bei Delisting
Mit Beschluss vom 8. Oktober 2013 (Az. II ZB 26/12) hat der Bundesgerichtshof (BGH) eine Klarstellung zur rechtlichen Behandlung des vollständigen Rückzugs einer Aktiengesellschaft von der Börse (sogenanntes „Delisting“) getroffen. Im Kern entschieden die Richter, dass Aktionäre bei einem freiwilligen Delisting kein zwingendes Angebot auf eine Barabfindung ihrer Anteile vom Unternehmen erhalten müssen. Dieses Urteil markiert einen gewichtigen Meilenstein in der kapitalmarktrechtlichen Dogmatik und verdeutlicht die Grenzen des Anlegerschutzes im Kontext eines Börsenrückzugs. Im Folgenden werden die Hintergründe, die relevanten rechtlichen Maßstäbe sowie die Auswirkungen auf die beteiligten Marktteilnehmer näher beleuchtet.
Ausgangslage und bisherige Rechtslage
Hintergrund des Delistings
Unternehmen, deren Aktien an einer Börse gehandelt werden, können den Handel auf Antrag beenden lassen. Dieser Rückzug vom börslichen Handel – das sogenannte Delisting – ist im Aktiengesetz und in den Regularien der Börsen geregelt. Bislang war umstritten, ob die Aktionäre, die ihre Anteile nach dem Delisting nicht mehr liquide an einer Börse veräußern können, einen Anspruch auf Ausgleich in Form einer Barabfindung gegenüber der Gesellschaft haben.
Bisherige Auffassungen in Literatur und Rechtsprechung
Ein wesentlicher Kritikpunkt bestand darin, dass der Börsenrückzug einer Gesellschaft die Handelbarkeit und damit den Verkehrswert der Aktie beeinträchtigt. Einige Stimmen forderten daher, das Delisting an ein Pflichtangebot zur Barabfindung zu koppeln, ähnlich wie bei anderen Strukturmaßnahmen, die tief in die Position der Anteilseigner eingreifen (beispielsweise Beherrschungs- oder Gewinnabführungsverträge).
Entscheidung des Bundesgerichtshofs
Kernaussage der Entscheidung
Der BGH hat klargestellt, dass die interessenbezogene Abwägung der Aktionäre im Fall eines Delistings nicht zwingend zur Verpflichtung einer Barabfindung führt. Maßgeblich sei – neben der grundsätzlichen unternehmerischen Entscheidungsfreiheit – die Tatsache, dass die Eigentumsposition der Anteilsinhaber durch das Delisting nicht so substantiell beeinträchtigt werde, dass eine Abfindung geboten erscheint. Der Rückzug von der Börse bewirkt keine eigentumsrechtliche Entziehung der Aktie; sie bleibt im Vermögen des Aktionärs, auch wenn der Marktwert sinken und die Handelbarkeit eingeschränkt werden kann.
Begründung des BGH
Der Bundesgerichtshof stützt sich maßgeblich auf die Erwägung, dass das Aktiengesetz für das Delisting keinen Abfindungsanspruch normiert. Zudem sei ein solcher Anspruch auch nicht analog aus vergleichbaren gesellschaftsrechtlichen Konstellationen ableitbar. Die Entscheidung verweist auf die Eigenverantwortung der Aktionäre bei Anlageentscheidungen und betont, dass das Delisting als Eingriff in mitgliedschaftliche Rechte zu qualifizieren ist, dem Gesetz nach aber keine besondere Kompensation verlangt.
Abgrenzung zu anderen Strukturmaßnahmen
Im Unterschied zu Eingriffen wie dem Squeeze-out oder dem Eingreifen von Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen – bei denen tatsächliche Verschiebungen von Vermögenssubstanz oder Stimmrechten stattfinden – bleibt die Kernposition des Aktionärs bestehen. Die Einschränkung der Fungibilität der Aktien nach einem Delisting ist nach Auffassung des BGH hinzunehmen, solange keine gesetzliche Regelung etwas anderes vorsieht.
Auswirkungen auf Gesellschaften und Aktionäre
Konsequenzen für Emittenten
Aus Sicht börsennotierter Gesellschaften bedeutet das Urteil Planungssicherheit und gibt ihnen die Möglichkeit, die Notierung ihrer Aktien ohne zwingende finanzielle Belastungen durch ein Barabfindungsangebot zu beenden. Dies eröffnet insbesondere in Situationen, in denen der Börsenstatus für das Unternehmen nicht mehr von strategischem Vorteil ist, einen flexibleren Handlungsspielraum.
Folgen für Aktionäre
Für Anleger bringt die Entscheidung eine Einschränkung des Schutzes beim Rückzug eines Unternehmens vom organisierten Markt. Sie müssen im Falle eines Delistings akzeptieren, dass ihre Aktien künftig weniger liquide sind und ihr Marktwert sinken kann, ohne hierfür automatisch einen finanziellen Ausgleich zu erhalten. Die Eigentümerstellung und damit alle weiteren Aktionärsrechte bleiben jedoch gewahrt.
Wesentliche Bewertungsaspekte und Perspektiven
Gesetzgeberischer Rahmen und Reformoptionen
Die Entscheidung offenbart eine Lücke in der gesetzlichen Systematik, da nach wie vor keine ausdrückliche Regelung für den Umgang mit den Interessen der Aktionäre im Delisting-Fall existiert. Diskussionen um eine gesetzliche Kodifizierung oder Anpassung der Schutzmechanismen halten an. Damit bleibt die Rechtslage in diesem Bereich ein Feld für potenzielle Weiterentwicklungen durch den Gesetzgeber.
Praxisrelevanz und Handlungsbedarf
Marktteilnehmer sollten sich der aktuellen Rechtslage stets bewusst sein und deren Auswirkungen auf Strukturentscheidungen und Portfolio-Strategien angemessen bewerten. Insbesondere ist das Thema für Anleger relevant, die Beteiligungen an Unternehmen mit geringer Marktkapitalisierung oder geringer Börsenbindung halten.
Sollten bei der Bewertung oder der Umsetzung eines Delistings oder hinsichtlich der Rechte von Aktionären Unsicherheiten bestehen, empfiehlt sich die konsolidierte Prüfung und Begleitung durch rechtskundige Instanzen. Bei weitergehenden Fragen zur rechtlichen Behandlung des Rückzugs von der Börse und den damit verbundenen Rechte- und Pflichtenkonstellationen stehen die Rechtsanwälte von MTR Legal für eine persönliche Abstimmung zur Verfügung.