Gerichtliche Ergänzung des Aufsichtsrats in besonderen Eilfällen: Rechtliche Rahmenbedingungen und aktuelle Entwicklungen
Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat mit Beschluss vom 17. Januar 2022 (Az.: 20 W 52/20 und 20 W 9/22) bedeutsame Klarstellungen zu den Voraussetzungen der gerichtlichen Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern im Rahmen dringlicher gesellschaftsrechtlicher Sachverhalte getroffen. Der Anlass der Entscheidung war ein Übernahmeangebot, das eine zeitnahe Handlungsfähigkeit des Aufsichtsrats erforderte. Die nachfolgenden Ausführungen greifen die wesentlichen Inhalte des Beschlusses auf und ordnen diese in die Gesamtzusammenhänge des Aktienrechts ein.
Das aktienrechtliche Erfordernis der Aufsichtsratsbesetzung
Der Aufsichtsrat als zentrales Organ der Aktiengesellschaft ist in § 95 Abs. 1 AktG hinsichtlich seiner personellen Zusammensetzung streng geregelt. Die Satzung der Gesellschaft legt die konkrete Mitgliederzahl fest. Kommt es zu Ausscheiden oder sonstigen Gründen für eine Vakanz, regelt § 104 Abs. 1 AktG die Möglichkeit einer gerichtlichen Bestellung. Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist eine solche gerichtliche Ergänzung „auf Antrag eines Beteiligten zu treffen, wenn eine ordnungsgemäße Bestellung auf andere Weise nicht unverzüglich vorgenommen werden kann“.
Üblicherweise sieht das Gesetz eine Frist von drei Monaten vor, innerhalb derer die Gesellschaft selbst für die Nachbesetzung sorgen kann. Erst nach Ablauf dieser Frist ist grundsätzlich eine Bestellung durch das Gericht angezeigt.
Aufsichtsratsbesetzung in außergewöhnlichen Eilfällen
Das OLG Frankfurt am Main hat nun herausgestellt, dass diese grundsätzliche Drei-Monats-Frist in Ausnahmesituationen hinter die Pflicht zur unverzüglichen Handlungsfähigkeit des Organs zurücktreten muss. Konkret war im verhandelten Fall ein Übernahmeangebot eingegangen, das eine kurzfristige, vollständige Beratung und Entscheidung durch den satzungsgemäß vorgesehenen Aufsichtsrat erforderte.
Dringlichkeit als maßgeblicher Faktor
Die Situation war von einem besonderen Zeitdruck gekennzeichnet; das Fehlen der erforderlichen Anzahl von Aufsichtsratsmitgliedern wäre mit erheblichen Nachteilen für die Gesellschaft verbunden gewesen. In solchen Fällen ist es mit der gesetzlichen Aufgabenstellung des Aufsichtsrats nicht vereinbar, eine monatelange Vakanz hinzunehmen.
Für die Entscheidung war somit nicht nur der Ablauf der Drei-Monats-Frist maßgeblich, sondern vielmehr die konkrete Erforderlichkeit einer vollständigen Besetzung aus Gründen der Funktionsfähigkeit und Compliance mit gesetzlichen sowie satzungsmäßigen Pflichten. Das Gericht stellte klar, dass die gerichtliche Bestellung bereits vorzeitig erfolgen kann, wenn andernfalls eine rechtzeitige Aufgabenerfüllung des Aufsichtsrats objektiv gefährdet wäre.
Unternehmensinteressen und rechtliche Absicherung
Die Tragweite dieser Entscheidung liegt insbesondere in dem präventiven Schutz der Gesellschaftsinteressen. Eine zügige Nachbesetzung kann insbesondere bei wesentlichen Strukturmaßnahmen (wie etwa klassischen Übernahmeangeboten, Umstrukturierungen oder der Entscheidung über Matters of Material Significance) für die Handlungsfähigkeit des Aufsichtsrats unerlässlich sein.
Bedeutung für die Praxis
Unternehmensleitungen und Anteilseigner müssen sich bewusst sein, dass in wichtigen Entscheidungsphasen die effektive Besetzung des Aufsichtsrats nicht nur eine Frage organsiatorischer Gestaltung, sondern auch der Risikosteuerung ist. Gesetz und Rechtsprechung stellen hier auf die Verhinderung von Blockaden oder Verzögerungen ab, die sich negativ auf die Gesellschaft auswirken könnten.
Verfahrensrechtliche Hinweise und fortlaufende Entwicklungen
Es ist zu beachten, dass dem Beschluss des OLG Frankfurt ein konkretes Einzelfallverfahren zugrunde lag und dessen Tragweite für andere Fälle sorgfältig geprüft werden muss. Die Unverzüglichkeit der gerichtlichen Bestellung ist stets anhand der jeweiligen Gegebenheiten zu bewerten. Insbesondere sollten potenziell betroffene Gesellschaften frühzeitig überprüfen, ob besondere Dringlichkeitslagen vorliegen, die eine Abweichung von der ordentlichen Fristenregelung rechtfertigen könnten.
Die Besetzung und Handlungsfähigkeit von Aufsichtsräten bleibt damit auch weiterhin ein zentrales Thema der Corporate-Governance-Diskussion. Die genannten Grundsätze stehen im Kontext einer Vielzahl weiterer Gerichtsentscheidungen und gesetzlicher Anpassungen, deren Entwicklung aufmerksam zu verfolgen ist.
Ausblick
Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Entscheidung empfiehlt es sich, die Anforderungen an die ordnungsgemäße Besetzung des Aufsichtsrats stets sorgfältig zu prüfen und die Entwicklungen in Rechtsprechung und Gesetzgebung im Blick zu behalten. Unternehmen, Investorinnen und Investoren sowie Anteilseignerinnen und Anteilseigner, die in komplexen Transaktionssituationen oder bei Strukturmaßnahmen mit Fragen zur Organbesetzung konfrontiert sind, können bei Bedarf auf fundierte gesellschaftsrechtliche Beratung zurückgreifen. Die Rechtsanwälte von MTR Legal bieten in diesen Fällen umfassende Unterstützung bei der Bewertung und Einordnung bestehender Optionen.
(Quelle: OLG Frankfurt, Beschluss vom 17.01.2022, Az.: 20 W 52/20, 20 W 9/22)