Begriff und Einordnung von „wrongful life“
„Wrongful life“ bezeichnet einen zivilrechtlichen Anspruch, der vom geborenen Kind geltend gemacht wird. Kern der Behauptung ist, dass ein zuvor begangener Diagnose-, Beratungs- oder Aufklärungsfehler dazu geführt hat, dass das Kind überhaupt geboren wurde, obwohl es mit einer schweren, oft lebenslangen gesundheitlichen Beeinträchtigung lebt. Das Kind macht geltend, es habe infolge des Fehlers nicht nur Schaden erlitten, sondern wäre ohne die Pflichtverletzung gar nicht zur Welt gekommen. Im Mittelpunkt steht damit die Frage, ob und in welchem Umfang das Recht einen Schaden anerkennt, der im Vergleich „Leben mit gravierender Beeinträchtigung“ gegenüber „Nichtentstehung des Lebens“ gesehen wird.
Abgrenzung zu verwandten Anspruchsarten
Wrongful birth
Bei „wrongful birth“ machen in der Regel die Eltern Ansprüche geltend. Sie berufen sich darauf, wegen eines Fehlers in der medizinischen Beratung oder Diagnostik keine informierte Entscheidung über Schwangerschaftsabbruch, Fortsetzung der Schwangerschaft oder Reproduktionsalternativen getroffen zu haben. Ersetzt werden können insbesondere Mehrkosten für Betreuung und Pflege des Kindes.
Wrongful pregnancy / wrongful conception
Hier geht es typischerweise um ungewollte Schwangerschaften nach fehlerhafter Empfängnisverhütung oder Sterilisation. Anspruchsteller sind meist die Eltern, nicht das Kind.
Besonderheit von wrongful life
Bei „wrongful life“ klagt das Kind selbst. Streitentscheidend ist die Anerkennung eines rechtlich relevanten Schadens, wenn der hypothetische Vergleichszustand das „Nichtleben“ ist. Diese Besonderheit hebt „wrongful life“ grundlegend von den elterlichen Ansprüchen ab.
Typische Konstellationen
Pränatale Diagnostik und genetische Beratung
Häufiger Hintergrund sind Untersuchungen zur Feststellung genetischer oder embryonaler Auffälligkeiten sowie Beratungen über deren Bedeutung. Fehler können in der Durchführung, Befundung, Mitteilung oder der Risikoaufklärung liegen.
Assistierte Reproduktion
Auch bei In-vitro-Fertilisation oder Präimplantationsdiagnostik können Auswahl-, Prüf- oder Aufklärungsfehler in Betracht kommen.
Kausalzusammenhang
Rechtlich wird diskutiert, ob und wie ein Zurechnungszusammenhang zwischen der Pflichtverletzung und der Geburt des Kindes mit Beeinträchtigung herzustellen ist. Zentral ist die Frage, ob die Eltern bei richtiger Information die Schwangerschaft nicht fortgesetzt oder eine andere Reproduktionsentscheidung getroffen hätten.
Rechtliche Kernfragen und Anspruchsvoraussetzungen
Schaden und Vergleichsmaßstab
Der umstrittenste Punkt ist der Schadensbegriff. Viele Rechtsordnungen lehnen ab, das Leben mit schwerer Beeinträchtigung als „schlechter“ gegenüber dem Nichtleben zu bewerten. Andere gewähren teilweise Ersatz, indem sie nicht die Bewertung des Lebens selbst, sondern konkrete, durch die Beeinträchtigung verursachte Mehrbedarfe (Pflege, Therapie, Hilfsmittel) als ersatzfähig ansehen.
Zurechnung und Kausalität
Zu prüfen ist, ob die Pflichtverletzung kausal dafür war, dass es zur Geburt unter den konkreten Umständen kam. Das setzt oft voraus, dass eine alternative Entscheidung der Eltern bei ordnungsgemäßer Aufklärung plausibel ist und dem Handelnden zurechenbar bleibt.
Schutzpflichten gegenüber dem ungeborenen Kind
Umstritten ist, ob Beratungs- und Aufklärungspflichten primär gegenüber den Eltern bestehen oder auch ein eigener Schutz gegenüber dem später geborenen Kind begründet wird. Davon hängt ab, ob das Kind selbst Träger eines Anspruchs sein kann.
Verschulden und Sorgfaltsmaßstab
In Betracht kommen Fehler gegen anerkannte fachliche Standards bei Diagnostik, Labor, Befundkommunikation oder Aufklärung. Maßgeblich ist, ob die Abweichung vom gebotenen Niveau zu dem geltend gemachten Schaden führte.
Ersatzfähige Positionen
Wo „wrongful life“ überhaupt anerkannt wird, ist der Ersatz häufig auf objektivierbare Mehraufwendungen beschränkt, etwa:
- außergewöhnliche Pflege- und Betreuungsmehrkosten
- medizinische Behandlungen, Hilfsmittel und Assistenz
- Anpassung von Wohnraum oder Mobilität
Abgrenzung zu Ansprüchen der Eltern
Die Ansprüche des Kindes wegen eigener Beeinträchtigungen sind von elterlichen Ansprüchen auf Mehrkosten abzugrenzen. Überschneidungen werden häufig durch getrennte Anspruchsberechtigungen, zweckgebundene Leistungen oder Anrechnungslösungen gelöst.
Rechtsvergleichende Übersicht
Weitgehende Ablehnung
In vielen Ländern werden „wrongful life“-Klagen grundsätzlich abgewiesen. Zur Begründung wird vor allem angeführt, dass das Recht keinen Vergleich zwischen Leben und Nichtleben als Schadensmaßstab vornehmen solle und dass Wertungswidersprüche zu Menschenwürde und Lebensschutz drohen.
Eingeschränkte Anerkennung
Einige Rechtsordnungen lassen den Anspruch in engen Grenzen zu. Häufig beschränkt sich der Ersatz auf konkret nachweisbare Mehrkosten für Pflege und medizinische Versorgung, während immaterielle Schäden des Kindes nicht zugesprochen werden.
Uneinheitliche oder offene Rechtslagen
Es gibt Staaten mit uneinheitlicher Rechtsprechung oder gesetzgeberischen Korrekturen, die den Umfang möglicher Ansprüche begrenzen oder klarstellen. Entwicklungen können sich durch Fortschritte in Diagnostik und Reproduktionsmedizin verändern.
Ethische und verfassungsrechtliche Dimensionen
Wert des Lebens und Menschenwürde
Gegner der Anerkennung sehen die Gefahr, dass eine rechtliche Bewertung den Eindruck vermittelt, ein Leben mit Behinderung sei weniger wert. Befürworter betonen, dass es um Ausgleich konkreter, vermeidbarer Lasten geht, nicht um eine generelle Abwertung des Lebens.
Elterliche Selbstbestimmung
Die Möglichkeit informierter Entscheidungen über Schwangerschaft und Reproduktion spielt eine zentrale Rolle. Fehlerhafte Information kann die Entscheidungsfreiheit beeinträchtigen und zu schwerwiegenden Folgen führen.
Kindeswohl
Bei der Bemessung von Leistungen wird häufig hervorgehoben, dass eine gesicherte Versorgung des Kindes mit besonderen Bedarfen im Vordergrund steht.
Verfahrensfragen
Anspruchsgegner
In Betracht kommen Behandelnde, Beratende, diagnostische Einrichtungen oder Träger von Gesundheitsleistungen, soweit ihnen Schuldvorwürfe gemacht werden.
Beweislast
Regelmäßig sind medizinische Sachverhaltsaufklärung, Dokumentation und Sachverständigengutachten entscheidend. Nachzuweisen sind Pflichtverletzung, Kausalität und Schaden.
Verjährung
Die zeitliche Begrenzung der Durchsetzung hängt von allgemeinen und besonderen Verjährungsregeln ab. Beginn, Hemmung und Höchstfristen können eine große Rolle spielen, insbesondere bei Ansprüchen Minderjähriger.
Aktivlegitimation und Vertretung
Das Kind ist Anspruchsinhaber. Bis zur Volljährigkeit wird es regelmäßig durch gesetzliche Vertreter vertreten. Eine Abgrenzung zu eigenen Ansprüchen der Eltern ist vorzunehmen.
Schadensbemessung und Ausgleich
Leistungsformen
Zahlungen können als laufende Leistungen oder als Kapitalbetrag gestaltet werden. Maßgeblich sind der voraussichtliche Lebensverlauf und der objektive Bedarf.
Berechnung
Erfasst werden typischerweise dauerhaft entstehende Mehrkosten, die nach Art, Umfang und Dauer prognostisch zu bestimmen sind. Diskontierung und Inflationsaspekte können berücksichtigt werden.
Anrechnung anderer Leistungen
Zur Vermeidung von Doppelkompensation wird häufig geprüft, inwieweit Sozial- oder Versicherungsleistungen den Bedarf bereits decken.
Ordre-public- und Wertungsfragen
Eine Reihe von Rechtsordnungen stützt die Ablehnung auf grundlegende Wertungen: das Verbot, den Wert des Lebens zu quantifizieren, die Achtung vor Menschen mit Behinderung sowie die Sorge vor unerwünschten Anreizen in Diagnose und Beratung. Andere sehen im begrenzten Kostenersatz einen sachgerechten Ausgleich, ohne metaphysische Vergleiche zu verlangen.
Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen
Mit der Verfeinerung pränataler Diagnostik und genetischer Tests steigt die Bedeutung von Aufklärungsinhalten und Dokumentation. Gleichzeitig bleibt die Anerkennung von „wrongful life“ international eng begrenzt. Wo Teilanerkennung existiert, verfestigt sich die Tendenz, auf konkrete Mehrbedarfspositionen abzustellen und immaterielle Schäden auszuschließen.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zu wrongful life
Was bedeutet „wrongful life“ im rechtlichen Sinn?
Es handelt sich um den vom Kind geltend gemachten Anspruch, wonach eine frühere Pflichtverletzung in Diagnostik, Beratung oder Aufklärung dazu geführt hat, dass es mit schwerer Beeinträchtigung geboren wurde; Gegenstand ist die Frage, ob und welche Schäden daraus ersatzfähig sind.
Wie unterscheidet sich „wrongful life“ von „wrongful birth“?
Bei „wrongful birth“ klagen die Eltern wegen eigener Belastungen und Mehrkosten. „Wrongful life“ ist der Anspruch des Kindes selbst; er thematisiert die Bewertung seiner Lebenssituation gegenüber der hypothetischen Nichtentstehung des Lebens.
Ist „wrongful life“ in vielen Ländern anerkannt?
Nein. In zahlreichen Rechtsordnungen wird der Anspruch abgelehnt. Einige wenige erkennen ihn in beschränkter Form an, meist auf den Ersatz konkreter Mehrkosten beschränkt.
Welche Schäden können bei „wrongful life“ ersatzfähig sein?
Wo der Anspruch zugelassen wird, stehen objektivierbare Mehrkosten im Vordergrund, etwa Pflege, medizinische Behandlungen, Hilfsmittel und notwendige Anpassungen des Lebensumfelds.
Wer kann bei „wrongful life“ als Anspruchsgegner in Betracht kommen?
Grundsätzlich kommen Personen oder Einrichtungen in Betracht, die Diagnostik, Beratung, Aufklärung oder Behandlung übernommen haben und denen eine Pflichtverletzung zur Last gelegt wird.
Warum lehnen viele Rechtsordnungen „wrongful life“ ab?
Sie sehen unauflösbare Probleme im Vergleich von Leben und Nichtleben, befürchten Wertungswidersprüche zum Schutz der Menschenwürde und warnen vor einer impliziten Abwertung des Lebens mit Behinderung.
Welche Rolle spielt pränatale Diagnostik für „wrongful life“?
Sie ist häufig der Ausgangspunkt, weil Fehler bei Untersuchung, Befundmitteilung oder Aufklärung maßgeblich für die Kausalitäts- und Zurechnungsprüfung sind.
Erfasst „wrongful life“ auch immaterielle Schäden des Kindes?
In den wenigen Rechtsordnungen mit Anerkennung sind immaterielle Schäden meist ausgeschlossen; zugelassen wird eher der Ersatz konkret nachweisbarer Mehrbedarfe.