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Wiederaufnahmeverfahren


Wiederaufnahmeverfahren – Begriff, rechtliche Grundlagen und Anwendungsbereiche

Das Wiederaufnahmeverfahren ist eine gesetzlich geregelte Möglichkeit, ein bereits rechtskräftig abgeschlossenes Straf- oder Zivilverfahren unter bestimmten Voraussetzungen erneut zu verhandeln. Ziel des Verfahrens ist es, einen möglicherweise fehlerhaften Ausgangsentscheidung zu korrigieren und dadurch das Rechtsstaatsprinzip sowie den Anspruch auf ein faires Verfahren zu wahren.

Definition und Bedeutung des Wiederaufnahmeverfahrens

Das Wiederaufnahmeverfahren stellt im Rechtssystem ein außerordentliches Rechtsmittel dar, das eine erneute gerichtliche Überprüfung eines Urteils ermöglicht, nachdem dieses Rechtskraft erlangt hat. Im Gegensatz zu ordentlichen Rechtsbehelfen, wie Berufung oder Revision, setzt die Wiederaufnahme eine abgeschlossene Instanz und besondere Wiederaufnahmegründe voraus. Grundsätzlich kann zwischen dem Wiederaufnahmeverfahren im Strafrecht und demjenigen im Zivilrecht unterschieden werden, wobei jeweils spezifische gesetzliche Vorschriften zur Anwendung kommen.


Wiederaufnahme im Strafverfahren

Gesetzliche Regelungen

Die gesetzlichen Grundlagen für das Wiederaufnahmeverfahren im Strafrecht finden sich in den §§ 359 bis 373a der Strafprozessordnung (StPO). Sie regeln die Voraussetzungen, das Verfahren und die Folgen der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens.

Voraussetzungen der Wiederaufnahme

Die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens ist nur in den gesetzlich bestimmten Fällen zulässig. Zentrale Wiederaufnahmegründe sind unter anderem:

  • Nachträgliche Entdeckung neuer Tatsachen oder Beweismittel (§ 359 Nr. 5 StPO), die allein oder in Verbindung mit den bereits erörterten Umständen geeignet sind, die Freisprechung des Angeklagten oder eine wesentlich mildere Bestrafung zu bewirken.
  • Urkundenfälschung oder Falschaussage (§ 359 Nr. 1-3 StPO), falls das Urteil auf einer unechten oder verfälschten Urkunde, einer falschen Aussage eines Zeugen, Sachverständigen oder einer wissentlich falschen Übersetzung beruht.
  • Amtspflichtverletzung oder Straftat eines an der Entscheidung Beteiligten (§ 359 Nr. 4 StPO), wenn ein Richter oder Schöffe bei der Entscheidung eine strafbare Handlung begangen hat, die sich auf das Urteil ausgewirkt hat.
  • Günstigere Nachentscheidung durch ein übergeordnetes oder internationales Gericht (§ 359 Nr. 6 StPO), etwa durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Verfahren der Wiederaufnahme

Das Verfahren gliedert sich im Strafrecht grundsätzlich in zwei Abschnitte:

  1. Wiederaufnahmeantrag: Der Antrag auf Wiederaufnahme kann von verschiedenen Beteiligten gestellt werden, insbesondere vom Verurteilten, seinem gesetzlichen Vertreter und im Falle eines Freispruchs auch von der Staatsanwaltschaft. Der Antrag ist bei dem Gericht einzureichen, das im ersten Rechtszug entschieden hat.
  2. Prüfung und Entscheidung über die Zulässigkeit: Das Gericht prüft zunächst die formellen und materiellen Voraussetzungen des Antrags. Kommt es zur Überzeugung, dass die Voraussetzungen vorliegen, wird durch Beschluss die Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet.
  3. Erneute Hauptverhandlung: Kommt es zur Wiederaufnahme, wird eine neue Hauptverhandlung durchgeführt, in der sämtliche Tatsachen und Beweismittel erneut gewürdigt werden.

Wirkung des Wiederaufnahmeverfahrens

Das Wiederaufnahmeverfahren im Strafprozess führt entweder zur Aufhebung des Ursprungsurteils und zur Neueröffnung der Hauptverhandlung oder, falls der Wiederaufnahmeantrag zurückgewiesen wird, bleibt das ursprüngliche Urteil bestehen. Im Erfolgsfall kann der Betroffene freigesprochen, eine mildere Strafe verhängt oder das Verfahren eingestellt werden.


Wiederaufnahme im Zivilverfahren

Gesetzliche Grundlagen

Im Zivilprozessrecht ist das Wiederaufnahmeverfahren in den §§ 578 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO) geregelt. Hier wird das Verfahren als „Restitutionsklage“ bezeichnet.

Zulässigkeit und Voraussetzungen

Die Restitutionsklage kann nur unter eng umgrenzten gesetzlichen Voraussetzungen erhoben werden, etwa:

  • Wenn eine erhebliche Urkunde gefälscht oder verfälscht wurde
  • Bei erheblicher Falschaussage eines Zeugen oder Sachverständigen
  • Wenn ein richterliches Mitwirken durch eine Straftat beeinflusst wurde
  • Wenn ein Urteil durch eine andere richterliche Entscheidung aufgehoben oder abgeändert wird (§ 580 ZPO)

Die Klage ist innerhalb einer Notfrist von einem Monat ab Kenntnis des Wiederaufnahmegrundes zu erheben, spätestens jedoch innerhalb eines Jahres nach dem Eintritt der Rechtskraft des Urteils (§ 586 ZPO).

Verfahren und Folgen der Wiederaufnahme

Das Gericht prüft die Zulässigkeit und Begründetheit der Restitutionsklage. Bei Erfolg wird das angefochtene Urteil aufgehoben und das Verfahren neu verhandelt. Im Falle der Erfolglosigkeit bleibt die ursprüngliche Entscheidung bestehen.


Abgrenzung zu anderen Rechtsmitteln

Das Wiederaufnahmeverfahren ist von ordentlichen Rechtsmitteln wie Berufung und Revision abzugrenzen. Während diese Rechtsmittel in laufenden Verfahren gegen nicht rechtskräftige Entscheidungen statthaft sind und ausschließlich auf Gründen basieren, die im ursprünglichen Verfahren gerügt wurden, eröffnet das Wiederaufnahmeverfahren einen nachträglichen Überprüfungsmechanismus nach Eintritt der Rechtskraft und erfordert das Vorliegen besonderer, meist nachträglich bekannt gewordener Umstände.


Bedeutung für den Rechtsstaat und die Betroffenen

Das Wiederaufnahmeverfahren trägt maßgeblich zur Korrektur von Fehlurteilen bei und leistet einen wichtigen Beitrag zum Schutz individueller Rechte. Es manifestiert das Prinzip, dass auch nach Abschluss eines Verfahrens der Zugang zu gerichtlichem Rechtsschutz nicht gänzlich verwehrt werden darf, sofern gravierende Fehler oder Manipulationen aufgedeckt werden.


Internationale Bezüge und Entwicklungen

Auch auf internationaler Ebene besteht die Möglichkeit der Wiederaufnahme insbesondere bei Menschenrechtsverletzungen. Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte oder des Bundesverfassungsgerichts können zur Folge haben, dass nationale Verfahren unter bestimmten Voraussetzungen wiederaufgenommen werden müssen, um der jeweiligen Entscheidung Rechnung zu tragen.


Fazit

Das Wiederaufnahmeverfahren gewährleistet einen wirksamen Rechtsschutz über den Eintritt der Rechtskraft hinaus und dient der nachträglichen Fehlerkorrektur im Interesse der materiellen Gerechtigkeit. Die engen gesetzlichen Voraussetzungen und die strenge formale Ausgestaltung sorgen einerseits für Rechtssicherheit und verhindern andererseits den Missbrauch des Instruments, indem nur ernstliche und begründete Fälle einer neuen Prüfung unterzogen werden können. Damit stellt das Wiederaufnahmeverfahren ein essenzielles Element für die Sicherung des rechtlichen Gehörs und der Rechtsstaatlichkeit im deutschen Rechtssystem dar.

Häufig gestellte Fragen

Welche Voraussetzungen müssen für die Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens erfüllt sein?

Die Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens setzt voraus, dass einer der im Gesetz abschließend aufgeführten Wiederaufnahmegründe vorliegt. Diese regeln sich hauptsächlich nach §§ 359 ff. StPO für Strafsachen und nach §§ 578 ff. ZPO für Zivilverfahren. Ein Wiederaufnahmeverfahren ist nicht schon dann zulässig, wenn das ursprüngliche Urteil als ungerecht empfunden wird, sondern es müssen neue Tatsachen oder Beweismittel vorgebracht werden, die dem Gericht bei der ursprünglichen Entscheidung nicht bekannt waren und die geeignet sind, eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung zu bewirken. Zu den wesentlichen Gründen zählen das Hervortreten neuer Tatsachen, die Vorlage gefälschter Urkunden oder strafbarer Handlungen im Zusammenhang mit dem Verfahren durch Richter, Zeugen oder Dritte. Die Wiederaufnahme kann von bestimmten, im Gesetz genannten Antragstellern – etwa dem Verurteilten, dessen gesetzlichem Vertreter oder der Staatsanwaltschaft – schriftlich beantragt werden. Der Antrag muss zudem die Beweismittel und ein konkretes Ziel enthalten und ist bei dem Gericht einzureichen, das im ersten Rechtszug entschieden hat. Eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten findet bereits im Zulässigkeitsstadium statt.

Wer ist zur Stellung eines Antrags auf Wiederaufnahme berechtigt?

Zur Stellung eines Antrags auf Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Verfahrens sind in der Regel der Verurteilte, sein gesetzlicher Vertreter, der Verteidiger und die Staatsanwaltschaft befugt. In bestimmten Fällen können auch Erben oder sonstige durch das Urteil unmittelbar beschwerte Personen einen Antrag stellen, sofern die Rechtskraftlage dies zulässt. Dabei ist zu beachten, dass unterschiedliche Wiederaufnahmegründe auch die Antragslegitimation beeinflussen können, zum Beispiel sind einige Gründe ausschließlich zugunsten, andere nur zuungunsten des Verurteilten statthaft. Die genaue Ausgestaltung der Antragsberechtigung ist im jeweiligen Verfahrensrecht und den zugehörigen Kommentaren geregelt.

Welches Gericht ist für das Wiederaufnahmeverfahren zuständig?

Das Wiederaufnahmeverfahren wird vor dem Gericht durchgeführt, das im ersten Rechtszug das Urteil gesprochen hat. Dies ist gesetzlich festgelegt, um eine sachnahe und kompetente Überprüfung sicherzustellen, da dieses Gericht mit dem ursprünglichen Sachverhalt und dem Verfahren vertraut ist. Zuständig für die Entscheidung über die Zulässigkeit des Antrags und die Durchführung des Wiederaufnahmeverfahrens sind dabei sowohl das erkennende Gericht als auch – in bestimmten Instanzen oder bei Befangenheit – ein anderes sachlich zuständiges Gericht, wobei auch zwischen Entscheidungs- und Prüfungszuständigkeit zu unterscheiden ist. Nach Annahme des Antrags wird ein neues gerichtliches Verfahren eröffnet, das alle Beteiligten erneut anhört und sämtliche Beweismittel würdigt.

Wie wirkt sich ein erfolgreicher Wiederaufnahmeantrag auf das ursprüngliche Urteil aus?

Wird dem Wiederaufnahmeantrag stattgegeben, wird das ursprüngliche Urteil entweder ganz oder teilweise aufgehoben; in der Regel kommt es zu einer Wiederholung der Hauptverhandlung. Eine erfolgreiche Wiederaufnahme führt dazu, dass der Verfahrenstand hergestellt wird, als hätte das aufgehobene Urteil nie existiert. Im neuen Verfahren werden die alten und neuen Beweismittel in ihrer Gesamtheit erneut gewürdigt. Je nach Ergebnis kann dies zu einem Freispruch, einer milderen oder strengeren Sanktion oder auch zur vollständigen Einstellung des Verfahrens führen. Ein erfolgter Freispruch infolge einer erfolgreichen Wiederaufnahme kann auch Rehabilitierung und etwaige Entschädigungsansprüche des Betroffenen nach sich ziehen.

Gibt es Fristen, die bei einem Wiederaufnahmeverfahren einzuhalten sind?

Im Gegensatz zu den Revisionen oder Berufungen bestehen für Wiederaufnahmeverfahren grundsätzlich keine engen gesetzlichen Fristen. Ein Antrag auf Wiederaufnahme kann somit auch lange nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils gestellt werden, solange die sachlichen Voraussetzungen dafür vorliegen. Lediglich für bestimmte Wiederaufnahmegründe – beispielsweise im Zivilverfahren (§ 586 ZPO) – können Fristen zur Antragstellung vorgesehen sein, die ab Kenntnis des jeweiligen Grundes zu laufen beginnen, in der Regel betragen diese ein bis drei Monate. Gibt es keine spezielle Frist, so gilt dennoch das Gebot des zügigen Vortrags und einer unverzüglichen Antragstellung nach Kenntniserlangung, um prozessuale Nachteile oder möglicherweise unterstellte Rechtsmissbräuchlichkeit zu vermeiden.

Welche Bedeutung haben neue Beweismittel im Wiederaufnahmeverfahren?

Neue Beweismittel sind ein zentraler Wiederaufnahmegrund. Ein Beweismittel ist dann als „neu“ anzusehen, wenn es im ursprünglichen Verfahren nicht vorlag und dem Gericht nicht bekannt war, und dessen Berücksichtigung geeignet ist, die ursprüngliche Entscheidung zu Gunsten des Betroffenen zu beeinflussen. Das können zum Beispiel neue Zeugen, neue Sachverständigengutachten oder auch neue Urkunden sein. Die Partei, die den Wiederaufnahmeantrag stellt, muss substantiiert darlegen, welche neuen Beweismittel es gibt und inwiefern ein anderes Urteil zu erwarten ist. Hierbei prüft das Gericht in einer Vorprüfung die Relevanz und Erheblichkeit dieser Beweismittel für das Verfahren, bevor ein neues Hauptverfahren eröffnet wird.

Unter welchen Umständen kann ein Wiederaufnahmeverfahren abgelehnt werden?

Ein Wiederaufnahmeverfahren kann aus unterschiedlichen Gründen abgelehnt werden: Zum einen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind, insbesondere wenn kein zulässiger Wiederaufnahmegrund glaubhaft gemacht wird oder die behaupteten Tatsachen bzw. Beweismittel nicht als neu oder erheblich erachtet werden. Auch formale Fehler im Antrag, wie unzureichende Begründung oder fehlende Unterlagen, können zur Ablehnung führen. Weiterhin lehnt das Gericht den Antrag ab, wenn in einer Vorprüfung deutlich wird, dass die neuen Umstände nicht geeignet sind, das Urteil zu beeinflussen oder das Ziel des Antrags nicht erreichbarer erscheint. Die Entscheidung ist mit Rechtsmitteln anfechtbar, sodass im Falle der Ablehnung eine nochmalige gerichtliche Überprüfung möglich besteht.