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Wiederaufnahmeverfahren

Was ist ein Wiederaufnahmeverfahren?

Das Wiederaufnahmeverfahren ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf, mit dem ein bereits rechtskräftig abgeschlossenes Gerichtsverfahren erneut aufgerollt werden kann. Es dient dazu, schwerwiegende Fehlentscheidungen zu korrigieren, die trotz durchlaufener regulärer Rechtsmittel entstanden sind. Der Grundgedanke ist die Durchbrechung der Rechtskraft in Ausnahmefällen, wenn neue Tatsachen, Beweismittel oder gravierende Unregelmäßigkeiten im ursprünglichen Verfahren eine andere Entscheidung nahelegen.

Kerngedanke und Funktion

Rechtskraft schafft Rechtssicherheit. Das Wiederaufnahmeverfahren bildet die seltene, bewusst eng ausgestaltete Ausnahme, um die materielle Gerechtigkeit herzustellen, wenn der festgestellte Sachverhalt oder der Verfahrensablauf sich nachträglich als unzutreffend oder untragbar erweisen.

Abgrenzung zu regulären Rechtsmitteln

Anders als Berufung oder Revision setzt die Wiederaufnahme erst nach Eintritt der Rechtskraft an. Sie korrigiert nicht bloß Rechtsanwendungsfehler innerhalb des ursprünglichen Instanzenzugs, sondern reagiert auf nachträglich bekannt gewordene Umstände oder besonders gewichtige Verfahrensmängel.

In welchen Bereichen kommt die Wiederaufnahme vor?

Strafverfahren

Im Strafrecht spielt die Wiederaufnahme eine zentrale Rolle, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel das frühere Urteil erschüttern können. Unterschieden wird zwischen Wiederaufnahme zugunsten einer verurteilten Person und zulasten einer freigesprochenen Person, wobei für letztere besonders strenge Schranken gelten.

Zivil- und Familiensachen

Auch in Zivil- und Familiensachen gibt es die Möglichkeit, rechtskräftige Entscheidungen unter engen Voraussetzungen aufzuheben, wenn etwa nachträglich erhebliche Beweismittel bekannt werden oder das Urteil auf Täuschung, Fälschung oder vergleichbaren Unregelmäßigkeiten beruht.

Weitere Verfahrensarten

In anderen Rechtsgebieten (z. B. Arbeits- oder Verwaltungsrecht) bestehen ebenfalls Mechanismen zur Wiederaufnahme. Deren Anforderungen und Abläufe orientieren sich am jeweiligen Verfahrensrecht und können im Detail variieren.

Gründe für eine Wiederaufnahme

Neue Tatsachen oder Beweismittel

Nachträglich bekannt gewordene Tatsachen, Dokumente oder Beweismittel, die zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht verwertbar oder nicht verfügbar waren und geeignet sind, die Entscheidung maßgeblich zu beeinflussen, bilden einen typischen Wiederaufnahmegrund.

Unrichtigkeiten im ursprünglichen Verfahren

Dazu zählen beispielsweise falsche Aussagen, manipulierte Gutachten, gefälschte Urkunden oder sonstige Beweismittel, die das Ergebnis geprägt haben. Kommt derartige Unrichtigkeit erst später ans Licht, kann dies die Wiederaufnahme rechtfertigen.

Verfahrensfehler von besonderem Gewicht

Gravierende Verstöße gegen grundlegende Verfahrensgrundsätze können einen Wiederaufnahmegrund bilden, insbesondere wenn sie die Entscheidungsfindung maßgeblich beeinträchtigt haben und im regulären Instanzenzug nicht behoben wurden.

Widersprüchliche Entscheidungen

Führen voneinander abweichende rechtskräftige Entscheidungen in derselben Sache zu unauflösbaren Widersprüchen, kann dies eine erneute Sachentscheidung erforderlich machen.

Wiederaufnahme zugunsten und zulasten im Strafverfahren

Im Strafrecht ist die Wiederaufnahme zugunsten der verurteilten Person weiter gefasst als zulasten einer freigesprochenen Person. Letztere ist nur in eng umrissenen Ausnahmefällen möglich, um das Verbot mehrfacher Verfolgung in derselben Sache zu wahren.

Ablauf des Wiederaufnahmeverfahrens

Antragstellung und Inhalt

Das Verfahren wird durch einen begründeten Antrag eingeleitet. Darin sind der frühere Verfahrensgang, die angegriffene Entscheidung, die konkreten Wiederaufnahmegründe sowie die neuen Tatsachen oder Beweismittel darzustellen. Regelmäßig müssen Nachweise beigefügt werden, die die behaupteten Gründe stützen.

Zuständigkeit und Prüfungsstufen

Über den Antrag entscheidet ein Gericht, das in der Regel dem Spruchkörper vergleichbar ist, der die angefochtene Entscheidung erlassen hat, jedoch in anderer Besetzung. Üblich ist eine zweistufige Prüfung: Zunächst die Zulässigkeit (Form, Frist, Schlüssigkeit), anschließend die Begründetheit (Tragfähigkeit der Gründe und deren Eignung, die Entscheidung zu beeinflussen).

Entscheidung über die Wiederaufnahme

Wird der Antrag als unzulässig oder unbegründet verworfen, bleibt die frühere Entscheidung bestehen. Bei erfolgreicher Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung wird die Wiederaufnahme angeordnet; das Verfahren wird dann erneut verhandelt oder es erfolgt eine neue Sachentscheidung auf Grundlage der festgestellten Umstände.

Folgen der Entscheidung

Die Anordnung der Wiederaufnahme durchbricht die Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung. In der Sache kann es zur Aufhebung, Änderung oder Ersetzung des früheren Urteils bzw. Beschlusses kommen. Das Verfahren wird in der Regel vor einem anders besetzten Spruchkörper fortgeführt.

Wirkung auf die Vollstreckung

Die Einlegung eines Wiederaufnahmeantrags ändert die Vollstreckung einer Entscheidung nicht automatisch. Unter bestimmten Voraussetzungen kann jedoch eine Aussetzung oder Unterbrechung der Vollstreckung angeordnet werden, wenn die erneute Prüfung Aussicht auf Erfolg hat oder andernfalls unzumutbare Nachteile drohen.

Fristen und Form

Fristtypen

Die Fristen unterscheiden sich nach Verfahrensart und Wiederaufnahmegrund. Teilweise bestehen kurze Antragsfristen ab Kenntnis des Wiederaufnahmegrundes, teilweise gelten längere oder besondere Fristregeln. Im Strafrecht sind die zeitlichen Schranken zugunsten der verurteilten Person oft weiter gefasst als zulasten einer freigesprochenen Person.

Begründungslast und Beweismittel

Die darlegungs- und beweisbelastete Seite muss den Wiederaufnahmegrund substantiiert vortragen und mit geeigneten Belegen untermauern. Bloße Vermutungen genügen nicht. Die neuen Informationen müssen geeignet sein, die frühere Entscheidung ernstlich in Frage zu stellen.

Rechtsfolgen einer erfolgreichen Wiederaufnahme

Strafverfahren

Im Strafrecht kann es zu einem Freispruch, einer milderen Sanktion oder zu einer Einstellung kommen. Wird eine unzutreffende Verurteilung aufgehoben, können sich Ansprüche auf Ausgleich für erlittene Nachteile ergeben, die nach gesonderten Regeln zu prüfen sind.

Zivil- und Familiensachen

Im Zivilbereich wird das frühere Urteil häufig aufgehoben und die Sache erneut verhandelt. Vollstreckungsmaßnahmen aus der aufgehobenen Entscheidung können rückabzuwickeln sein; die konkreten Folgen richten sich nach den Verfahrensregeln und den Umständen des Einzelfalls.

Abgrenzungen und Besonderheiten

Verhältnis zu Gnadenerwägungen

Gnadenerwägungen sind außerprozessuale Entscheidungen. Sie ersetzen die Wiederaufnahme nicht, da diese an rechtlich überprüfbare Gründe gebunden ist und auf eine neue Sachentscheidung zielt.

Verbot mehrfacher Verfolgung

Der Grundsatz, nicht wegen derselben Tat mehrfach verfolgt zu werden, setzt der Wiederaufnahme zulasten einer freigesprochenen Person enge Grenzen. Eine erneute Verfolgung kommt nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht.

Internationale Entscheidungen

Entscheidungen internationaler Gerichte oder Menschenrechtsorgane können Anlass für eine Wiederaufnahme sein, wenn die ursprüngliche Entscheidung im Widerspruch zu übergeordneten rechtsstaatlichen Mindeststandards steht und sich dies auf das Ergebnis ausgewirkt hat.

Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit

Die Wiederaufnahme balanciert das Bedürfnis nach endgültigen Entscheidungen mit dem Anspruch auf materielle Richtigkeit. Ihre restriktive Ausgestaltung soll Missbrauch verhindern und die Ausnahmequalität sichern.

Kosten und Risiken

Kostenarten

Mit dem Wiederaufnahmeverfahren sind Gerichtskosten, Auslagen für Beweismittel sowie Kosten für die eigene Vertretung verbunden. Die Kostentragung richtet sich nach dem Verfahrensausgang und den einschlägigen Kostenregeln.

Prozessrisiken

Wird der Antrag abgelehnt, bleibt die frühere Entscheidung bestehen und bereits entstandene Kosten können zu tragen sein. Auch bei erfolgreicher Wiederaufnahme ist der spätere Ausgang offen; das Ergebnis kann günstiger, gleich oder im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten ungünstiger ausfallen.

Häufig gestellte Fragen

Was bedeutet Wiederaufnahmeverfahren?

Es ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf, mit dem eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung in Ausnahmefällen erneut geprüft und gegebenenfalls korrigiert wird, wenn neue Umstände oder schwerwiegende Verfahrensmängel vorliegen.

Wann ist eine Wiederaufnahme im Strafverfahren möglich?

Sie kommt insbesondere in Betracht, wenn nachträglich erhebliche Tatsachen oder Beweismittel auftauchen, wenn das frühere Verfahren durch falsche Aussagen, manipulierte Beweise oder vergleichbare Unregelmäßigkeiten beeinflusst wurde oder wenn besonders gewichtige Verfahrensverstöße nachgewiesen werden.

Gibt es Fristen für den Antrag?

Ja, die Fristen hängen von Verfahrensart und Grund ab. Teilweise gelten kurze Antragsfristen ab Kenntnis des Wiederaufnahmegrundes; in anderen Konstellationen sind längere oder besondere Fristregeln vorgesehen.

Hat der Wiederaufnahmeantrag aufschiebende Wirkung?

Grundsätzlich nicht. Die Vollstreckung der angegriffenen Entscheidung läuft weiter, kann aber unter bestimmten Voraussetzungen ausgesetzt oder unterbrochen werden.

Wer entscheidet über die Wiederaufnahme?

Zuständig ist ein Gericht, das dem ursprünglichen Spruchkörper vergleichbar ist, jedoch in anderer Besetzung. Es prüft zunächst die Zulässigkeit und anschließend die Begründetheit des Antrags.

Was passiert bei erfolgreicher Wiederaufnahme?

Die Rechtskraft wird durchbrochen; das Verfahren wird erneut verhandelt oder es ergeht eine neue Sachentscheidung. Im Strafrecht kann dies bis zum Freispruch oder zu einer milderen Sanktion führen, im Zivilrecht zur Aufhebung und erneuten Entscheidung.

Worin unterscheidet sich die Wiederaufnahme von Berufung und Revision?

Berufung und Revision sind reguläre Rechtsmittel innerhalb des Instanzenzugs gegen noch nicht rechtskräftige Entscheidungen. Die Wiederaufnahme setzt nach Eintritt der Rechtskraft an und ist auf seltene, besonders gewichtige Gründe beschränkt.