Fristlose Kündigung im Einzelhandel: Verkauf von Waren ohne ordnungsgemäße Bonierung aus arbeitsrechtlicher Perspektive
Darf ein Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis fristlos beenden, wenn eine Mitarbeiterin Waren verkauft, ohne den Verkaufsprozess wie vorgesehen im Kassensystem zu verbuchen? Diese Frage stand jüngst im Zentrum einer arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzung, über die das Bundesarbeitsgericht (BAG) am 11. Juli 2024 (Az.: 2 AZR 508/21) entschied.
Das Urteil beleuchtet nicht nur die arbeitsrechtlichen Anforderungen an die Vertrauenswürdigkeit von Kassiererinnen, sondern auch die für den gesamten Einzelhandel relevanten Aspekte der Compliance und der betrieblichen Organisation. Nachfolgend wird der Sachverhalt, die prozessuale Entwicklung, die juristische Bewertung sowie das Spannungsfeld zwischen Arbeitnehmerinteressen und Arbeitgeberpflichten detailliert dargestellt.
Sachverhalt: Nicht-Bonierung als Auslöser der Kündigung
Im zugrundeliegenden Fall hatte eine langjährig beschäftigte Arbeitnehmerin im Kassenbereich eines Einzelhandelsunternehmens Waren an eine Dritte übergeben, ohne den Verkauf im Kassensystem zu erfassen. Die Nicht-Bonierung wurde im Zuge interner Prüfungsvorgänge aufgedeckt. Im Anschluss sah die Arbeitgeberin das für das Vertrauensverhältnis im Kassenbereich erforderliche Mindestmaß an Loyalität und Sorgfalt als nicht mehr gegeben an und sprach eine außerordentliche, fristlose Kündigung aus.
Die Arbeitnehmerin hingegen argumentierte, es liege lediglich eine Nachlässigkeit ohne Schädigungsabsicht und ohne einen finanziellen Nachteil für das Unternehmen vor.
Rechtliche Würdigung durch die Arbeitsgerichte
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht
Sowohl das Arbeitsgericht als auch das in zweiter Instanz angerufene Landesarbeitsgericht beurteilten die Kündigung als rechtmäßig. Die wesentliche Begründung lag darin, dass der Verkauf von Waren außerhalb der vorgesehenen Kassenvorgänge einen erheblichen Pflichtverstoß darstellt und das Vertrauensverhältnis im besonderen Maße beeinträchtigt. Die Arbeitsgerichte stützten sich dabei auf die einschlägige Rechtsprechung, die insbesondere im sogenannten „Kassenbereich“ höchste Transparenz und strikte Einhaltung betrieblicher Verfahrensvorgaben als Voraussetzung für die ordnungsgemäße Abwicklung der Geschäftsabläufe verlangt.
Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts
Das BAG bestätigte die Auffassung der Vorinstanzen und betonte, dass bei Tätigkeiten mit der Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Abrechnung von Bargeschäften schon geringfügige Verstöße geeignet sein können, das für die Beschäftigung unerlässliche Vertrauen nachhaltig zu erschüttern. Insbesondere sei es nicht maßgeblich, ob ein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist oder derdie Beschäftigte persönliche Bereicherung beabsichtigt habe. Die objektive Pflichtverletzung stehe im Vordergrund.
Im vorliegenden Einzelfall erkannte das BAG an, dass eine vorherige Abmahnung wegen der Schwere des Verstoßes entbehrlich war. Durch die Nicht-Bonierung wurde die Grundlage für die Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit betrieblicher Abläufe gezielt unterlaufen, so dass der Arbeitgeberin ein weiteres Festhalten am Arbeitsverhältnis – auch nur befristet – nicht zugemutet werden konnte.
Arbeitsrechtliche Implikationen und unternehmensrelevante Aspekte
Besondere Treuepflichten im Kassen- und Vertrauensbereich
Bestimmte Tätigkeitsbereiche im Einzelhandel, insbesondere der Umgang mit Kassen und Verkaufsvorgängen, bedingen von Mitarbeitenden eine signifikant erhöhte Sorgfaltspflicht. Die Nachvollziehbarkeit jeder Transaktion ist nicht nur aus steuerlichen und buchhalterischen Gründen zentral, sondern auch zur Prävention von Compliance-Verstößen.
Selbst unbeabsichtigte, einmalige Unterlassungen der Bonierung können in der arbeitsrechtlichen Bewertung gravierend sein. Denn gerade im Kassenbereich gilt, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten eine elementare Grundlage darstellt.
Unschuldsvermutung und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Obwohl die Rechtsprechung grundsätzlich auch Bagatellfällen in sensiblen Tätigkeitsbereichen besondere Bedeutung zumisst, bleibt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt. In jedem Einzelfall erfolgt eine sorgfältige Abwägung der Interessen beider Parteien. Zu berücksichtigen sind zum Beispiel das bisherige Verhalten desder Arbeitnehmersin, die Dauer der Betriebszugehörigkeit und die konkreten Umstände der Pflichtverletzung.
Entscheidungen wie die des BAG zeigen jedoch, dass die Anforderungen an die Integrität von Angestellten, denen Geld- bzw. Warenbewegungen anvertraut sind, äußerst hoch liegen.
Wirtschaftliche Risiken und Präventionspflichten für Unternehmen
Der Fall unterstreicht die erhebliche Bedeutung eines umfassenden und transparenten Kontrollsystems im Einzelhandel sowie klarer Schulung und Sensibilisierung der Mitarbeitenden für die mit ihren Tätigkeiten verbundenen Pflichten. Verstöße gegen die Arbeitsanweisungen, etwa die Nicht-Bonierung von Verkäufen, können gravierende Konsequenzen für Beschäftigte nach sich ziehen und erzeugen für Unternehmen zudem signifikante Risiken im Bereich der haftungsrechtlichen und steuerlichen Compliance.
Neben der Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten können Verstöße gegen Kassenvorschriften weitere Prüfungen, etwa durch die Finanzbehörden, auslösen und das Haftungsrisiko für Unternehmensleitungen erhöhen.
Schlussfolgerungen für die Arbeitsvertragsgestaltung und betriebliche Praxis
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts verdeutlicht die Notwendigkeit eines klaren, nachvollziehbaren Regelwerks und regelmäßiger Information der Mitarbeitenden über die einzuhaltenden Abläufe im Kassenbereich. Arbeitgeber stehen vor der Aufgabe, sowohl die betriebswirtschaftlichen Abläufe als auch die arbeitsvertraglichen Beziehungen auf eine sichere und verlässliche Grundlage zu stellen.
In Zweifelsfällen ist eine genaue Prüfung der jeweiligen Sach- und Rechtslage angezeigt. Das vom BAG entschiedene Verfahren belegt, dass auch in scheinbar klaren Sachverhalten eine umfassende rechtliche Bewertung unerlässlich ist. Da arbeitsgerichtliche Auseinandersetzungen immer einzelfallbezogen geführt und entschieden werden, empfiehlt es sich, bei Unsicherheiten frühzeitig rechtlichen Rat einzuholen.
Sollten Sie zu arbeitsrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit Kassenverantwortung oder unternehmensinternen Kontrollmechanismen Beratungsbedarf haben, können Ihnen die Rechtsanwälte von MTR Legal mit ihrer langjährigen Erfahrung im Handels- und Arbeitsrecht zur Seite stehen.