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Widerstreitende Steuerfestsetzungen


Begriff und Bedeutung der widerstreitenden Steuerfestsetzungen

Widerstreitende Steuerfestsetzungen sind ein Begriff aus dem deutschen Steuerrecht. Sie beschreiben den Umstand, dass für denselben Steuerpflichtigen oder für verschiedene Beteiligte hinsichtlich desselben Steuergegenstands oder -sachverhalts unterschiedliche, sich widersprechende Steuerbescheide oder Feststellungen ergehen. Dies kann dazu führen, dass Steuern doppelt erhoben oder erlassen werden, oder dass verschiedene Veranlagungsbehörden zu abweichenden rechtlichen Bewertungen gelangen. Ziel ist es, solche Doppelbesteuerungen oder ungerechtfertigte Steuervergünstigungen zu vermeiden und die materielle Steuergerechtigkeit sicherzustellen.


Gesetzliche Grundlagen

Abgabenordnung und Einzelsteuergesetze

Die gesetzliche Regelung widerstreitender Steuerfestsetzungen findet sich überwiegend in der Abgabenordnung (AO), namentlich in § 251 Abs. 2 AO. Daneben sind weitere einschlägige Vorschriften aus den Einzelsteuergesetzen, beispielsweise aus dem Einkommensteuergesetz (EStG), Körperschaftsteuergesetz (KStG) oder Umsatzsteuergesetz (UStG), relevant.

§ 251 Abs. 2 AO

§ 251 Abs. 2 AO normiert ausdrücklich, dass gegen Steuerbescheide, die auf einer widerstreitenden Steuerfestsetzung beruhen, Einspruch eingelegt werden kann, auch wenn andere Rechtsmittel grundsätzlich ausgeschlossen sein sollten.

Wortlaut § 251 Abs. 2 AO (Auszug):

„Der Einspruch gegen einen Steuerbescheid ist auch zulässig, wenn der Steuerpflichtige geltend macht, durch eine andere Steuerfestsetzung oder eine andere Feststellung werde er unzulässig doppelt belastet.“


Erscheinungsformen widerstreitender Steuerfestsetzungen

Doppelbesteuerung

Widerstreitende Steuerfestsetzungen können etwa in Form der Doppelbesteuerung auftreten, wenn ein Steuergegenstand bei zwei verschiedenen Personen oder in zwei verschiedenen Steuerfestsetzungen unterschiedlich berücksichtigt wird.

Beispiel:
Ein Wirtschaftsgut wird im Rahmen der Einkommensteuerfestsetzung sowohl beim Übertragenden als auch beim Erwerber als steuerpflichtig erfasst.

Unvereinbare Verlustberücksichtigung

Auch spiegelbildliche Fälle sind denkbar, etwa wenn ein steuerlicher Verlust bei zwei Steuerpflichtigen jeweils steuerlich geltend gemacht wird, obwohl er tatsächlich nur einmal entstanden ist.

Parallele Feststellungsbescheide

Im Rahmen von gesonderten und einheitlichen Feststellungsbescheiden (z.B. für Personengesellschaften) kann es zu widerstreitenden Feststellungen kommen, etwa wenn verschiedene Finanzämter Feststellungsbescheide zu demselben Sachverhalt erlassen.


Rechtsfolgen widerstreitender Steuerfestsetzungen

Durchbrechung der Bestandskraft

Normalerweise genießen bestandskräftige Steuerbescheide einen hohen Bestandsschutz. Im Falle widerstreitender Steuerfestsetzungen wird dieser durchbrochen. Nach § 174 AO kann eine Korrektur solcher Bescheide trotz Bestandskraft erfolgen, um eine doppelte oder widersprüchliche Erfassung zu verhindern.

Korrekturmöglichkeiten

Berichtigung nach § 174 AO

§ 174 AO ermöglicht die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids, wenn ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden unterschiedlich gewürdigt oder mehrfach besteuert worden ist.

Einspruch und Anfechtung

Der Steuerpflichtige hat das Recht, gegen einen auf einer widerstreitenden Steuerfestsetzung beruhenden Steuerbescheid Einspruch einzulegen. Wird dem Einspruch stattgegeben, erfolgt eine Korrektur des Bescheides zugunsten des Steuerpflichtigen.


Praktische Bedeutung und Verfahren

Ablauf im Besteuerungsverfahren

Im Besteuerungsverfahren haben Finanzbehörden und Steuerpflichtige darauf zu achten, dass ein- und derselbe Steuergegenstand nicht mehrfach oder widersprüchlich erfasst wird. Bei Feststellung einer widerstreitenden Steuerfestsetzung ist vorrangig das Änderungsverfahren nach der Abgabenordnung anzuwenden.

Bindungswirkung von Feststellungsbescheiden

Feststellungsbescheide genießen Bindungswirkung für Folgebescheide. Im Falle widerstreitender Grundlagen- und Folgebescheide muss die Finanzbehörde insbesondere durch Aussetzung des Verfahrens oder Berichtigung die Rechtseinheit herstellen.


Besonderheiten bei Personengesellschaften und Mitunternehmerschaften

Bei der Einkünftefeststellung von Personengesellschaften besteht ein erhöhtes Risiko widerstreitender Steuerfestsetzungen, da verschiedene Gewinnanteile mehreren Steuerpflichtigen zuzurechnen sind. Die korrekte Zuweisung und Berücksichtigung in Feststellungsbescheiden ist daher entscheidend.


Verhältnis zu anderen berichtigenden Vorschriften

Abgrenzung zu § 129 AO (offensichtliche Unrichtigkeit)

Während § 129 AO offensichtliche Schreibfehler und Rechenfehler korrigiert, handelt es sich bei § 174 AO und widerstreitenden Steuerfestsetzungen um eine inhaltlich-rechtliche Korrekturbefugnis, die unabhängig von Verschulden oder augenfälliger Unrichtigkeit eingreift.

Abgrenzung zu § 173 AO (neue Tatsachen)

Korrekturen nach § 173 AO (tatsächliche oder rechtswidrige neue Tatsachen) unterscheiden sich von denjenigen nach § 174 AO und widerstreitenden Steuerfestsetzungen darin, dass sie nicht auf einen Konflikt zwischen mehreren Bescheiden, sondern auf neu bekannt gewordene Sachverhalte abstellen.


Rechtsschutz und Mitwirkungspflichten

Rechtsschutzmöglichkeiten der Betroffenen

Steuerpflichtige können sich bei widerstreitenden Steuerfestsetzungen durch Einspruch, Klage und Antrag auf Änderung oder Aufhebung der betreffenden Bescheide zur Wehr setzen. Gegen die Entscheidung über den Einspruch steht der Rechtsweg zu den Finanzgerichten offen.

Mitwirkungspflichten der Beteiligten und der Finanzverwaltung

Sowohl die Finanzverwaltung als auch die Steuerpflichtigen haben eine umfassende Mitwirkungspflicht. Die Finanzämter müssen eigenständig prüfen, ob ein möglicher Widerstreit mit anderen Festsetzungen vorliegt, und erforderlichenfalls die zutreffende Steuerfestsetzung herbeiführen.


Literaturhinweise und weiterführende Vorschriften

  • Abgabenordnung (AO), insbesondere §§ 129, 173, 174, 251
  • Einkommensteuergesetz (EStG)
  • Körperschaftsteuergesetz (KStG)
  • Umsatzsteuergesetz (UStG)
  • Finanzgerichtsordnung (FGO)

Zusammenfassung

Widerstreitende Steuerfestsetzungen sind ein bedeutsames Problemfeld im Steuerrecht, das erhebliche Auswirkungen für Steuerpflichtige und die steuererhebenden Behörden haben kann. Durch Korrekturvorschriften wie § 174 AO sowie spezifische Einspruchsmöglichkeiten nach § 251 Abs. 2 AO wird sichergestellt, dass eine materielle Steuergerechtigkeit hergestellt werden kann. Die rechtlichen Anforderungen und Möglichkeiten im Umgang mit widerstreitenden Steuerfestsetzungen sind komplex und erfordern eine sorgfältige Prüfung im Einzelfall.

Häufig gestellte Fragen

Welche rechtlichen Möglichkeiten bestehen, wenn zwei Steuerbescheide in widerstreitender Weise denselben Steuergegenstand erfassen?

Im steuerrechtlichen Kontext kann es vorkommen, dass zwei Finanzämter oder unterschiedliche Steuerbescheide denselben steuerlichen Sachverhalt mehrfach erfassen, etwa bei der Zuordnung von Einkünften oder der Feststellung von Besteuerungsgrundlagen. In solchen Fällen spricht man von widerstreitenden Steuerfestsetzungen. Das deutsche Steuerrecht sieht hier für den betroffenen Steuerpflichtigen mehrere Rechtswege vor. Zunächst sollte gegen beide Bescheide – insbesondere den für nachteiliger erachteten – innerhalb der gesetzlichen Frist Einspruch eingelegt werden. Der Einspruch muss mit einer detaillierten Begründung versehen werden, die den Konflikt der doppelten Erfassung darlegt und idealerweise mit Verweis auf § 155 Abs. 2 AO oder § 174 AO begründet wird. Kommt dem niemand abhilfe, ist der Weg zur Finanzgerichtsbarkeit eröffnet: Durch Anfechtungsklage kann gerichtlich festgestellt werden, welcher Bescheid unberechtigt ist oder geändert werden muss. Wichtig ist, dass je nach Art des Widerstreits § 174 AO zur Anwendung kommen kann, welcher eine Korrektur des bestandskräftigen, aber sachlich falschen Bescheides unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht. Parallelverfahren und Ruhen des Verfahrens sind mit Blick auf die endgültige Klärung häufig sinnvoll, damit widersprüchliche Entscheidungen vermieden werden.

Welche Rechtsfolgen ergeben sich, wenn widerstreitende Steuerfestsetzungen bestandskräftig geworden sind?

Wenn widerstreitende Steuerfestsetzungen bestandskräftig geworden sind – also nicht mehr mit ordentlichen Rechtsbehelfen wie Einspruch oder Klage angefochten werden können – sieht das Steuerrecht dennoch Korrekturmöglichkeiten vor. Nach § 174 AO kann auf Antrag oder von Amts wegen eine Berichtigung erfolgen, wenn ein und derselbe Sachverhalt in verschiedene Steuerbescheide unterschiedlich oder mehrfach einbezogen wurde. Voraussetzung ist, dass die widerstreitenden Festsetzungen tatsächlich denselben Sachverhalt betreffen und ein „Tatsachenirrtum“ vorliegt. Die Änderung eines Bescheides kann dabei zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen erfolgen. Es gilt jedoch eine vierjährige Frist ab Bekanntwerden der Umstände, die zu einer Korrektur berechtigen. Die Korrektur ist zudem ausgeschlossen, wenn durch die Änderung eine doppelte Erfassung zulasten desselben Steuerpflichtigen gleichzeitig beseitigt und herbeigeführt wird. Die genaue Abgrenzung und Anwendung der Vorschrift ist häufig Gegenstand finanzgerichtlicher Rechtsprechung.

Welche Bedeutung hat der Vorläufigkeitsvermerk gemäß § 165 AO bei widerstreitenden Steuerfestsetzungen?

Der Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 AO ist ein wichtiges Instrument im Zusammenhang mit widerstreitenden Steuerfestsetzungen. Durch einen solchen Vermerk kann das Finanzamt einen Steuerbescheid hinsichtlich eines konkreten Punktes als vorläufig kennzeichnen, wenn der Sachverhalt noch nicht hinreichend geklärt ist oder wegen anhängiger Verfahren Unsicherheit besteht. Dies sichert die spätere Korrektur des Steuerbescheides, ohne dass der Bescheid insgesamt rechtswidrig oder vollziehbar wird. Für den Steuerpflichtigen bedeutet dies, dass nach endgültiger Klärung der Streitfrage der Steuerbescheid auch ohne förmlichen Einspruch oder Klage angepasst werden kann. In Fällen widerstreitender Steuerfestsetzungen empfiehlt es sich daher, einen solchen Vorläufigkeitsvermerk zu beantragen oder auf die Notwendigkeit hinzuweisen, um spätere Nachteile zu vermeiden.

Inwiefern spielt das Rechtsinstitut der „Einheit der Steuerrechtsordnung“ bei widerstreitenden Steuerfestsetzungen eine Rolle?

Das Prinzip der Einheit der Steuerrechtsordnung besagt, dass ein und derselbe steuerliche Sachverhalt nicht widersprüchlich in mehreren Steuerbescheiden unterschiedlicher Steuerpflichtiger oder für verschiedene Steuerarten unterschiedlich gewürdigt werden darf. Dieses Grundprinzip dient der Vermeidung von Willkür und doppelter oder widersprüchlicher Besteuerung. Insbesondere bei Einkünften, die mehreren Personen oder Gesellschaften zugerechnet werden können, führt das Prinzip dazu, dass Feststellungsbescheide (etwa gemäß §§ 179, 180 AO) Bindungswirkung für Folgebescheide entfalten. Widerstreitende Steuerfestsetzungen unterlaufen dieses Prinzip und müssen daher durch Korrektur oder gerichtliche Prüfung behoben werden, um die Konsistenz der Steuerrechtsordnung sicherzustellen. Die Nichteinhaltung kann ansonsten zu unzulässigen Mehrfachbelastungen oder steuerlichen Lücken führen.

Welche Rolle spielen Finanzgerichte bei der Behebung widerstreitender Steuerfestsetzungen?

Die Finanzgerichte nehmen eine zentrale Rolle bei der Auflösung von Konflikten im Zusammenhang mit widerstreitenden Steuerfestsetzungen ein. Nachdem der außergerichtliche Rechtsbehelfsweg (z.B. Einspruchsverfahren) erschöpft ist, steht dem Steuerpflichtigen die Anfechtungsklage gemäß § 40 FGO offen. Ziel ist es, die Rechtslage zu klären und die auf demselben Sachverhalt beruhende doppelte oder widersprüchliche Besteuerung zu beenden. Die Gerichte prüfen in diesem Rahmen, welcher Bescheid rechtmäßig ist und welcher zu ändern ist, wobei die Begründetheit auf Grundlage der AO und des einschlägigen Steuergesetzes zu beurteilen ist. Darüber hinaus können sie auch über eine Ruhensanordnung der Verfahren (§ 155 FGO i.V.m. § 251 ZPO) entscheiden, falls ein anderer Rechtsstreit vorgreiflich ist. Die Entscheidungen der Finanzgerichte sind für die Finanzverwaltung bindend, verhindern unbillige Doppelbesteuerungen und sichern die Einheitlichkeit der Besteuerung.

Wie kann der Steuerpflichtige seine Ansprüche bei gravierenden Nachteilen aufgrund widerstreitender Steuerfestsetzungen wahren?

Im Falle gravierender Nachteile, etwa finanzieller Mehrbelastungen oder Verfahrensnachteilen infolge widerstreitender Steuerbescheide, sollte der Steuerpflichtige neben den ordentlichen Rechtsbehelfen auch besondere Anträge stellen (§ 351 AO – Einrede der anderweitigen Steuerfestsetzung) sowie auf eine Aussetzung der Vollziehung (§ 361 AO) drängen. Letzteres bedeutet, dass die Eintreibung der Steuer ruht, bis über die Rechtsfrage entschieden ist. Bei nachteiligen Folgen, die sich nicht durch Rechtsbehelfe verhindern lassen, kann unter Umständen zudem ein Billigkeitserlass (§ 227 AO) oder ein Antrag auf Absehen von Vollstreckungsmaßnahmen in Betracht kommen. Wichtig ist stets die Dokumentation und die rechtzeitige Information der Finanzbehörden über den Tatbestand der widerstreitenden Steuerfestsetzung sowie die aktive Nutzung aller zur Verfügung stehenden Rechtsmittel und Verfahrensmöglichkeiten.

Sind widerstreitende Steuerfestsetzungen auf bestimmte Steuerarten oder Veranlagungsarten beschränkt?

Widerstreitende Steuerfestsetzungen sind nicht auf einzelne Steuerarten beschränkt; sie können im Bereich der Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer sowie bei Umsatzsteuer und allen sonstigen Steuerarten auftreten, bei denen unter Umständen mehrere Steuerpflichtige oder mehrere Besteuerungsgrundlagen in Rede stehen. Besonders häufig treten sie bei einheitlichen und gesonderten Feststellungen, etwa bei Personengesellschaften, auf. Auch können sie sowohl bei Festsetzungs- als auch Feststellungsbescheiden vorkommen. Maßgeblich ist stets, dass ein und derselbe tatsächliche Sachverhalt von mindestens zwei Bescheiden erfasst wird und dies zu Rechtsunsicherheit oder Nachteilen für den Steuerpflichtigen führt. Daher ist die sorgfältige Prüfung und Abstimmung zwischen den betroffenen Finanzbehörden und Steuerpflichtigen unerlässlich, unabhängig davon, um welche Steuer oder welchen Veranlagungszeitraum es sich handelt.