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Begriff und rechtliche Einordnung von Wrongful Life

Der Begriff Wrongful Life, zu Deutsch häufig als „unerwünschtes Leben“ oder „Leben als Schaden“ bezeichnet, beschreibt einen spezifischen Haftungsfall im Bereich des Medizin- und Arzthaftungsrechts. Er bezieht sich auf Klagen, die im Namen eines geborenen Kindes erhoben werden, das geltend macht, bei pflichtgemäßer ärztlicher Aufklärung oder Behandlung wäre seine Geburt – insbesondere im Zustand einer schweren Behinderung – verhindert worden. Wrongful Life grenzt sich von verwandten Begriffen wie „Wrongful Birth“ und „Wrongful Conception“ ab und wirft zahlreiche grundlegende ethische, rechtliche und dogmatische Fragen auf.


Historische Entwicklung und internationale Rezeption

Die Wurzeln des Haftungskonzepts Wrongful Life liegen im angloamerikanischen Rechtskreis. Die ersten Grundsatzentscheidungen wurden in den USA in den 1970er Jahren gefällt. Seitdem hat sich das Thema in zahlreichen weiteren Ländern entwickelt, wird jedoch individuell verschieden behandelt.

Entwicklung in den USA

In den Vereinigten Staaten wurde Wrongful Life erstmals in Kalifornien (Turpin v. Sortini, 1982) anerkannt. Nicht alle Bundesstaaten folgen dieser Linie; viele Gerichte lehnen Ansprüche ausdrücklich ab.

Rezeption in anderen Ländern

Während Frankreich, Italien und die Niederlande Wrongful-Life-Klagen unter bestimmten Umständen anerkennen, lehnen viele andere Staaten, darunter Deutschland und Österreich, die Haftung für das bloße „Zur-Welt-Kommen“ trotz schwerer Krankheit aus rechtsethischen Gründen grundsätzlich ab.


Abgrenzung zu Wrongful Birth und Wrongful Conception

Wrongful Birth

Wrongful Birth-Klagen werden von Eltern erhoben, denen aufgrund ärztlicher Aufklärungs- oder Behandlungsfehler die Möglichkeit genommen wurde, eine Schwangerschaft bei zu erwartender schwerer Behinderung des Kindes abzubrechen. Das zentrale Schutzgut ist hier das elterliche Selbstbestimmungsrecht.

Wrongful Conception

Wrongful Conception beschreibt Haftungsfälle, bei denen trotz ärztlich vorgenommener Sterilisation oder Empfängnisverhütung eine ungewollte Schwangerschaft und Geburt eines gesunden Kindes erfolgt.

Wrongful Life

Im Unterschied dazu wird Wrongful Life vom betroffenen Kind selbst, meist vertreten durch gesetzliche Vertreter, geltend gemacht – mit der Behauptung, das Leben in schwer beeinträchtigtem Zustand sei ein kompensationspflichtiger Schaden.


Rechtliche Grundlage und Elemente der Haftung

Anspruchsvoraussetzungen

Ein erfolgreicher Wrongful-Life-Anspruch setzt typischerweise voraus:

  1. Behandlungsfehler oder Unterlassen pflichtgemäßer ärztlicher Aufklärung: Der Mediziner hat es schuldhaft unterlassen, die Eltern z. B. über die genetische Risikobelastung aufzuklären.
  2. Kausalitätsnachweis: Es muss plausibel gemacht werden, dass die Eltern das Kind nicht bekommen hätten, wenn die ärztliche Information bzw. Behandlung ordnungsgemäß erfolgt wäre.
  3. Schaden: Der Schaden wird seitens des Kindes darin gesehen, geboren worden zu sein und mit einer schwerwiegenden Behinderung leben zu müssen.

Dogmatische und ethische Probleme

Die Geltendmachung von Wrongful Life wirft grundlegende Probleme auf:

  • Vergleichbarkeit: Es stellt sich die Frage, ob das Leben mit Behinderung juristisch mit dem „Nichtleben“ verglichen und als Schaden qualifiziert werden kann.
  • Menschenwürde: Ein Schadenstatbestand, der das Leben selbst als Schaden begreift, kollidiert mit dem Grundsatz der Achtung der Menschenwürde.
  • Abgrenzung: Während Eltern (Wrongful Birth) Ersatz für Unterhaltsschäden wegen zusätzlicher Belastung verlangen können, steht beim betroffenen Kind die Kompensationspflicht für das eigene Leben zur Debatte.

Anerkennung und Ablehnung

Die überwiegende Meinung sowohl national als auch international ist in vielen Rechtsordnungen restriktiv. Deutsche Gerichte und der Bundesgerichtshof lehnen Ansprüche im Sinne von Wrongful Life ab (BGH, Urteil vom 18.01.1983 – VI ZR 221/81):

  • Das Leben, auch mit schwerster Behinderung, sei kein Schaden im Rechtssinne.
  • Eine Abwägung zwischen Dasein und Nichtdasein könne nicht vorgenommen werden.
  • Zusätzliche Begründungen stützen sich auf den Schutzzweck ärztlicher Pflichten: Die Prävention gesundheitlicher Beeinträchtigungen, nicht aber die Verhinderung des Lebens selbst, sei deren Ziel.

Gesetzliche Regelungen und Urteile

Deutschland

In Deutschland fehlt eine ausdrückliche gesetzliche Regelung für Wrongful Life. Die gerichtliche Rechtsprechung orientiert sich an allgemeinen Haftungsgrundsätzen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) sowie an den Grundrechten:

  • Ansprüche aus Vertrag oder Delikt werden für Wrongful Life kategorisch abgelehnt.
  • Eltern können im Rahmen von Wrongful Birth Kostenersatzansprüche für den besonderen Pflegebedarf eines behinderten Kindes geltend machen.

Internationale Lage

In anderen europäischen Staaten existieren unterschiedliche Regelungen:

  • Frankreich: Durch das Urteil „Perruche“ (Cour de Cassation 2000) wurde grundsätzlich die Haftung zugunsten des Kindes anerkannt, jedoch mittlerweile durch Gesetzgebung eingeschränkt.
  • Italien, Niederlande: Teilweise werden Wrongful-Life-Ansprüche unter konkreten Voraussetzungen anerkannt.

Schadensersatz und Umfang der Haftung

Materielle und immaterielle Schäden

In Ländern, die Wrongful Life anerkennen, steht dem Kind grundsätzlich Schadensersatz für Mehraufwendungen (z. B. Pflege, Hilfsmittel) sowie unter Umständen auch eine immaterielle Kompensation (z. B. Schmerzensgeld) zu.

Grenzen der Haftung

Wo Wrongful Life abgelehnt wird, können allenfalls Eltern für nachgewiesene, über das allgemeine Lebenshaltungsmaß hinausgehende Aufwendungen (Mehraufwendungen) wegen Behinderung des Kindes Ersatz verlangen.


Kritische Würdigung und Folgeprobleme

Gesellschaftliche und ethische Diskussion

Das Konzept Wrongful Life steht im Zentrum intensiver ethischer und rechtspolitischer Diskussionen:

  • Diskriminierungsrisiko: Die Anerkennung könnte beinhalten, das Leben Behinderter als grundsätzlich weniger wert zu qualifizieren.
  • Beeinträchtigung des Lebensschutzes: Die Rechtsordnung läuft Gefahr, fundamentale Werte – insbesondere das Lebensschutzprinzip – zu relativieren.

Praktische Bedeutung

International ist die Anzahl erfolgreich durchgesetzter Wrongful-Life-Klagen gering. Die Debatte sensibilisiert jedoch für Fragen medizinischer Ethik, die Pflicht zur umfassenden Aufklärung und die Bedeutung reproduktiver Selbstbestimmung.


Literatur und weiterführende Informationen

  • BGH, Urteil vom 18.01.1983 – VI ZR 221/81
  • OLG Hamm, Urteil vom 14.12.2004 – 26 U 61/04
  • L’Affaire Perruche, Cour de Cassation (Frankreich), 17.11.2000
  • Duttge/Gurth, Wrongful Life und Wrongful Birth im deutschen und US-amerikanischen Recht, MedR 2006, 49 ff.

Fazit

Wrongful Life bezeichnet einen umstrittenen Sonderfall im Medizinhaftungsrecht, bei dem das geborene Kind selbst Ersatzansprüche wegen der mit schwerer Behinderung verbundenen Existenz geltend macht. Während einige Rechtsordnungen unter bestimmten Bedingungen Leistungen zusprechen, lehnen die meisten europäischen Staaten eine zivilrechtliche Haftung für das „Leben als Schaden“ auch bei schwerster Behinderung ab. Die Thematik bleibt ein bewegendes Beispiel für die Grenzbereiche medizinischer Haftung und den ethischen Diskurs über Leben, Würde und Existenz.

Häufig gestellte Fragen

Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen für eine Klage wegen „wrongful life“ erfüllt sein?

Für eine „wrongful life“-Klage, bei der in der Regel im Namen eines geborenen Kindes mit schweren Behinderungen Schadensersatz gegen einen medizinischen Dienstleister geltend gemacht wird, müssen verschiedene rechtliche Voraussetzungen erfüllt sein. Zunächst muss ein Arzt oder ein anderer Gesundheitsexperte eine Pflichtverletzung im Rahmen der medizinischen Aufklärung, Diagnose oder Behandlung begangen haben – etwa durch unvollständige oder fehlerhafte pränatale Diagnostik oder mangelhafte Aufklärung der Eltern über die Wahrscheinlichkeit schwerer Erkrankungen beim Kind. Weiterhin muss ein Kausalzusammenhang zwischen dieser Pflichtverletzung und der Geburt des Kindes mit Behinderung bestehen; wäre die Pflicht ordnungsgemäß erfüllt worden, hätten sich die Eltern möglicherweise für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden und das Kind wäre nicht geboren worden. Es ist zudem erforderlich, dass das Kind durch die unterbliebene medizinische Indikation einen nachweislichen Schaden erlitten hat, etwa verminderte Lebenserwartung, Verschlechterung des Gesundheitszustands oder ein Leben unter erheblichen Einschränkungen. Letztlich ist auch das Vorliegen einer konkreten Rechtsfolge – z.B. Anspruch auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld – notwendig, was in vielen Jurisdiktionen umstritten und nicht immer gegeben ist.

Wie unterscheiden sich „wrongful life“- und „wrongful birth“-Klagen aus juristischer Sicht?

Aus rechtlicher Perspektive ist einer der zentralen Unterschiede, dass sich „wrongful birth“-Klagen grundsätzlich auf die Eltern als Anspruchstellerinnen beziehen. Sie machen geltend, dass ihnen durch eine ärztliche Fehlleistung die Möglichkeit genommen wurde, sich gegen eine Schwangerschaft bzw. gegen die Geburt eines Kindes mit Behinderung zu entscheiden. Der von den Eltern geltend gemachte Schaden resultiert also aus dem verwehrten Recht auf Selbstbestimmung. Im Unterschied dazu sind bei „wrongful life“-Klagen die Kinder, beziehungsweise deren gesetzliche Vertreter, die Anspruchsteller. Hier wird argumentiert, dass das Kind selbst überhaupt erst infolge des ärztlichen Fehlers geboren worden ist und deshalb unter erschwerten Lebensumständen leidet. Während „wrongful birth“ überwiegend auf immaterielle Schäden der Eltern abzielt, stehen bei „wrongful life“ die immateriellen und materiellen Schäden des Kindes im Mittelpunkt. Rechtlich problematisch bei „wrongful life“ ist, dass das Gericht bewerten muss, ob das Leben mit Behinderung schlechter zu stellen ist als nicht zu leben, was ein erhebliches ethisch-philosophisches Dilemma darstellt.

Welche Schadensarten können im Rahmen einer „wrongful life“-Klage geltend gemacht werden?

Mögliche Schadensarten bei einer „wrongful life“-Klage beziehen sich primär auf den materiellen und immateriellen Nachteil, den das Kind durch das Leben mit teilweise schwersten gesundheitlichen Einschränkungen erfährt. Materielle Schäden umfassen alle zusätzlichen Kosten für medizinische Behandlung, Pflege, Hilfsmittel, behindertengerechte Ausstattung, Ausbildung und Betreuung, die durch die Behinderung entstehen. Hinzu können Verdienstausfallansprüche kommen, falls das Kind zeitlebens erwerbsunfähig bleibt. Immaterielle Schäden beinhalten Schmerzensgeld für das physische und psychische Leiden, das durch die Behinderung verursacht wird. Die Bezifferung solcher Schäden ist in der Praxis außerordentlich schwierig, insbesondere bei immateriellen Schäden, da Gerichte häufig gezwungen sind, einen Vergleich zwischen einem Leben mit Behinderung und dem hypothetisch nicht eingetretenen Leben zu ziehen – ein Ansatz, der rechtlich wie ethisch sehr problematisch ist.

Welche Rolle spielt das Kindeswohl bei der richterlichen Bewertung einer „wrongful life“-Klage?

Im Fokus der rechtlichen Bewertung steht beim Kindeswohl das Spannungsfeld zwischen dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und dem Recht, frei von Leid und gesundheitlichen Beeinträchtigungen leben zu dürfen. Die Gerichte müssen prüfen, ob die Anerkennung eines Anspruchs einem Werturteil gleichkäme, dass das Leben mit Behinderung weniger wert sei als das Nichtleben – ein Gedanke, der unter anderem gegen die Menschenwürde und das Diskriminierungsverbot verstoßen könnte. Viele Rechtsordnungen lehnen daher „wrongful life“-Klagen ab, um die Würde und das Lebensrecht schwerstbehinderter Kinder zu schützen. Gleichzeitig muss jedoch auch berücksichtigt werden, ob das Wohl des Kindes leidet, indem es ohne eigenes Verschulden Belastungen tragen muss, die vermeidbar gewesen wären, sofern der medizinische Standard eingehalten worden wäre. Das Gericht ist deshalb aufgefordert, die Interessen des Kindes sorgfältig mit grundlegenden ethischen und verfassungsrechtlichen Prinzipien abzuwägen.

Wie ist die aktuelle Rechtsprechung in Deutschland und anderen europäischen Ländern bezüglich „wrongful life“-Klagen?

Die obergerichtliche Rechtsprechung in Deutschland lehnt Ansprüche auf Schadensersatz aus dem „wrongful life“-Tatbestand regelmäßig ab. Die deutsche Rechtsordnung räumt dem Leben als höchstes Rechtsgut absoluten Schutz ein; eine Gegenüberstellung von Leben mit Behinderung und Nichtleben wird als unzulässig erachtet. Im Unterschied dazu erkennen einige andere Länder, z. B. die Niederlande und Frankreich, unter gewissen Bedingungen einen Anspruch des behinderten Kindes auf Ersatz von Mehraufwendungen aus „wrongful life“-Klagen an. In Großbritannien und vielen anderen europäischen Ländern herrscht jedoch ebenfalls starke Zurückhaltung oder eine grundsätzliche Ablehnung solcher Klagen. Die Unterschiede liegen meist in der Gewichtung ethischer, verfassungsrechtlicher und sozialrechtlicher Erwägungen sowie im jeweiligen Verständnis von Schadensbegriff und Kausalitätslehre.

Welche haftungsrechtlichen Besonderheiten bestehen in den USA im Kontext von „wrongful life“?

In den Vereinigten Staaten variiert die Behandlung von „wrongful life“-Klagen erheblich zwischen den Bundesstaaten. Während einige Staaten ausdrücklich die Geltendmachung solcher Ansprüche erlauben, lehnen andere diese konsequent ab. Wo sie zugelassen sind, wird der Schadensersatz meist auf tatsächlich nachweisbare Zusatzkosten für Pflege und Lebensführung begrenzt; immaterieller Schadensersatz für das „eigentliche“ Leben mit Behinderung wird in aller Regel verweigert. Die Gerichte argumentieren häufig, dass eine Bewertung eines lebenswerten gegenüber eines nicht existenten Lebens aus juristischer Sicht unmöglich und unzulässig sei. Die überwiegende Zahl amerikanischer Bundesstaaten akzeptiert hingegen „wrongful birth“-Klagen von Eltern, vermeidet aber direkte Ansprüche des behinderten Kindes.

Welche ethisch-rechtlichen Dilemmata ergeben sich aus „wrongful life“-Klagen?

Das zentrale ethische Dilemma besteht darin, dass Gerichte gezwungen werden, das Leben mit einer Behinderung einem hypothetischen Zustand des Nichtlebens gegenüberzustellen. Dies impliziert eine qualitative Bewertung der Lebensqualität, die schnell mit verfassungsrechtlichen Prinzipien wie Menschenwürde und Gleichbehandlungsgebot kollidiert. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang medizinische Risiken oder genetische Fehlbildungen als „Schäden“ betrachtet werden dürfen, die eine Haftung auslösen. Kritiker sehen in der Zulassung von „wrongful life“-Klagen die Gefahr, dass dies zu einer gesellschaftlichen Wertung der Lebensqualität führt, die Diskriminierung Vorschub leisten könnte. Befürworter hingegen argumentieren, dass der Zugang zu angemessenem Schadensersatz für reale, durch ärztliche Pflichtverletzungen verursachte Belastungen notwendig ist, um dem Schutzzweck des Medizinrechts gerecht zu werden.