Begriff und rechtliche Einordnung des befreiten Vorerben
Der Begriff „befreiter Vorerbe“ bezeichnet im deutschen Erbrecht eine besondere Form der Vorerbschaft, bei der der eingesetzte Vorerbe von den gesetzlichen Beschränkungen der Vorerbschaft weitgehend befreit ist. Die Regelungen zu dieser Rechtsfigur finden sich insbesondere im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB), §§ 2100 ff. Während ein gewöhnlicher Vorerbe in vielen Verfügungsbefugnissen und Verwaltungshandlungen zugunsten des Nacherben beschränkt ist, genießt der befreite Vorerbe deutlich weitergehende Rechte im Umgang mit der Erbschaft.
Grundlagen der Vorerbschaft
Definition der Vorerbschaft
Eine Vorerbschaft liegt vor, wenn der Erblasser im Testament oder Erbvertrag festlegt, dass eine oder mehrere Personen zunächst Vorerben und nach deren Ableben oder nach Eintritt einer bestimmten Bedingung andere Personen (Nacherben) Erben werden. Zielsetzung ist regelmäßig, das Vermögen über zwei Erbfälle hinweg zu steuern, typische Anwendungsfälle finden sich etwa im Familienverbund oder bei unternehmerischen Nachfolgeregelungen.
Grundsätzliche Rechtsstellung des Vorerben
Reguläre Vorerben sind nach dem Gesetz in ihren Rechten und Pflichten durch §§ 2113 ff. BGB stark eingeschränkt. Sie dürfen insbesondere den Nachlass nicht ohne Weiteres zur Substanz schmälern („Substanzerhaltspflicht“) und unterliegen erheblichen Bindungen zugunsten der Nacherben. Dies betrifft sowohl Verfügungen über Nachlassgegenstände als auch die Verwaltung der Erbschaft.
Der befreite Vorerbe nach deutschem Erbrecht
Gesetzliche Regelung des befreiten Vorerben
Gemäß § 2136 BGB kann der Erblasser durch letztwillige Verfügung einen Vorerben „von den Beschränkungen des § 2113 Absatz 1 und 2 und des § 2115 befreien“. Der dadurch „Befreite Vorerbe“ erhält weitreichendere Befugnisse in Bezug auf Nachlassverfügungen und die Erbschaftsverwaltung. Im Gesetz ist ausdrücklich geregelt, dass nur die genannten Beschränkungen aufgehoben werden können, weitergehende Rechte erhält der befreite Vorerbe also nur im gesetzlich vorgesehenen Umfang.
Rechtsfolgen der Befreiung
Die wesentliche Wirkung der Befreiung besteht darin, dass der Vorerbe berechtigt ist, über Nachlassgegenstände zu verfügen, als wäre er Vollerbe – mit Ausnahmen:
- Veräußerung von Grundstücken und grundstücksgleichen Rechten:
Der befreite Vorerbe darf Grundstücke grundsätzlich ohne die Zustimmung des Nacherben veräußern (§ 2113 Abs. 1 BGB gilt nicht). Hingegen bleiben Schenkungen aus dem Nachlass gemäß § 2113 Abs. 2 BGB auch dem befreiten Vorerben untersagt, es sei denn, sie erfolgen im Rahmen einer sittlichen Pflicht oder einer Anstandsschenkung.
- Belastung von Grundstücken:
Der befreite Vorerbe darf ein zum Nachlass gehörendes Grundstück auch mit Grundpfandrechten (z.B. Hypotheken, Grundschulden) belasten, ohne dass hierfür die Zustimmung des Nacherben erforderlich ist.
- Pflicht zur ordnungsgemäßen Verwaltung:
Davon unberührt bleibt die Verpflichtung, die Erbschaft im Rahmen der ordentlichen Verwaltung zu bewirtschaften und den Nachlassbestand vor grober Vernachlässigung oder Schmälerung zu schützen.
Einschränkungen
Eine vollständige Gleichstellung mit dem Vollerben besteht für den befreiten Vorerben jedoch nicht. Insbesondere:
- Verbot unentgeltlicher Zuwendungen:
Auch der befreite Vorerbe darf Nachlassgegenstände nur im Rahmen entgeltlicher Geschäfte veräußern; Schenkungen bleiben weiterhin grundsätzlich unzulässig (§ 2113 Abs. 2 BGB).
- Beachtung weiterer Auflagen und Bindungen:
Individuelle testamentarische Anordnungen können darüber hinausgehend Beschränkungen vorsehen. Die Befreiung ist also auf die ausdrücklich im Gesetz genannten Bereiche beschränkt.
Rechtliche Stellung und Pflichten des befreiten Vorerben
Verwaltung und Nutzung des Nachlasses
Der befreite Vorerbe ist zur ordentlichen Verwaltung des Nachlasses berechtigt und verpflichtet. Er kann diesen insbesondere nutzen, verpachten und – durch die Befreiung – auch weitergehende Verfügungen treffen. Die Erträge aus der Nutzung stehen ihm während der Dauer seines Vorerbes zu.
Auskunfts- und Rechenschaftspflicht
Trotz umfassenderer Befugnisse ist der befreite Vorerbe grundsätzlich dem Nacherben zur Auskunft und ggf. Rechenschaft verpflichtet. Dies betrifft insbesondere die Nachlassverwaltung und etwaige Verfügungen, die im Rahmen seiner erweiterten Rechte getroffen wurden.
Haftung gegenüber dem Nacherben
Der befreite Vorerbe haftet dem Nacherben gegenüber für sorgfaltswidrige Verwaltungshandlungen und Pflichtverletzungen. Werden beispielsweise Vermögenswerte verschwendet, kann der Nacherbe schadensersatzpflichtige Ansprüche geltend machen, sofern dem Vorerben ein Fehlverhalten nachweisbar ist.
Sonderfälle und praktische Bedeutung
Testatorische Gestaltungsmöglichkeiten
Dem Erblasser steht es frei, im Rahmen der letztwilligen Verfügung einzelne oder alle Befreiungen zu erteilen. Auch eine Kombination unterschiedlicher Befugnisse ist möglich, solange die Gesamtrechtslage des Nacherben gewahrt bleibt.
Wirtschaftliche und rechtliche Relevanz
Die Einsetzung eines befreiten Vorerben ist besonders in Konstellationen von Bedeutung, in denen Flexibilität für den Vorerben geboten ist, etwa zur Sicherung des Familienunterhalts, für unternehmerische Maßnahmen oder bei Vermögensverwaltung mit hohem Investitionsbedarf. Die Vorerbschaft – befreit oder unbefreit – dient somit auch dem Schutz des Nacherben vor übermäßiger Substanzeinbuße, kann aber durch die Befreiung eine Anpassung an konkrete wirtschaftliche oder familiäre Bedürfnisse ermöglichen.
Übersicht: Unterschiede zwischen regulärem und befreitem Vorerben
| Merkmal | Vorerbe (regulär) | Befreiter Vorerbe |
| ————————————– | ——————- | ————————- |
| Veräußerung von Nachlassgrundstücken | Zustimmung Nacherbe | Ohne Zustimmung möglich |
| Belastung mit Grundpfandrechten | Zustimmung Nacherbe | Ohne Zustimmung möglich |
| Schenkungen aus Nachlass | Verboten | Ebenfalls verboten |
| Nachlassverwaltung | Ordentliche Verwaltung | Erweiterte Befugnisse |
| Rechenschaft/Auskunft an Nacherben | Verpflichtung | Verpflichtung bleibt |
Literatur und weiterführende Informationen
- Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), §§ 2100-2146
- ErbR/Lange/ Koch: Erbrecht. 7. Aufl. 2022
- Palandt, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, aktuelle Auflage
Fazit
Der befreite Vorerbe ist eine erbrechtliche Gestaltungsoption, die dem Vorerben eine größere Handlungsfreiheit und Flexibilität im Umgang mit dem Nachlass einräumt, ohne den grundsätzlichen Schutz des Nacherben vollständig aufzuheben. Die Reglungen bilden einen rechtlichen Mittelweg zwischen Substanzerhalt durch den regulären Vorerben und freier Verfügungsmacht des Vollerben. Die Einsetzung eines befreiten Vorerben kann insbesondere bei komplexen Familien- oder Vermögensverhältnissen sinnvoll sein und sollte stets unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben und der Interessen aller Beteiligten sorgfältig ausgestaltet werden.
Häufig gestellte Fragen
Kann der befreite Vorerbe Nachlassgegenstände verkaufen oder belasten?
Der befreite Vorerbe erhält nach § 2136 BGB eine weitreichendere Verfügungsbefugnis über den Nachlass als ein nicht befreiter Vorerbe. Während der nicht befreite Vorerbe in der Regel verpflichtet ist, das Vermögen für den Nacherben zu erhalten und nur mit Zustimmung des Nacherben bzw. mit gerichtlicher Genehmigung darüber verfügen darf, erlaubt die Befreiung dem Vorerben, Nachlassgegenstände auch ohne diese Einschränkungen zu veräußern oder zu belasten. Das schließt insbesondere den Verkauf von Grundstücken, Wertpapieren oder anderen wertvollen Nachlassgegenständen sowie deren Belastung (z. B. mit einer Hypothek) ein. Dennoch bleibt der befreite Vorerbe verpflichtet, das Wohl des Nachlasses in angemessener Weise zu wahren sowie sich an die Vorschriften über die ordnungsgemäße Verwaltung zu halten. Im Rahmen des § 2136 BGB besteht zudem die Einschränkung, dass unentgeltliche Verfügungen, z. B. Schenkungen, grundsätzlich unzulässig sind, sofern sie nicht einer sittlichen Pflicht oder einer auf den Anstand zu nehmenden Rücksicht entsprechen.
Muss der befreite Vorerbe gegenüber dem Nacherben Rechenschaft ablegen?
Im Vergleich zum nicht befreiten Vorerben bestehen für den befreiten Vorerben keine strengen Rechenschaftspflichten gegenüber dem Nacherben. Der befreite Vorerbe muss dem Nacherben grundsätzlich keine detaillierten Rechnungslegungen über seine Verwaltung des Nachlasses vorlegen. Diese Erleichterung dient dazu, dem befreiten Vorerben ein flexibleres und eigenständigeres Handeln zu ermöglichen. Allerdings muss der befreite Vorerbe grobe Pflichtverletzungen, etwa bewusst schädigende oder verlustbringende Maßnahmen, vermeiden, da der Nacherbe ggf. im Schadensfall Schadensersatzansprüche geltend machen kann.
Was ist bei der Nutzung von Nachlassgegenständen durch den befreiten Vorerben zu beachten?
Der befreite Vorerbe darf Nachlassgegenstände – insbesondere Immobilien oder Fahrzeuge – in weiterem Umfang zu eigenen Zwecken nutzen als der nicht befreite Vorerbe. Die Grenze bildet jedoch immer eine missbräuchliche bzw. den Nachlass schädigende Nutzung. Auch bei befreiter Verwaltung ist es dem Vorerben untersagt, den Nachlass derart zu beanspruchen oder aufzulösen, dass der Nacherbe am Ende seinerzeit praktisch leer ausgeht. Die Nutzung muss daher unter Einhaltung der Regeln ordnungsgemäßer Verwaltung sowie unter Berücksichtigung bestehender Vermögensbindungszwecke erfolgen.
Wie wirkt sich die Testamentsvollstreckung auf die Rechte des befreiten Vorerben aus?
Die Einsetzung eines Testamentsvollstreckers kann die Rechte eines befreiten Vorerben begrenzen. Ist im Testament explizit ein Testamentsvollstrecker für die Verwaltung des Nachlasses bestellt worden, so stehen die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnisse hinsichtlich des Nachlasses nicht dem befreiten Vorerben, sondern dem Testamentsvollstrecker zu. Die Rechte des befreiten Vorerben werden somit durch das Amt des Testamentsvollstreckers überlagert, und Verfügungen seitens des Vorerben sind in diesem Fall nur im Rahmen der Vorschriften möglich, die der Testamentsvollstrecker einräumt.
Kann der befreite Vorerbe den Nachlass verwalten, als wäre er uneingeschränkter Eigentümer?
Trotz weitgehender Befreiungen und fast voller Eigentümerstellung gilt auch für den befreiten Vorerben, dass sein Eigentum immer befristet und mit Rücksicht auf die Nacherbfolge besteht. Er darf – mit Ausnahme unentgeltlicher Verfügungen – im Wesentlichen wie ein Volleigentümer über die Nachlassgegenstände verfügen. Dennoch bestehen zentrale Schranken; insbesondere ist der Grundsatz zu beachten, dass der Nacherbe am Ende der Vorerbschaft mit dem verbleibenden Nachlass bedacht wird. Daher darf der befreite Vorerbe keine Maßnahmen ergreifen, die den zwingenden Vorschriften des Gesetzes oder den ausdrücklichen Verfügungen des Erblassers widersprechen.
Wie ist der Schutz des Nacherben bei einem befreiten Vorerben ausgestaltet?
Der Gesetzgeber schützt den Nacherben auch im Falle eines befreiten Vorerben durch verschiedene Mechanismen. Trotz der Freistellungen kann der Nacherbe insbesondere bei grob pflichtwidrigem Verhalten des Vorerben Schadensersatz verlangen. Zudem bestehen Maßnahmen des gerichtlichen Eingriffs, falls der befreite Vorerbe das Nachlassvermögen schwer gefährdet (§ 2137 BGB). In Extremfällen kann ein Entzug der Vorerbschaft durch das Nachlassgericht in Betracht kommen.